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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

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sich meines Beifalls, als wenn ich ein großes Publikum
wär'; ich war aber auch voll lebendiger Begierde es
anzuhören; nicht als ob ich mit dem Verstand das Ge-
hörte gefaßt habe, -- es war vielmehr ein mir unbe-
kanntes Element, und die weichen Verse wirkten auf
mich wie der Wohllaut einer fremden Sprache die einem
schmeichelt, ohne daß man sie übersetzen kann. -- Wir
lasen zusammen den Werther, und sprachen viel über
den Selbstmord; sie sagte: recht viel lernen, recht viel
fassen mit dem Geist, und dann früh sterben; ich mag's
nicht erleben, daß mich die Jugend verläßt; wir lasen
vom Jupiter Olymp des Phidias, daß die Griechen von
dem sagten, der Sterbliche sei um das Herrlichste betro-
gen, der die Erde verlasse, ohne ihn gesehen zu haben.
Die Günderode sagte, wir müssen ihn sehen, wir wol-
len nicht zu den Unseligen gehören, die so die Erde
verlassen. Wir machten ein Reiseprojekt, wir erdachten
unsre Wege und Abentheuer, wir schrieben alles auf,
wir malten alles aus, unsre Einbildung war so geschäf-
tig, daß wir's in der Wirklichkeit nicht besser hätten
erleben können; oft lasen wir in dem erfundenen Reise-
journal und freuten uns der allerliebsten Abentheuer,
die wir drinn erlebt hatten, und die Erfindung wurde
gleichsam zur Erinnerung, deren Beziehungen sich noch

ſich meines Beifalls, als wenn ich ein großes Publikum
wär'; ich war aber auch voll lebendiger Begierde es
anzuhören; nicht als ob ich mit dem Verſtand das Ge-
hörte gefaßt habe, — es war vielmehr ein mir unbe-
kanntes Element, und die weichen Verſe wirkten auf
mich wie der Wohllaut einer fremden Sprache die einem
ſchmeichelt, ohne daß man ſie überſetzen kann. — Wir
laſen zuſammen den Werther, und ſprachen viel über
den Selbſtmord; ſie ſagte: recht viel lernen, recht viel
faſſen mit dem Geiſt, und dann früh ſterben; ich mag's
nicht erleben, daß mich die Jugend verläßt; wir laſen
vom Jupiter Olymp des Phidias, daß die Griechen von
dem ſagten, der Sterbliche ſei um das Herrlichſte betro-
gen, der die Erde verlaſſe, ohne ihn geſehen zu haben.
Die Günderode ſagte, wir müſſen ihn ſehen, wir wol-
len nicht zu den Unſeligen gehören, die ſo die Erde
verlaſſen. Wir machten ein Reiſeprojekt, wir erdachten
unſre Wege und Abentheuer, wir ſchrieben alles auf,
wir malten alles aus, unſre Einbildung war ſo geſchäf-
tig, daß wir's in der Wirklichkeit nicht beſſer hätten
erleben können; oft laſen wir in dem erfundenen Reiſe-
journal und freuten uns der allerliebſten Abentheuer,
die wir drinn erlebt hatten, und die Erfindung wurde
gleichſam zur Erinnerung, deren Beziehungen ſich noch

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[78/0110] ſich meines Beifalls, als wenn ich ein großes Publikum wär'; ich war aber auch voll lebendiger Begierde es anzuhören; nicht als ob ich mit dem Verſtand das Ge- hörte gefaßt habe, — es war vielmehr ein mir unbe- kanntes Element, und die weichen Verſe wirkten auf mich wie der Wohllaut einer fremden Sprache die einem ſchmeichelt, ohne daß man ſie überſetzen kann. — Wir laſen zuſammen den Werther, und ſprachen viel über den Selbſtmord; ſie ſagte: recht viel lernen, recht viel faſſen mit dem Geiſt, und dann früh ſterben; ich mag's nicht erleben, daß mich die Jugend verläßt; wir laſen vom Jupiter Olymp des Phidias, daß die Griechen von dem ſagten, der Sterbliche ſei um das Herrlichſte betro- gen, der die Erde verlaſſe, ohne ihn geſehen zu haben. Die Günderode ſagte, wir müſſen ihn ſehen, wir wol- len nicht zu den Unſeligen gehören, die ſo die Erde verlaſſen. Wir machten ein Reiſeprojekt, wir erdachten unſre Wege und Abentheuer, wir ſchrieben alles auf, wir malten alles aus, unſre Einbildung war ſo geſchäf- tig, daß wir's in der Wirklichkeit nicht beſſer hätten erleben können; oft laſen wir in dem erfundenen Reiſe- journal und freuten uns der allerliebſten Abentheuer, die wir drinn erlebt hatten, und die Erfindung wurde gleichſam zur Erinnerung, deren Beziehungen ſich noch

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/110>, abgerufen am 12.05.2024.