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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838.

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auf einen Rückschritt; denn in späterer Zeit wurde die Sitte
der Perser, beim Essen halb zu liegen, fast allgemein angenom-
men. Dieses wäre gar nicht auszuhalten gewesen, hätte man
die Lagerstätten nicht mit beweglichen Kissen bedeckt, welche je-
der Gast nach Belieben sich zurecht legen konnte. Aber auch
so noch war es unbequem und unschicklich zugleich. Denn es
wurden zu drei Seiten der Tafel Kissen gelegt, so daß die
vierte für die Dienerschaft frei blieb. Die Gäste lagen auf
der linken Seite, den Kopf nach der Tafel zu gewendet und die
Füße nach der Ecke gekehrt, mit der rechten Hand über sich sel-
ber hinüberlangend, die Speisen greifend und essend. Auf diese
Weise kehrte Jeder dem Andern den Rücken zu. Wollte nun
Einer mit dem Andern reden, so mußte er sich erst umwenden.

Da sie, wie die Engländer, keine Suppe aßen, so brauch-
ten sie wohl auch keine Löffel. Dabei bleibt es freilich unklar,
wie sie z. B. mit dem genannten Weinmus zurechtkamen; es
müßte denn dieses so dünnflüssig gewesen sein, daß man's trin-
ken konnte. Vielleicht tunkten sie es mit Brodstücken aus.
Die Gabeln sind eine Erfindung viel späterer Zeit; über die
der Löffel gelang es leider meinen historischen Forschungen
nicht, Bestimmtes zu ermitteln. Es läßt sich nicht läugnen,
daß Götter, Helden und Menschen unmittelbar mit den Fin-
gern gegessen haben. Ich übersehe diese Schattenseite keines-
wegs, erkenne sie vielmehr mit tiefem Bedauern vollkommen an.
Wäre sie aber nicht, so hätten wir ja gar zu wenig zum vor-
aus.

War nun die Vorzeit des schönen Griechenlands schon in
so Vielen ausgebildet, hatte Solon schon das zarte Gesetz ge-
geben, daß die Bräute vor dem Hymensfeste einen Quitten-
apfel essen mußten, um die Lieblichkeit des Kusses zu erhö-
hen, -- so zeigen sich noch lange nachher andere Nationen in
tiefer Barbarei befangen.


auf einen Ruͤckſchritt; denn in ſpaͤterer Zeit wurde die Sitte
der Perſer, beim Eſſen halb zu liegen, faſt allgemein angenom-
men. Dieſes waͤre gar nicht auszuhalten geweſen, haͤtte man
die Lagerſtaͤtten nicht mit beweglichen Kiſſen bedeckt, welche je-
der Gaſt nach Belieben ſich zurecht legen konnte. Aber auch
ſo noch war es unbequem und unſchicklich zugleich. Denn es
wurden zu drei Seiten der Tafel Kiſſen gelegt, ſo daß die
vierte fuͤr die Dienerſchaft frei blieb. Die Gaͤſte lagen auf
der linken Seite, den Kopf nach der Tafel zu gewendet und die
Fuͤße nach der Ecke gekehrt, mit der rechten Hand uͤber ſich ſel-
ber hinuͤberlangend, die Speiſen greifend und eſſend. Auf dieſe
Weiſe kehrte Jeder dem Andern den Ruͤcken zu. Wollte nun
Einer mit dem Andern reden, ſo mußte er ſich erſt umwenden.

Da ſie, wie die Englaͤnder, keine Suppe aßen, ſo brauch-
ten ſie wohl auch keine Loͤffel. Dabei bleibt es freilich unklar,
wie ſie z. B. mit dem genannten Weinmus zurechtkamen; es
muͤßte denn dieſes ſo duͤnnfluͤſſig geweſen ſein, daß man’s trin-
ken konnte. Vielleicht tunkten ſie es mit Brodſtuͤcken aus.
Die Gabeln ſind eine Erfindung viel ſpaͤterer Zeit; uͤber die
der Loͤffel gelang es leider meinen hiſtoriſchen Forſchungen
nicht, Beſtimmtes zu ermitteln. Es laͤßt ſich nicht laͤugnen,
daß Goͤtter, Helden und Menſchen unmittelbar mit den Fin-
gern gegeſſen haben. Ich uͤberſehe dieſe Schattenſeite keines-
wegs, erkenne ſie vielmehr mit tiefem Bedauern vollkommen an.
Waͤre ſie aber nicht, ſo haͤtten wir ja gar zu wenig zum vor-
aus.

War nun die Vorzeit des ſchoͤnen Griechenlands ſchon in
ſo Vielen ausgebildet, hatte Solon ſchon das zarte Geſetz ge-
geben, daß die Braͤute vor dem Hymensfeſte einen Quitten-
apfel eſſen mußten, um die Lieblichkeit des Kuſſes zu erhoͤ-
hen, — ſo zeigen ſich noch lange nachher andere Nationen in
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[30/0044] auf einen Ruͤckſchritt; denn in ſpaͤterer Zeit wurde die Sitte der Perſer, beim Eſſen halb zu liegen, faſt allgemein angenom- men. Dieſes waͤre gar nicht auszuhalten geweſen, haͤtte man die Lagerſtaͤtten nicht mit beweglichen Kiſſen bedeckt, welche je- der Gaſt nach Belieben ſich zurecht legen konnte. Aber auch ſo noch war es unbequem und unſchicklich zugleich. Denn es wurden zu drei Seiten der Tafel Kiſſen gelegt, ſo daß die vierte fuͤr die Dienerſchaft frei blieb. Die Gaͤſte lagen auf der linken Seite, den Kopf nach der Tafel zu gewendet und die Fuͤße nach der Ecke gekehrt, mit der rechten Hand uͤber ſich ſel- ber hinuͤberlangend, die Speiſen greifend und eſſend. Auf dieſe Weiſe kehrte Jeder dem Andern den Ruͤcken zu. Wollte nun Einer mit dem Andern reden, ſo mußte er ſich erſt umwenden. Da ſie, wie die Englaͤnder, keine Suppe aßen, ſo brauch- ten ſie wohl auch keine Loͤffel. Dabei bleibt es freilich unklar, wie ſie z. B. mit dem genannten Weinmus zurechtkamen; es muͤßte denn dieſes ſo duͤnnfluͤſſig geweſen ſein, daß man’s trin- ken konnte. Vielleicht tunkten ſie es mit Brodſtuͤcken aus. Die Gabeln ſind eine Erfindung viel ſpaͤterer Zeit; uͤber die der Loͤffel gelang es leider meinen hiſtoriſchen Forſchungen nicht, Beſtimmtes zu ermitteln. Es laͤßt ſich nicht laͤugnen, daß Goͤtter, Helden und Menſchen unmittelbar mit den Fin- gern gegeſſen haben. Ich uͤberſehe dieſe Schattenſeite keines- wegs, erkenne ſie vielmehr mit tiefem Bedauern vollkommen an. Waͤre ſie aber nicht, ſo haͤtten wir ja gar zu wenig zum vor- aus. War nun die Vorzeit des ſchoͤnen Griechenlands ſchon in ſo Vielen ausgebildet, hatte Solon ſchon das zarte Geſetz ge- geben, daß die Braͤute vor dem Hymensfeſte einen Quitten- apfel eſſen mußten, um die Lieblichkeit des Kuſſes zu erhoͤ- hen, — ſo zeigen ſich noch lange nachher andere Nationen in tiefer Barbarei befangen.

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Zitationshilfe: Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/44>, abgerufen am 30.04.2024.