Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

in der Gegenwart fortsetzten. Von dem, was sich in
der Wirklichkeit ereignete, machten wir uns keine Mit-
theilungen; das Reich, in dem wir zusammentrafen,
senkte sich herab wie eine Wolke, die sich öffnete um
uns in ein verborgenes Paradies aufzunehmen; da war
alles neu, überraschend, aber passend für Geist und
Herz; und so vergingen die Tage. Sie wollte mir
Philosophie lehren, was sie mir mittheilte, verlangte sie
von mir aufgefaßt, und dann auf meine Art schriftlich
wiedergegeben; die Aufsätze, die ich ihr hierüber brachte,
las sie mit Staunen; es war nie auch eine entfernte
Ahndung von dem, was sie mir mitgetheilt hatte; ich
behauptete im Gegentheil, so hätt' ich es verstanden; --
sie nannte diese Aufsätze Offenbarungen, gehöht durch
die süßesten Farben einer entzückten Imagination; sie
sammelte sie sorgfältig, sie schrieb mir einmal: Jetzt ver-
stehst Du nicht, wie tief diese Eingänge in das Berg-
werk des Geistes führen, aber einst wird es Dir sehr
wichtig sein, denn der Mensch geht oft öde Straßen;
je mehr er Anlage hat durchzudringen, je schauerlicher
ist die Einsamkeit seiner Wege, je endloser die Wüste.
Wenn Du aber gewahr wirst, wie tief Du Dich hier
in den Brunnen des Denkens niedergelassen hast und
wie Du da unten ein neues Morgenroth findest, und

in der Gegenwart fortſetzten. Von dem, was ſich in
der Wirklichkeit ereignete, machten wir uns keine Mit-
theilungen; das Reich, in dem wir zuſammentrafen,
ſenkte ſich herab wie eine Wolke, die ſich öffnete um
uns in ein verborgenes Paradies aufzunehmen; da war
alles neu, überraſchend, aber paſſend für Geiſt und
Herz; und ſo vergingen die Tage. Sie wollte mir
Philoſophie lehren, was ſie mir mittheilte, verlangte ſie
von mir aufgefaßt, und dann auf meine Art ſchriftlich
wiedergegeben; die Aufſätze, die ich ihr hierüber brachte,
las ſie mit Staunen; es war nie auch eine entfernte
Ahndung von dem, was ſie mir mitgetheilt hatte; ich
behauptete im Gegentheil, ſo hätt' ich es verſtanden; —
ſie nannte dieſe Aufſätze Offenbarungen, gehöht durch
die ſüßeſten Farben einer entzückten Imagination; ſie
ſammelte ſie ſorgfältig, ſie ſchrieb mir einmal: Jetzt ver-
ſtehſt Du nicht, wie tief dieſe Eingänge in das Berg-
werk des Geiſtes führen, aber einſt wird es Dir ſehr
wichtig ſein, denn der Menſch geht oft öde Straßen;
je mehr er Anlage hat durchzudringen, je ſchauerlicher
iſt die Einſamkeit ſeiner Wege, je endloſer die Wüſte.
Wenn Du aber gewahr wirſt, wie tief Du Dich hier
in den Brunnen des Denkens niedergelaſſen haſt und
wie Du da unten ein neues Morgenroth findeſt, und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0111" n="79"/>
in der Gegenwart fort&#x017F;etzten. Von dem, was &#x017F;ich in<lb/>
der Wirklichkeit ereignete, machten wir uns keine Mit-<lb/>
theilungen; das Reich, in dem wir zu&#x017F;ammentrafen,<lb/>
&#x017F;enkte &#x017F;ich herab wie eine Wolke, die &#x017F;ich öffnete um<lb/>
uns in ein verborgenes Paradies aufzunehmen; da war<lb/>
alles neu, überra&#x017F;chend, aber pa&#x017F;&#x017F;end für Gei&#x017F;t und<lb/>
Herz; und &#x017F;o vergingen die Tage. Sie wollte mir<lb/>
Philo&#x017F;ophie lehren, was &#x017F;ie mir mittheilte, verlangte &#x017F;ie<lb/>
von mir aufgefaßt, und dann auf meine Art &#x017F;chriftlich<lb/>
wiedergegeben; die Auf&#x017F;ätze, die ich ihr hierüber brachte,<lb/>
las &#x017F;ie mit Staunen; es war nie auch eine entfernte<lb/>
Ahndung von dem, was &#x017F;ie mir mitgetheilt hatte; ich<lb/>
behauptete im Gegentheil, &#x017F;o hätt' ich es ver&#x017F;tanden; &#x2014;<lb/>
&#x017F;ie nannte die&#x017F;e Auf&#x017F;ätze Offenbarungen, gehöht durch<lb/>
die &#x017F;üße&#x017F;ten Farben einer entzückten Imagination; &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ammelte &#x017F;ie &#x017F;orgfältig, &#x017F;ie &#x017F;chrieb mir einmal: Jetzt ver-<lb/>
&#x017F;teh&#x017F;t Du nicht, wie tief die&#x017F;e Eingänge in das Berg-<lb/>
werk des Gei&#x017F;tes führen, aber ein&#x017F;t wird es Dir &#x017F;ehr<lb/>
wichtig &#x017F;ein, denn der Men&#x017F;ch geht oft öde Straßen;<lb/>
je mehr er Anlage hat durchzudringen, je &#x017F;chauerlicher<lb/>
i&#x017F;t die Ein&#x017F;amkeit &#x017F;einer Wege, je endlo&#x017F;er die Wü&#x017F;te.<lb/>
Wenn Du aber gewahr wir&#x017F;t, wie tief Du Dich hier<lb/>
in den Brunnen des Denkens niedergela&#x017F;&#x017F;en ha&#x017F;t und<lb/>
wie Du da unten ein neues Morgenroth finde&#x017F;t, und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[79/0111] in der Gegenwart fortſetzten. Von dem, was ſich in der Wirklichkeit ereignete, machten wir uns keine Mit- theilungen; das Reich, in dem wir zuſammentrafen, ſenkte ſich herab wie eine Wolke, die ſich öffnete um uns in ein verborgenes Paradies aufzunehmen; da war alles neu, überraſchend, aber paſſend für Geiſt und Herz; und ſo vergingen die Tage. Sie wollte mir Philoſophie lehren, was ſie mir mittheilte, verlangte ſie von mir aufgefaßt, und dann auf meine Art ſchriftlich wiedergegeben; die Aufſätze, die ich ihr hierüber brachte, las ſie mit Staunen; es war nie auch eine entfernte Ahndung von dem, was ſie mir mitgetheilt hatte; ich behauptete im Gegentheil, ſo hätt' ich es verſtanden; — ſie nannte dieſe Aufſätze Offenbarungen, gehöht durch die ſüßeſten Farben einer entzückten Imagination; ſie ſammelte ſie ſorgfältig, ſie ſchrieb mir einmal: Jetzt ver- ſtehſt Du nicht, wie tief dieſe Eingänge in das Berg- werk des Geiſtes führen, aber einſt wird es Dir ſehr wichtig ſein, denn der Menſch geht oft öde Straßen; je mehr er Anlage hat durchzudringen, je ſchauerlicher iſt die Einſamkeit ſeiner Wege, je endloſer die Wüſte. Wenn Du aber gewahr wirſt, wie tief Du Dich hier in den Brunnen des Denkens niedergelaſſen haſt und wie Du da unten ein neues Morgenroth findeſt, und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/111
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/111>, abgerufen am 28.04.2024.