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Allgemeine Zeitung. Nr. 44. Augsburg, 13. Februar 1840.

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Geschichtliches über Erdbildung.

(Beschluß.)

Es ist eine Hauptaufgabe unserer Zeit, das seltsam verworren aufgeblätterte und mit kolossalen Hieroglyphen beschriebene Buch der Erdrinde zu paginiren und zu entziffern, und sie hat dazu richtig Hand angelegt. Tausende, Berufene und Unberufene, sind überall rastlos an der Arbeit. Unter allen Naturwissenschaften ist Geologie die populärste, diejenige, deren Resultate das allgemeinste Interesse erregen. Sie zählt bei weitem am meisten dilettantische Beförderer. Unzählige, welche im vorigen Jahrhundert Wappen oder Münzen gesammelt hätten, studiren jetzt nach den Medaillen in den Flötzen die Dynastien der Fossilien. Ja, Geologie ist eine fashionable Liebhaberei geworden, und selbst schöne Hände blättern im riesigen Steincodex der Gebirge wie in einem Modejournal, wo in halbverwischten Bildern zu sehen ist, welchen Muschelschmuck die Mutter Erde in einer ungezählten Reihe von Saisons an ihrem feuchten Busen getragen. Es kann nichts natürlicher seyn, als daß in unserer Zeit, bei der praktischen Richtung aller ihrer Bestrebungen, die poetische Temperatur in den Gemüthern sinkt, und es scheint wirklich, als ob ein Theil der Erregbarkeit, welche sonst in der Schwärmerei poetischer Gefühle verpuffte, sich gegenwärtig ruhiger im naturwissenschaftlichen Spiele verzehrte. An Badeorten und auf den Hauptmarschrouten des Tourismus begegnet man häufig Herren und Damen, welche neben dem Skizzenbuch den geologischen Hammer führen. Eine solche Adeptin drückt im Gebirge nicht mehr die ganze große Natur an die klopfende Brust; sie verliert ihr Herz hier an einen Enkriniten, dort an ein Ammonshorn; und statt der begeisterten Ergüsse über die Tinten der Landschaft, den Duft der Ferne, die Gruppirung im Vorgrunde, entfallen den schönen Lippen schwere Worte, Granit, Gneis, Basalt, Todtliegendes, Muschelkalk, Lias, so bunt, wie sie die Natur selbst durcheinander geworfen.

Man kann übrigens eifrig Geologie treiben, ohne recht zu wissen, um was es sich bei dieser Registrirung und Zusammenordnung der Gebirgsarten und ihrer Fossilien eigentlich handelt. Allerdings dringt heutzutage alle Errungenschaft der Zeit an allgemeinen Begriffen und Kenntnissen schnell in die Massen ein, aber sehr ungleichförmig und nur lose haftend. Ein verbreiteter wissenschaftlicher Dilettantismus, der nicht die Substanz einer Wissenschaft in sich aufnimmt, sondern gleichsam nur des flüchtigen Parfums derselben genießt, ist eben einer der hervorspringendsten Charaktere der heutigen Cultur. Früher waren nicht nur die Gewerke zünftig, auch die Geister im Allgemeinen waren es. Das Individuum zog aus der breiten Masse des gebildeten und des sich bildenden Wissens nur die Stoffe an, welche seinem Stande, seiner Beschäftigung, oder seiner speciellen Liebhaberei wahlverwandt waren, und stieß alles Andere ab, das seine innern Kreise nur turbirt hätte. Die große Mehrzahl hing, geistig wie bürgerlich, mit keiner Allgemeinheit der Bildung und der Interessen, sondern nur mit dem Mikrokosmus der Zunft, des Gewerbs, der Kunst, der Facultät zusammen; selbst die sogenannten freien Künste, bis auf die Poesie hinaus, hatten etwas Zunftmäßiges. Der Einzelne war damit beschränkt, aber auch abgerundet, sein Horizont eng, aber desto übersichtlicher; er ruhte sicher im Gleichgewicht seines Könnens und Wissens, das bei verhältnißmäßig breiter Basis nicht hoch hinaufreichte; den lästigen Gedanken, von wie Vielem, was Andere wissen, er gar nichts wisse, wog reichlich das Bewußtseyn auf, daß die speciellen Kunstgriffe und Kenntnisse seines Standes für die andern gleichfalls Geheimnisse, und doch auch in der großen Maschine der Cultur ein unentbehrliches Rad seyen, groß oder klein. So erhielt sich auch der Respect vor fremder Kenntniß und Meisterschaft auf Treu und Glauben, weil jeder voraussetzte, daß seine Virtuosität gleichmäßig Anerkennung finde, und jeder Stand hatte seine Augurn, die vor Laien würdig ihren Ernst zu behaupten wußten. So entstand jene strenge Abstufung der Stände und Bildungsgrade, die sich wie Flötzschichten in ungleichförmiger Lagerung über einander thürmten: ein Profil der Gesellschaft, an dessen Zertrümmerung die merkwürdige geistige Bewegung der neuesten Zeit mit unwiderstehlicher Gewalt arbeitet. Jene starren Gebilde sind, theils auf chemischem, theils auf mechanischem Wege, großentheils bereits aufgelöst und zerschmelzen täglich mehr. Ein Hauptvehikel, das sie im Fluß erhält, ist der Journalismus und die popularisirte Wissenschaft in wohlfeiler Zurichtung. Im geraden Gegensatz zu der frühern Welt lebt jetzt in Unzähligen der Drang, nach allen Seiten lernend über ihre Sphäre hinauszugreifen und sich encyklopädisch ungefähr mit der allgemeinen Cultur im Gleichgewicht zu erhalten; und dieses Bedürfniß und die Mittel der Befriedigung bedingen und steigern einander gegenseitig.

Die mächtige Entwicklung des heutigen Zeitungswesens und der populären Litteratur hat den Effect, als ob alle geistige und materielle Production an belebter Straße, in offener Bude vor sich ginge, und die fertige Waare gleich zu Jedermanns Schau hinter den Scheiben ausgestellt würde. Es gibt fast kein Wissen mehr, das nur in bestimmten Canälen des gesellschaftlichen Körpers flöße, dort im Stillen seine Bildungen durchmachte und erst spät und langsam auf den ganzen Organismus zurückwirkte. Den geistigen Arbeitern wird das Product unter der Hand weggezogen und in alle Welt geführt, und keiner hält selbst damit zurück. Jeder will so schnell als möglich, und so gut er kann, von den Gedanken Aller profitiren; jeder sieht dem Andern in die Karten, und den Augur kann höchstens noch der Diplomat spielen, dessen Geheimniß eben darin besteht, daß er besser als Andere weiß, wie wenig vom Lauf der Welt zu wissen ist.

Einer demonstrirt die Evangelien in das Gebiet der Mythen hinein, ein zweiter erfindet die Kunst, das Licht als Zeichner in Dienst zu nehmen; ein dritter versichert, daß das Einhorn in Afrika wirklich existire, oder daß die Südamerikaner offenbar Blutsverwandte der Chinesen seyen; ein vierter erzählt, was es mit der magnetischen Südpolexpedition für eine Bewandtniß habe, oder wie man endlich dazu gekommen, die Parallaxe eines Fixsterns zu fassen; andere behaupten geradezu, die höchsten, mächtigsten Gebirge seyen just die jüngsten, oder sie entdecken ein neues fossiles Ungeheuer, oder sie beweisen, daß die sinnliche Anschauung Recht gehabt, wenn sie den Basalt für eine alte Lava hielt, und die Theorie unrecht, wenn sie in ihm ein Product des Wassers sah u. s. w. - Unzähliges dergleichen wird rasch in die Massen verführt und in vielen tausend Köpfen in die betreffenden Gehirnfächer geworfen, wo dieß und das bald ein leeres Fach findet, bald sich ruhig und träg zum Aggregat der dort bereits liegenden Begriffe gesellt, im guten Fall mit diesen Begriffen eine organische Verbindung eingeht, im schlimmen sie zersetzt. - Wir haben hier

Geschichtliches über Erdbildung.

(Beschluß.)

Es ist eine Hauptaufgabe unserer Zeit, das seltsam verworren aufgeblätterte und mit kolossalen Hieroglyphen beschriebene Buch der Erdrinde zu paginiren und zu entziffern, und sie hat dazu richtig Hand angelegt. Tausende, Berufene und Unberufene, sind überall rastlos an der Arbeit. Unter allen Naturwissenschaften ist Geologie die populärste, diejenige, deren Resultate das allgemeinste Interesse erregen. Sie zählt bei weitem am meisten dilettantische Beförderer. Unzählige, welche im vorigen Jahrhundert Wappen oder Münzen gesammelt hätten, studiren jetzt nach den Medaillen in den Flötzen die Dynastien der Fossilien. Ja, Geologie ist eine fashionable Liebhaberei geworden, und selbst schöne Hände blättern im riesigen Steincodex der Gebirge wie in einem Modejournal, wo in halbverwischten Bildern zu sehen ist, welchen Muschelschmuck die Mutter Erde in einer ungezählten Reihe von Saisons an ihrem feuchten Busen getragen. Es kann nichts natürlicher seyn, als daß in unserer Zeit, bei der praktischen Richtung aller ihrer Bestrebungen, die poetische Temperatur in den Gemüthern sinkt, und es scheint wirklich, als ob ein Theil der Erregbarkeit, welche sonst in der Schwärmerei poetischer Gefühle verpuffte, sich gegenwärtig ruhiger im naturwissenschaftlichen Spiele verzehrte. An Badeorten und auf den Hauptmarschrouten des Tourismus begegnet man häufig Herren und Damen, welche neben dem Skizzenbuch den geologischen Hammer führen. Eine solche Adeptin drückt im Gebirge nicht mehr die ganze große Natur an die klopfende Brust; sie verliert ihr Herz hier an einen Enkriniten, dort an ein Ammonshorn; und statt der begeisterten Ergüsse über die Tinten der Landschaft, den Duft der Ferne, die Gruppirung im Vorgrunde, entfallen den schönen Lippen schwere Worte, Granit, Gneis, Basalt, Todtliegendes, Muschelkalk, Lias, so bunt, wie sie die Natur selbst durcheinander geworfen.

Man kann übrigens eifrig Geologie treiben, ohne recht zu wissen, um was es sich bei dieser Registrirung und Zusammenordnung der Gebirgsarten und ihrer Fossilien eigentlich handelt. Allerdings dringt heutzutage alle Errungenschaft der Zeit an allgemeinen Begriffen und Kenntnissen schnell in die Massen ein, aber sehr ungleichförmig und nur lose haftend. Ein verbreiteter wissenschaftlicher Dilettantismus, der nicht die Substanz einer Wissenschaft in sich aufnimmt, sondern gleichsam nur des flüchtigen Parfums derselben genießt, ist eben einer der hervorspringendsten Charaktere der heutigen Cultur. Früher waren nicht nur die Gewerke zünftig, auch die Geister im Allgemeinen waren es. Das Individuum zog aus der breiten Masse des gebildeten und des sich bildenden Wissens nur die Stoffe an, welche seinem Stande, seiner Beschäftigung, oder seiner speciellen Liebhaberei wahlverwandt waren, und stieß alles Andere ab, das seine innern Kreise nur turbirt hätte. Die große Mehrzahl hing, geistig wie bürgerlich, mit keiner Allgemeinheit der Bildung und der Interessen, sondern nur mit dem Mikrokosmus der Zunft, des Gewerbs, der Kunst, der Facultät zusammen; selbst die sogenannten freien Künste, bis auf die Poesie hinaus, hatten etwas Zunftmäßiges. Der Einzelne war damit beschränkt, aber auch abgerundet, sein Horizont eng, aber desto übersichtlicher; er ruhte sicher im Gleichgewicht seines Könnens und Wissens, das bei verhältnißmäßig breiter Basis nicht hoch hinaufreichte; den lästigen Gedanken, von wie Vielem, was Andere wissen, er gar nichts wisse, wog reichlich das Bewußtseyn auf, daß die speciellen Kunstgriffe und Kenntnisse seines Standes für die andern gleichfalls Geheimnisse, und doch auch in der großen Maschine der Cultur ein unentbehrliches Rad seyen, groß oder klein. So erhielt sich auch der Respect vor fremder Kenntniß und Meisterschaft auf Treu und Glauben, weil jeder voraussetzte, daß seine Virtuosität gleichmäßig Anerkennung finde, und jeder Stand hatte seine Augurn, die vor Laien würdig ihren Ernst zu behaupten wußten. So entstand jene strenge Abstufung der Stände und Bildungsgrade, die sich wie Flötzschichten in ungleichförmiger Lagerung über einander thürmten: ein Profil der Gesellschaft, an dessen Zertrümmerung die merkwürdige geistige Bewegung der neuesten Zeit mit unwiderstehlicher Gewalt arbeitet. Jene starren Gebilde sind, theils auf chemischem, theils auf mechanischem Wege, großentheils bereits aufgelöst und zerschmelzen täglich mehr. Ein Hauptvehikel, das sie im Fluß erhält, ist der Journalismus und die popularisirte Wissenschaft in wohlfeiler Zurichtung. Im geraden Gegensatz zu der frühern Welt lebt jetzt in Unzähligen der Drang, nach allen Seiten lernend über ihre Sphäre hinauszugreifen und sich encyklopädisch ungefähr mit der allgemeinen Cultur im Gleichgewicht zu erhalten; und dieses Bedürfniß und die Mittel der Befriedigung bedingen und steigern einander gegenseitig.

Die mächtige Entwicklung des heutigen Zeitungswesens und der populären Litteratur hat den Effect, als ob alle geistige und materielle Production an belebter Straße, in offener Bude vor sich ginge, und die fertige Waare gleich zu Jedermanns Schau hinter den Scheiben ausgestellt würde. Es gibt fast kein Wissen mehr, das nur in bestimmten Canälen des gesellschaftlichen Körpers flöße, dort im Stillen seine Bildungen durchmachte und erst spät und langsam auf den ganzen Organismus zurückwirkte. Den geistigen Arbeitern wird das Product unter der Hand weggezogen und in alle Welt geführt, und keiner hält selbst damit zurück. Jeder will so schnell als möglich, und so gut er kann, von den Gedanken Aller profitiren; jeder sieht dem Andern in die Karten, und den Augur kann höchstens noch der Diplomat spielen, dessen Geheimniß eben darin besteht, daß er besser als Andere weiß, wie wenig vom Lauf der Welt zu wissen ist.

Einer demonstrirt die Evangelien in das Gebiet der Mythen hinein, ein zweiter erfindet die Kunst, das Licht als Zeichner in Dienst zu nehmen; ein dritter versichert, daß das Einhorn in Afrika wirklich existire, oder daß die Südamerikaner offenbar Blutsverwandte der Chinesen seyen; ein vierter erzählt, was es mit der magnetischen Südpolexpedition für eine Bewandtniß habe, oder wie man endlich dazu gekommen, die Parallaxe eines Fixsterns zu fassen; andere behaupten geradezu, die höchsten, mächtigsten Gebirge seyen just die jüngsten, oder sie entdecken ein neues fossiles Ungeheuer, oder sie beweisen, daß die sinnliche Anschauung Recht gehabt, wenn sie den Basalt für eine alte Lava hielt, und die Theorie unrecht, wenn sie in ihm ein Product des Wassers sah u. s. w. – Unzähliges dergleichen wird rasch in die Massen verführt und in vielen tausend Köpfen in die betreffenden Gehirnfächer geworfen, wo dieß und das bald ein leeres Fach findet, bald sich ruhig und träg zum Aggregat der dort bereits liegenden Begriffe gesellt, im guten Fall mit diesen Begriffen eine organische Verbindung eingeht, im schlimmen sie zersetzt. – Wir haben hier

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[0345/0009] Geschichtliches über Erdbildung. (Beschluß.) Es ist eine Hauptaufgabe unserer Zeit, das seltsam verworren aufgeblätterte und mit kolossalen Hieroglyphen beschriebene Buch der Erdrinde zu paginiren und zu entziffern, und sie hat dazu richtig Hand angelegt. Tausende, Berufene und Unberufene, sind überall rastlos an der Arbeit. Unter allen Naturwissenschaften ist Geologie die populärste, diejenige, deren Resultate das allgemeinste Interesse erregen. Sie zählt bei weitem am meisten dilettantische Beförderer. Unzählige, welche im vorigen Jahrhundert Wappen oder Münzen gesammelt hätten, studiren jetzt nach den Medaillen in den Flötzen die Dynastien der Fossilien. Ja, Geologie ist eine fashionable Liebhaberei geworden, und selbst schöne Hände blättern im riesigen Steincodex der Gebirge wie in einem Modejournal, wo in halbverwischten Bildern zu sehen ist, welchen Muschelschmuck die Mutter Erde in einer ungezählten Reihe von Saisons an ihrem feuchten Busen getragen. Es kann nichts natürlicher seyn, als daß in unserer Zeit, bei der praktischen Richtung aller ihrer Bestrebungen, die poetische Temperatur in den Gemüthern sinkt, und es scheint wirklich, als ob ein Theil der Erregbarkeit, welche sonst in der Schwärmerei poetischer Gefühle verpuffte, sich gegenwärtig ruhiger im naturwissenschaftlichen Spiele verzehrte. An Badeorten und auf den Hauptmarschrouten des Tourismus begegnet man häufig Herren und Damen, welche neben dem Skizzenbuch den geologischen Hammer führen. Eine solche Adeptin drückt im Gebirge nicht mehr die ganze große Natur an die klopfende Brust; sie verliert ihr Herz hier an einen Enkriniten, dort an ein Ammonshorn; und statt der begeisterten Ergüsse über die Tinten der Landschaft, den Duft der Ferne, die Gruppirung im Vorgrunde, entfallen den schönen Lippen schwere Worte, Granit, Gneis, Basalt, Todtliegendes, Muschelkalk, Lias, so bunt, wie sie die Natur selbst durcheinander geworfen. Man kann übrigens eifrig Geologie treiben, ohne recht zu wissen, um was es sich bei dieser Registrirung und Zusammenordnung der Gebirgsarten und ihrer Fossilien eigentlich handelt. Allerdings dringt heutzutage alle Errungenschaft der Zeit an allgemeinen Begriffen und Kenntnissen schnell in die Massen ein, aber sehr ungleichförmig und nur lose haftend. Ein verbreiteter wissenschaftlicher Dilettantismus, der nicht die Substanz einer Wissenschaft in sich aufnimmt, sondern gleichsam nur des flüchtigen Parfums derselben genießt, ist eben einer der hervorspringendsten Charaktere der heutigen Cultur. Früher waren nicht nur die Gewerke zünftig, auch die Geister im Allgemeinen waren es. Das Individuum zog aus der breiten Masse des gebildeten und des sich bildenden Wissens nur die Stoffe an, welche seinem Stande, seiner Beschäftigung, oder seiner speciellen Liebhaberei wahlverwandt waren, und stieß alles Andere ab, das seine innern Kreise nur turbirt hätte. Die große Mehrzahl hing, geistig wie bürgerlich, mit keiner Allgemeinheit der Bildung und der Interessen, sondern nur mit dem Mikrokosmus der Zunft, des Gewerbs, der Kunst, der Facultät zusammen; selbst die sogenannten freien Künste, bis auf die Poesie hinaus, hatten etwas Zunftmäßiges. Der Einzelne war damit beschränkt, aber auch abgerundet, sein Horizont eng, aber desto übersichtlicher; er ruhte sicher im Gleichgewicht seines Könnens und Wissens, das bei verhältnißmäßig breiter Basis nicht hoch hinaufreichte; den lästigen Gedanken, von wie Vielem, was Andere wissen, er gar nichts wisse, wog reichlich das Bewußtseyn auf, daß die speciellen Kunstgriffe und Kenntnisse seines Standes für die andern gleichfalls Geheimnisse, und doch auch in der großen Maschine der Cultur ein unentbehrliches Rad seyen, groß oder klein. So erhielt sich auch der Respect vor fremder Kenntniß und Meisterschaft auf Treu und Glauben, weil jeder voraussetzte, daß seine Virtuosität gleichmäßig Anerkennung finde, und jeder Stand hatte seine Augurn, die vor Laien würdig ihren Ernst zu behaupten wußten. So entstand jene strenge Abstufung der Stände und Bildungsgrade, die sich wie Flötzschichten in ungleichförmiger Lagerung über einander thürmten: ein Profil der Gesellschaft, an dessen Zertrümmerung die merkwürdige geistige Bewegung der neuesten Zeit mit unwiderstehlicher Gewalt arbeitet. Jene starren Gebilde sind, theils auf chemischem, theils auf mechanischem Wege, großentheils bereits aufgelöst und zerschmelzen täglich mehr. Ein Hauptvehikel, das sie im Fluß erhält, ist der Journalismus und die popularisirte Wissenschaft in wohlfeiler Zurichtung. Im geraden Gegensatz zu der frühern Welt lebt jetzt in Unzähligen der Drang, nach allen Seiten lernend über ihre Sphäre hinauszugreifen und sich encyklopädisch ungefähr mit der allgemeinen Cultur im Gleichgewicht zu erhalten; und dieses Bedürfniß und die Mittel der Befriedigung bedingen und steigern einander gegenseitig. Die mächtige Entwicklung des heutigen Zeitungswesens und der populären Litteratur hat den Effect, als ob alle geistige und materielle Production an belebter Straße, in offener Bude vor sich ginge, und die fertige Waare gleich zu Jedermanns Schau hinter den Scheiben ausgestellt würde. Es gibt fast kein Wissen mehr, das nur in bestimmten Canälen des gesellschaftlichen Körpers flöße, dort im Stillen seine Bildungen durchmachte und erst spät und langsam auf den ganzen Organismus zurückwirkte. Den geistigen Arbeitern wird das Product unter der Hand weggezogen und in alle Welt geführt, und keiner hält selbst damit zurück. Jeder will so schnell als möglich, und so gut er kann, von den Gedanken Aller profitiren; jeder sieht dem Andern in die Karten, und den Augur kann höchstens noch der Diplomat spielen, dessen Geheimniß eben darin besteht, daß er besser als Andere weiß, wie wenig vom Lauf der Welt zu wissen ist. Einer demonstrirt die Evangelien in das Gebiet der Mythen hinein, ein zweiter erfindet die Kunst, das Licht als Zeichner in Dienst zu nehmen; ein dritter versichert, daß das Einhorn in Afrika wirklich existire, oder daß die Südamerikaner offenbar Blutsverwandte der Chinesen seyen; ein vierter erzählt, was es mit der magnetischen Südpolexpedition für eine Bewandtniß habe, oder wie man endlich dazu gekommen, die Parallaxe eines Fixsterns zu fassen; andere behaupten geradezu, die höchsten, mächtigsten Gebirge seyen just die jüngsten, oder sie entdecken ein neues fossiles Ungeheuer, oder sie beweisen, daß die sinnliche Anschauung Recht gehabt, wenn sie den Basalt für eine alte Lava hielt, und die Theorie unrecht, wenn sie in ihm ein Product des Wassers sah u. s. w. – Unzähliges dergleichen wird rasch in die Massen verführt und in vielen tausend Köpfen in die betreffenden Gehirnfächer geworfen, wo dieß und das bald ein leeres Fach findet, bald sich ruhig und träg zum Aggregat der dort bereits liegenden Begriffe gesellt, im guten Fall mit diesen Begriffen eine organische Verbindung eingeht, im schlimmen sie zersetzt. – Wir haben hier

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 44. Augsburg, 13. Februar 1840, S. 0345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_044_18400213/9>, abgerufen am 29.04.2024.