Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich bin doch noch so jung, daß es sich leicht ent-
schuldigen läßt, wenn ich unwissend bin. Ach, für Wis-
senschaft hab' ich keinen Boden, ich fühl's, ich kann's
nicht lernen, was ich nicht weiß, ich muß es erwarten,
wie der Prophet in der Wüste die Raben erwartet, daß
sie ihm Speise bringen. Der Vergleich ist so uneben
nicht: durch die Lüfte wird meinem Geist Nahrung zu-
getragen, -- oft grade, wenn er im Verschmachten ist.

Seitdem ich Dich liebe, schwebt ein unerreichbares
mir im Geist; ein Geheimniß, das mich nährt. Wie
vom Baum die reifen Früchte fallen, so fallen hier mir
Gedanken zu, die mich erquicken und reitzen. O Goethe,
hätte der Springquell eine Seele, er könnte sich nicht
erwartungsvoller an's Licht drängen, um wieder empor
zu steigen, als ich mit ahnender Gewißheit mich diesem
neuen Leben entgegen dränge, das mir durch Dich ge-
geben ist, und das mir zu erkennen giebt, daß ein hö-
herer Lebenstrieb den Kerker sprengen will, der nicht
schont der Ruhe und Gemächlichkeit gewohnter Tage,
die er in brausender Begeisterung zertrümmert. Diesen
erhabenen Geschick entgeht der liebende Geist nicht, so
wenig der Saame der Blüthe entgeht, wenn er einmal
in frischer Erde liegt. So fühl' ich mich in Dir, du
fruchtbarer geseegneter Boden! Ich kann sagen, wie

I. 9

Ich bin doch noch ſo jung, daß es ſich leicht ent-
ſchuldigen läßt, wenn ich unwiſſend bin. Ach, für Wiſ-
ſenſchaft hab' ich keinen Boden, ich fühl's, ich kann's
nicht lernen, was ich nicht weiß, ich muß es erwarten,
wie der Prophet in der Wüſte die Raben erwartet, daß
ſie ihm Speiſe bringen. Der Vergleich iſt ſo uneben
nicht: durch die Lüfte wird meinem Geiſt Nahrung zu-
getragen, — oft grade, wenn er im Verſchmachten iſt.

Seitdem ich Dich liebe, ſchwebt ein unerreichbares
mir im Geiſt; ein Geheimniß, das mich nährt. Wie
vom Baum die reifen Früchte fallen, ſo fallen hier mir
Gedanken zu, die mich erquicken und reitzen. O Goethe,
hätte der Springquell eine Seele, er könnte ſich nicht
erwartungsvoller an's Licht drängen, um wieder empor
zu ſteigen, als ich mit ahnender Gewißheit mich dieſem
neuen Leben entgegen dränge, das mir durch Dich ge-
geben iſt, und das mir zu erkennen giebt, daß ein hö-
herer Lebenstrieb den Kerker ſprengen will, der nicht
ſchont der Ruhe und Gemächlichkeit gewohnter Tage,
die er in brauſender Begeiſterung zertrümmert. Dieſen
erhabenen Geſchick entgeht der liebende Geiſt nicht, ſo
wenig der Saame der Blüthe entgeht, wenn er einmal
in friſcher Erde liegt. So fühl' ich mich in Dir, du
fruchtbarer geſeegneter Boden! Ich kann ſagen, wie

I. 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0225" n="193"/>
          <p>Ich bin doch noch &#x017F;o jung, daß es &#x017F;ich leicht ent-<lb/>
&#x017F;chuldigen läßt, wenn ich unwi&#x017F;&#x017F;end bin. Ach, für Wi&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en&#x017F;chaft hab' ich keinen Boden, ich fühl's, ich kann's<lb/>
nicht lernen, was ich nicht weiß, ich muß es erwarten,<lb/>
wie der Prophet in der Wü&#x017F;te die Raben erwartet, daß<lb/>
&#x017F;ie ihm Spei&#x017F;e bringen. Der Vergleich i&#x017F;t &#x017F;o uneben<lb/>
nicht: durch die Lüfte wird meinem Gei&#x017F;t Nahrung zu-<lb/>
getragen, &#x2014; oft grade, wenn er im Ver&#x017F;chmachten i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Seitdem ich Dich liebe, &#x017F;chwebt ein unerreichbares<lb/>
mir im Gei&#x017F;t; ein Geheimniß, das mich nährt. Wie<lb/>
vom Baum die reifen Früchte fallen, &#x017F;o fallen hier mir<lb/>
Gedanken zu, die mich erquicken und reitzen. O Goethe,<lb/>
hätte der Springquell eine Seele, er könnte &#x017F;ich nicht<lb/>
erwartungsvoller an's Licht drängen, um wieder empor<lb/>
zu &#x017F;teigen, als ich mit ahnender Gewißheit mich die&#x017F;em<lb/>
neuen Leben entgegen dränge, das mir durch Dich ge-<lb/>
geben i&#x017F;t, und das mir zu erkennen giebt, daß ein hö-<lb/>
herer Lebenstrieb den Kerker &#x017F;prengen will, der nicht<lb/>
&#x017F;chont der Ruhe und Gemächlichkeit gewohnter Tage,<lb/>
die er in brau&#x017F;ender Begei&#x017F;terung zertrümmert. Die&#x017F;en<lb/>
erhabenen Ge&#x017F;chick entgeht der liebende Gei&#x017F;t nicht, &#x017F;o<lb/>
wenig der Saame der Blüthe entgeht, wenn er einmal<lb/>
in fri&#x017F;cher Erde liegt. So fühl' ich mich in Dir, du<lb/>
fruchtbarer ge&#x017F;eegneter Boden! Ich kann &#x017F;agen, wie<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">I.</hi> 9</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[193/0225] Ich bin doch noch ſo jung, daß es ſich leicht ent- ſchuldigen läßt, wenn ich unwiſſend bin. Ach, für Wiſ- ſenſchaft hab' ich keinen Boden, ich fühl's, ich kann's nicht lernen, was ich nicht weiß, ich muß es erwarten, wie der Prophet in der Wüſte die Raben erwartet, daß ſie ihm Speiſe bringen. Der Vergleich iſt ſo uneben nicht: durch die Lüfte wird meinem Geiſt Nahrung zu- getragen, — oft grade, wenn er im Verſchmachten iſt. Seitdem ich Dich liebe, ſchwebt ein unerreichbares mir im Geiſt; ein Geheimniß, das mich nährt. Wie vom Baum die reifen Früchte fallen, ſo fallen hier mir Gedanken zu, die mich erquicken und reitzen. O Goethe, hätte der Springquell eine Seele, er könnte ſich nicht erwartungsvoller an's Licht drängen, um wieder empor zu ſteigen, als ich mit ahnender Gewißheit mich dieſem neuen Leben entgegen dränge, das mir durch Dich ge- geben iſt, und das mir zu erkennen giebt, daß ein hö- herer Lebenstrieb den Kerker ſprengen will, der nicht ſchont der Ruhe und Gemächlichkeit gewohnter Tage, die er in brauſender Begeiſterung zertrümmert. Dieſen erhabenen Geſchick entgeht der liebende Geiſt nicht, ſo wenig der Saame der Blüthe entgeht, wenn er einmal in friſcher Erde liegt. So fühl' ich mich in Dir, du fruchtbarer geſeegneter Boden! Ich kann ſagen, wie I. 9

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/225
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/225>, abgerufen am 05.10.2024.