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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835.

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nicht nach mir? -- möchtest Du nicht zuweilen bei
mir sein? -- Sehnsucht ist ja doch die rechte Fährte, sie
weckt ein höheres Leben, giebt helle Ahnung noch uner-
kannter Wahrheiten, vernichtet allen Zweifel, und ist sie
die sicherste Prophetin seines Glückes.

Dir sind alle Reiche aufgethan, Natur, Wissen-
schaft und Kunst, aus allen sind den Fragen deiner Sehn-
sucht göttliche Wahrheiten zugeströmt. -- Was hab ich?
-- ich habe Dich auf tausend Fragen.

Hier in der tiefen Felsschlucht denk ich so allerlei;
-- ich hab mich einen halsbrechenden Weg herunter ge-
wagt, wie werd ich wieder hinauf kommen an diesen
glatten Felswänden an denen ich vergeblich die Spur
suche wo ich herab geglitten bin. -- Selbstvertrauen ist
Vertrauen auf Gott, er wird mich doch nicht stecken las-
sen! -- Ich lieg hier unter frischen hohen Kräutern die
mir die heiße Brust kühlen, viele kleine Würmchen und
Spinnen klettern über mich hinaus, alles wimmelt ge-
schäftig um mich her. Die Eidexen schlüpfen aus ihren
feuchten Löchern und heben das Köpfchen und staunen
mich an mit ihren klugen Augen, und schlüpfen eilig
zurück; sie sagen's einander daß ich da bin; -- ich der
Liebling des Dichters -- es kommen immer mehr und
gucken.

nicht nach mir? — möchteſt Du nicht zuweilen bei
mir ſein? — Sehnſucht iſt ja doch die rechte Fährte, ſie
weckt ein höheres Leben, giebt helle Ahnung noch uner-
kannter Wahrheiten, vernichtet allen Zweifel, und iſt ſie
die ſicherſte Prophetin ſeines Glückes.

Dir ſind alle Reiche aufgethan, Natur, Wiſſen-
ſchaft und Kunſt, aus allen ſind den Fragen deiner Sehn-
ſucht göttliche Wahrheiten zugeſtrömt. — Was hab ich?
— ich habe Dich auf tauſend Fragen.

Hier in der tiefen Felsſchlucht denk ich ſo allerlei;
— ich hab mich einen halsbrechenden Weg herunter ge-
wagt, wie werd ich wieder hinauf kommen an dieſen
glatten Felswänden an denen ich vergeblich die Spur
ſuche wo ich herab geglitten bin. — Selbſtvertrauen iſt
Vertrauen auf Gott, er wird mich doch nicht ſtecken laſ-
ſen! — Ich lieg hier unter friſchen hohen Kräutern die
mir die heiße Bruſt kühlen, viele kleine Würmchen und
Spinnen klettern über mich hinaus, alles wimmelt ge-
ſchäftig um mich her. Die Eidexen ſchlüpfen aus ihren
feuchten Löchern und heben das Köpfchen und ſtaunen
mich an mit ihren klugen Augen, und ſchlüpfen eilig
zurück; ſie ſagen's einander daß ich da bin; — ich der
Liebling des Dichters — es kommen immer mehr und
gucken.

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[208/0218] nicht nach mir? — möchteſt Du nicht zuweilen bei mir ſein? — Sehnſucht iſt ja doch die rechte Fährte, ſie weckt ein höheres Leben, giebt helle Ahnung noch uner- kannter Wahrheiten, vernichtet allen Zweifel, und iſt ſie die ſicherſte Prophetin ſeines Glückes. Dir ſind alle Reiche aufgethan, Natur, Wiſſen- ſchaft und Kunſt, aus allen ſind den Fragen deiner Sehn- ſucht göttliche Wahrheiten zugeſtrömt. — Was hab ich? — ich habe Dich auf tauſend Fragen. Hier in der tiefen Felsſchlucht denk ich ſo allerlei; — ich hab mich einen halsbrechenden Weg herunter ge- wagt, wie werd ich wieder hinauf kommen an dieſen glatten Felswänden an denen ich vergeblich die Spur ſuche wo ich herab geglitten bin. — Selbſtvertrauen iſt Vertrauen auf Gott, er wird mich doch nicht ſtecken laſ- ſen! — Ich lieg hier unter friſchen hohen Kräutern die mir die heiße Bruſt kühlen, viele kleine Würmchen und Spinnen klettern über mich hinaus, alles wimmelt ge- ſchäftig um mich her. Die Eidexen ſchlüpfen aus ihren feuchten Löchern und heben das Köpfchen und ſtaunen mich an mit ihren klugen Augen, und ſchlüpfen eilig zurück; ſie ſagen's einander daß ich da bin; — ich der Liebling des Dichters — es kommen immer mehr und gucken.

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/218>, abgerufen am 26.04.2024.