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Allgemeine Zeitung. Nr. 46. Augsburg, 15. Februar 1840.

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welchem der Aufsatz geschrieben ist, in mannichfacher Beziehung Aufmerksamkeit, und ist manchmal gewaltig naiv; so z. B. gibt er den Magyaren den Rath, sich dem Gros ihrer Nation, den Slawen anzuschließen, und ihrer eigenen Nationalität zu entsagen. Eben so merkwürdig ist die Koketterie mit den Russoslaven gegen die kaiserliche Regierung.

Ueber den Zustand der Schweiz im Allgemeinen.

(Ein Gegenbild zu dem neulich gelieferten Aufsatze.)

Obschon die Schweiz geschichtlich und constitutionell eher ein Staatenbund als ein Bundesstaat ist, so gestalten sich in derselben dennoch allgemein schweizerische Verhältnisse, und manche Erscheinungen des schweizerischen Staatslebens lassen sich weniger aus Zuständen dieses oder jenes Kantons erklären als aus Entwickelungen, welchen die Schweiz als Gesammtstaat entgegengeht.

Es haben sich die schweizerischen Verhältnisse im letzten Decennium so wesentlich verändert, daß es sich wohl der Mühe lohnt, nach den Ursachen zu forschen, welche diese Umgestaltung bedingt haben.

Es ist die irrige Ansicht ziemlich allgemein verbreitet, als habe das republicanische Leben in der Schweiz während der letzten zehn Jahre einen neuen Aufschwung genommen, und dennoch dürften die Grundfesten der Republik während dieser Zeitperiode mehr als je früher erschüttert worden seyn.

Republicanische Verfassungsformen setzen große Nüchternheit und Tugend bei den Bevölkerungen voraus, welche unter denselben leben. - Mehr als alle andern Beschäftigungen und Gewerbe ist der Ackerbau geeignet, diejenigen, die sich ihm widmen, einfach, nüchtern, an Leib und Seele gesund zu erhalten. Die Bauern sind selten neuerungssüchtig, sondern halten fest am Hergebrachten, sie sind einfach, genügsam und gewohnt gute und böse Tage geduldig hinzunehmen; ihr Beruf läßt sie kräftig, ausdauernd und entschlossen werden. - Dasselbe gilt von den Hirten, den Bauern des Gebirgs. - Für sie passen einfache, republicanische Formen.

Eine industrielle Bevölkerung hingegen ist in der Regel ausgelassen, veränderungslustig, unfügsam, luxuriös, fähig zu verzweifelten Entschließungen, aber nicht nachhaltig. - Industrielle sind daher kaum gute Republicaner. Sie bedürfen einer stärkern und kräftigern Führung, als republicanische Formen zulassen. Nun hat aber die Schweiz in den letzten zehn Jahren beinahe ausschließlich eine industrielle Richtung genommen, der Luxus großer Städte ist in ihre Gaue eingezogen, und die gepriesene schweizerische Einfachheit findet sich, einige enge Bergthäler abgerechnet, wohl noch in alten Geschichtsbüchern aufgezeichnet, im Leben aber selten mehr.

Die ins Unendliche getriebene Gütervertheilung, welche nur noch Gartenwirthschaft möglich macht, und ein ungeheures Betriebscapital bedingt, hat den Bauernstand beinahe getödtet. Güter von 100 Morgen Landes sind in der Schweiz selten, der Gütchen von 4-10 Morgen, welche eine ganze Familie erhalten sollen, gibt es unzählige. Die Verschuldung des Bauernstandes in einzelnen Theilen der Schweiz, z. B. im Thurgau, gränzt ans Unglaubliche. - Wenn England krank ist, weil der Grund und Boden in zu wenigen Händen ruht, so leidet die Schweiz hinwieder an zu großer Gütervertheilung. Aber nicht nur im Bauernstand hat die schweizerische Republik eine wesentliche Stütze verloren, auch in den Städten ist einer ihrer Grundpfeiler gewichen - der Mittelstand.

Der sogenannte Mittelstand ist für jeden Staat ein wichtiges Element, für die Republik das wichtigste: ihm gehören die meisten wahren Vaterlandsfreunde an; dem Reichen gehört die Welt, er ist selten ein guter Bürger; der Arme wird dem Staat zur Last; der Mittelstand ist seine Stütze. - Das Herunterkommen des Mittelstandes in den schweizerischen Städten rührt her von der Einführung der Gewerbsfreiheit, welche nur Reiche und Arme erzeugt, *)*) und von der die Schweiz umgebenden Zollsystemen, welche dem schweizerischen Handel eine unnatürliche Richtung gaben. Dem in unserer Zeit so sehr verhaßten Zunftzwang liegt eine Pietät zu Grund, welche Viele nicht verstanden haben, diejenige, auch dem weniger Gewandten sein Auskommen zu sichern. - Dem Zunftzwang sind die vielen Gemeinwesen freier und unabhängiger Bürger zu danken, welche am Ende des Mittelalters ein so wichtiges staatliches Element geworden sind. In welchem bedauernswürdigen Zustand der schweizerische Handwerksstand im allgemeinen sich dermal befindet, ist aus den Pfand- und Schuldentriebsprotokollen der meisten städtischen Gemeinden ersichtlich.

Der Handel, der früher vielen eine unabhängige wenn auch keine glänzende Existenz sicherte, macht ebenfalls jetzt einzelne Reiche und viele Arme. Der bedeutendste Verkehr bestand vormals zwischen der Schweiz und Frankreich; ein stehender Artikel der Militärcapitulationen zwischen den schweizerischen Kantonen und den französischen Königen - vor der ersten französischen Revolution sicherte die gegenseitige Handelsfreiheit. Seit dem Jahre 1803 kann die Schweiz - obschon allen französischen Erzeugnissen offen - ihre Producte nur auf dem Weg der Contrebande nach Frankreich bringen. Gleiche Prohibitivsysteme machen den Handel mit den österreichischen und sardinischen Staaten unmöglich, und seit einigen Jahren sind durch die Ausdehnung des deutschen Zollvereins auch die süddeutschen Staaten dem schweizerischen Handel verschlossen worden. Nothgezwungen ist der schweizerische Handel daher beinahe ausschließlich ein überseeischer geworden; dieser erfordert große Capitalien, und ruinirt den weniger Bemittelten früher oder später unwiederbringlich.

Während dergestalt die schweizerische Bevölkerung zu ihren republicanischen Formen weit weniger paßt als vormals, hat man allerorts in unbegreiflicher Verblendung die Regierungsgewalt beschränkt, und allem ochlokratischen Treiben Thür und Thor geöffnet; daher sehen wir denn auch Verfassungen, welche sich unsere Väter für die Ewigkeit zu geben wähnten, im Laufe von zehn Jahren zwei bis dreimal ändern.

Aus Ehrenstellen sind Beamtenstellen geworden; diese gehörig zu dotiren ist bei ihrer großen Zahl unmöglich. Dessen ungeachtet sind die Ausgaben für die Staatsadministration in den letzten Jahren außerordentlich gestiegen; um diese zu decken, werden in einzelnen Kantonen mehr Abgaben bezahlt als in einzelnen monarchischen Staaten. Die Bundesgewalt ist, statt fester, schwächer und lockerer geworden. Bei dem allem läugne ich nicht, daß jeder Fremde, der die Schweiz früher gekannt und jetzt wieder bereist, durch die guten Straßen, Posteinrichtungen und Gasthöfe bestochen, wähnen kann, es habe dieses Land während der letzten Jahre zusehends aufgeblüht; tiefer Sehende werden sich aber durch derlei äußere Ausstattung nicht täuschen lassen, sondern mit mir besorgen, es nage ein Wurm am Herzen der Schweiz.

*) Aber woher dann der wohlhabende Mittelstand von England, Frankreich, den Vereinigten Staaten? A. d. R.

welchem der Aufsatz geschrieben ist, in mannichfacher Beziehung Aufmerksamkeit, und ist manchmal gewaltig naiv; so z. B. gibt er den Magyaren den Rath, sich dem Gros ihrer Nation, den Slawen anzuschließen, und ihrer eigenen Nationalität zu entsagen. Eben so merkwürdig ist die Koketterie mit den Russoslaven gegen die kaiserliche Regierung.

Ueber den Zustand der Schweiz im Allgemeinen.

(Ein Gegenbild zu dem neulich gelieferten Aufsatze.)

Obschon die Schweiz geschichtlich und constitutionell eher ein Staatenbund als ein Bundesstaat ist, so gestalten sich in derselben dennoch allgemein schweizerische Verhältnisse, und manche Erscheinungen des schweizerischen Staatslebens lassen sich weniger aus Zuständen dieses oder jenes Kantons erklären als aus Entwickelungen, welchen die Schweiz als Gesammtstaat entgegengeht.

Es haben sich die schweizerischen Verhältnisse im letzten Decennium so wesentlich verändert, daß es sich wohl der Mühe lohnt, nach den Ursachen zu forschen, welche diese Umgestaltung bedingt haben.

Es ist die irrige Ansicht ziemlich allgemein verbreitet, als habe das republicanische Leben in der Schweiz während der letzten zehn Jahre einen neuen Aufschwung genommen, und dennoch dürften die Grundfesten der Republik während dieser Zeitperiode mehr als je früher erschüttert worden seyn.

Republicanische Verfassungsformen setzen große Nüchternheit und Tugend bei den Bevölkerungen voraus, welche unter denselben leben. – Mehr als alle andern Beschäftigungen und Gewerbe ist der Ackerbau geeignet, diejenigen, die sich ihm widmen, einfach, nüchtern, an Leib und Seele gesund zu erhalten. Die Bauern sind selten neuerungssüchtig, sondern halten fest am Hergebrachten, sie sind einfach, genügsam und gewohnt gute und böse Tage geduldig hinzunehmen; ihr Beruf läßt sie kräftig, ausdauernd und entschlossen werden. – Dasselbe gilt von den Hirten, den Bauern des Gebirgs. – Für sie passen einfache, republicanische Formen.

Eine industrielle Bevölkerung hingegen ist in der Regel ausgelassen, veränderungslustig, unfügsam, luxuriös, fähig zu verzweifelten Entschließungen, aber nicht nachhaltig. – Industrielle sind daher kaum gute Republicaner. Sie bedürfen einer stärkern und kräftigern Führung, als republicanische Formen zulassen. Nun hat aber die Schweiz in den letzten zehn Jahren beinahe ausschließlich eine industrielle Richtung genommen, der Luxus großer Städte ist in ihre Gaue eingezogen, und die gepriesene schweizerische Einfachheit findet sich, einige enge Bergthäler abgerechnet, wohl noch in alten Geschichtsbüchern aufgezeichnet, im Leben aber selten mehr.

Die ins Unendliche getriebene Gütervertheilung, welche nur noch Gartenwirthschaft möglich macht, und ein ungeheures Betriebscapital bedingt, hat den Bauernstand beinahe getödtet. Güter von 100 Morgen Landes sind in der Schweiz selten, der Gütchen von 4-10 Morgen, welche eine ganze Familie erhalten sollen, gibt es unzählige. Die Verschuldung des Bauernstandes in einzelnen Theilen der Schweiz, z. B. im Thurgau, gränzt ans Unglaubliche. – Wenn England krank ist, weil der Grund und Boden in zu wenigen Händen ruht, so leidet die Schweiz hinwieder an zu großer Gütervertheilung. Aber nicht nur im Bauernstand hat die schweizerische Republik eine wesentliche Stütze verloren, auch in den Städten ist einer ihrer Grundpfeiler gewichen – der Mittelstand.

Der sogenannte Mittelstand ist für jeden Staat ein wichtiges Element, für die Republik das wichtigste: ihm gehören die meisten wahren Vaterlandsfreunde an; dem Reichen gehört die Welt, er ist selten ein guter Bürger; der Arme wird dem Staat zur Last; der Mittelstand ist seine Stütze. – Das Herunterkommen des Mittelstandes in den schweizerischen Städten rührt her von der Einführung der Gewerbsfreiheit, welche nur Reiche und Arme erzeugt, *)*) und von der die Schweiz umgebenden Zollsystemen, welche dem schweizerischen Handel eine unnatürliche Richtung gaben. Dem in unserer Zeit so sehr verhaßten Zunftzwang liegt eine Pietät zu Grund, welche Viele nicht verstanden haben, diejenige, auch dem weniger Gewandten sein Auskommen zu sichern. – Dem Zunftzwang sind die vielen Gemeinwesen freier und unabhängiger Bürger zu danken, welche am Ende des Mittelalters ein so wichtiges staatliches Element geworden sind. In welchem bedauernswürdigen Zustand der schweizerische Handwerksstand im allgemeinen sich dermal befindet, ist aus den Pfand- und Schuldentriebsprotokollen der meisten städtischen Gemeinden ersichtlich.

Der Handel, der früher vielen eine unabhängige wenn auch keine glänzende Existenz sicherte, macht ebenfalls jetzt einzelne Reiche und viele Arme. Der bedeutendste Verkehr bestand vormals zwischen der Schweiz und Frankreich; ein stehender Artikel der Militärcapitulationen zwischen den schweizerischen Kantonen und den französischen Königen – vor der ersten französischen Revolution sicherte die gegenseitige Handelsfreiheit. Seit dem Jahre 1803 kann die Schweiz – obschon allen französischen Erzeugnissen offen – ihre Producte nur auf dem Weg der Contrebande nach Frankreich bringen. Gleiche Prohibitivsysteme machen den Handel mit den österreichischen und sardinischen Staaten unmöglich, und seit einigen Jahren sind durch die Ausdehnung des deutschen Zollvereins auch die süddeutschen Staaten dem schweizerischen Handel verschlossen worden. Nothgezwungen ist der schweizerische Handel daher beinahe ausschließlich ein überseeischer geworden; dieser erfordert große Capitalien, und ruinirt den weniger Bemittelten früher oder später unwiederbringlich.

Während dergestalt die schweizerische Bevölkerung zu ihren republicanischen Formen weit weniger paßt als vormals, hat man allerorts in unbegreiflicher Verblendung die Regierungsgewalt beschränkt, und allem ochlokratischen Treiben Thür und Thor geöffnet; daher sehen wir denn auch Verfassungen, welche sich unsere Väter für die Ewigkeit zu geben wähnten, im Laufe von zehn Jahren zwei bis dreimal ändern.

Aus Ehrenstellen sind Beamtenstellen geworden; diese gehörig zu dotiren ist bei ihrer großen Zahl unmöglich. Dessen ungeachtet sind die Ausgaben für die Staatsadministration in den letzten Jahren außerordentlich gestiegen; um diese zu decken, werden in einzelnen Kantonen mehr Abgaben bezahlt als in einzelnen monarchischen Staaten. Die Bundesgewalt ist, statt fester, schwächer und lockerer geworden. Bei dem allem läugne ich nicht, daß jeder Fremde, der die Schweiz früher gekannt und jetzt wieder bereist, durch die guten Straßen, Posteinrichtungen und Gasthöfe bestochen, wähnen kann, es habe dieses Land während der letzten Jahre zusehends aufgeblüht; tiefer Sehende werden sich aber durch derlei äußere Ausstattung nicht täuschen lassen, sondern mit mir besorgen, es nage ein Wurm am Herzen der Schweiz.

*) Aber woher dann der wohlhabende Mittelstand von England, Frankreich, den Vereinigten Staaten? A. d. R.
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[0363/0011] welchem der Aufsatz geschrieben ist, in mannichfacher Beziehung Aufmerksamkeit, und ist manchmal gewaltig naiv; so z. B. gibt er den Magyaren den Rath, sich dem Gros ihrer Nation, den Slawen anzuschließen, und ihrer eigenen Nationalität zu entsagen. Eben so merkwürdig ist die Koketterie mit den Russoslaven gegen die kaiserliche Regierung. Ueber den Zustand der Schweiz im Allgemeinen. (Ein Gegenbild zu dem neulich gelieferten Aufsatze.) _ Bern, 9 Febr. Obschon die Schweiz geschichtlich und constitutionell eher ein Staatenbund als ein Bundesstaat ist, so gestalten sich in derselben dennoch allgemein schweizerische Verhältnisse, und manche Erscheinungen des schweizerischen Staatslebens lassen sich weniger aus Zuständen dieses oder jenes Kantons erklären als aus Entwickelungen, welchen die Schweiz als Gesammtstaat entgegengeht. Es haben sich die schweizerischen Verhältnisse im letzten Decennium so wesentlich verändert, daß es sich wohl der Mühe lohnt, nach den Ursachen zu forschen, welche diese Umgestaltung bedingt haben. Es ist die irrige Ansicht ziemlich allgemein verbreitet, als habe das republicanische Leben in der Schweiz während der letzten zehn Jahre einen neuen Aufschwung genommen, und dennoch dürften die Grundfesten der Republik während dieser Zeitperiode mehr als je früher erschüttert worden seyn. Republicanische Verfassungsformen setzen große Nüchternheit und Tugend bei den Bevölkerungen voraus, welche unter denselben leben. – Mehr als alle andern Beschäftigungen und Gewerbe ist der Ackerbau geeignet, diejenigen, die sich ihm widmen, einfach, nüchtern, an Leib und Seele gesund zu erhalten. Die Bauern sind selten neuerungssüchtig, sondern halten fest am Hergebrachten, sie sind einfach, genügsam und gewohnt gute und böse Tage geduldig hinzunehmen; ihr Beruf läßt sie kräftig, ausdauernd und entschlossen werden. – Dasselbe gilt von den Hirten, den Bauern des Gebirgs. – Für sie passen einfache, republicanische Formen. Eine industrielle Bevölkerung hingegen ist in der Regel ausgelassen, veränderungslustig, unfügsam, luxuriös, fähig zu verzweifelten Entschließungen, aber nicht nachhaltig. – Industrielle sind daher kaum gute Republicaner. Sie bedürfen einer stärkern und kräftigern Führung, als republicanische Formen zulassen. Nun hat aber die Schweiz in den letzten zehn Jahren beinahe ausschließlich eine industrielle Richtung genommen, der Luxus großer Städte ist in ihre Gaue eingezogen, und die gepriesene schweizerische Einfachheit findet sich, einige enge Bergthäler abgerechnet, wohl noch in alten Geschichtsbüchern aufgezeichnet, im Leben aber selten mehr. Die ins Unendliche getriebene Gütervertheilung, welche nur noch Gartenwirthschaft möglich macht, und ein ungeheures Betriebscapital bedingt, hat den Bauernstand beinahe getödtet. Güter von 100 Morgen Landes sind in der Schweiz selten, der Gütchen von 4-10 Morgen, welche eine ganze Familie erhalten sollen, gibt es unzählige. Die Verschuldung des Bauernstandes in einzelnen Theilen der Schweiz, z. B. im Thurgau, gränzt ans Unglaubliche. – Wenn England krank ist, weil der Grund und Boden in zu wenigen Händen ruht, so leidet die Schweiz hinwieder an zu großer Gütervertheilung. Aber nicht nur im Bauernstand hat die schweizerische Republik eine wesentliche Stütze verloren, auch in den Städten ist einer ihrer Grundpfeiler gewichen – der Mittelstand. Der sogenannte Mittelstand ist für jeden Staat ein wichtiges Element, für die Republik das wichtigste: ihm gehören die meisten wahren Vaterlandsfreunde an; dem Reichen gehört die Welt, er ist selten ein guter Bürger; der Arme wird dem Staat zur Last; der Mittelstand ist seine Stütze. – Das Herunterkommen des Mittelstandes in den schweizerischen Städten rührt her von der Einführung der Gewerbsfreiheit, welche nur Reiche und Arme erzeugt, *) *) und von der die Schweiz umgebenden Zollsystemen, welche dem schweizerischen Handel eine unnatürliche Richtung gaben. Dem in unserer Zeit so sehr verhaßten Zunftzwang liegt eine Pietät zu Grund, welche Viele nicht verstanden haben, diejenige, auch dem weniger Gewandten sein Auskommen zu sichern. – Dem Zunftzwang sind die vielen Gemeinwesen freier und unabhängiger Bürger zu danken, welche am Ende des Mittelalters ein so wichtiges staatliches Element geworden sind. In welchem bedauernswürdigen Zustand der schweizerische Handwerksstand im allgemeinen sich dermal befindet, ist aus den Pfand- und Schuldentriebsprotokollen der meisten städtischen Gemeinden ersichtlich. Der Handel, der früher vielen eine unabhängige wenn auch keine glänzende Existenz sicherte, macht ebenfalls jetzt einzelne Reiche und viele Arme. Der bedeutendste Verkehr bestand vormals zwischen der Schweiz und Frankreich; ein stehender Artikel der Militärcapitulationen zwischen den schweizerischen Kantonen und den französischen Königen – vor der ersten französischen Revolution sicherte die gegenseitige Handelsfreiheit. Seit dem Jahre 1803 kann die Schweiz – obschon allen französischen Erzeugnissen offen – ihre Producte nur auf dem Weg der Contrebande nach Frankreich bringen. Gleiche Prohibitivsysteme machen den Handel mit den österreichischen und sardinischen Staaten unmöglich, und seit einigen Jahren sind durch die Ausdehnung des deutschen Zollvereins auch die süddeutschen Staaten dem schweizerischen Handel verschlossen worden. Nothgezwungen ist der schweizerische Handel daher beinahe ausschließlich ein überseeischer geworden; dieser erfordert große Capitalien, und ruinirt den weniger Bemittelten früher oder später unwiederbringlich. Während dergestalt die schweizerische Bevölkerung zu ihren republicanischen Formen weit weniger paßt als vormals, hat man allerorts in unbegreiflicher Verblendung die Regierungsgewalt beschränkt, und allem ochlokratischen Treiben Thür und Thor geöffnet; daher sehen wir denn auch Verfassungen, welche sich unsere Väter für die Ewigkeit zu geben wähnten, im Laufe von zehn Jahren zwei bis dreimal ändern. Aus Ehrenstellen sind Beamtenstellen geworden; diese gehörig zu dotiren ist bei ihrer großen Zahl unmöglich. Dessen ungeachtet sind die Ausgaben für die Staatsadministration in den letzten Jahren außerordentlich gestiegen; um diese zu decken, werden in einzelnen Kantonen mehr Abgaben bezahlt als in einzelnen monarchischen Staaten. Die Bundesgewalt ist, statt fester, schwächer und lockerer geworden. Bei dem allem läugne ich nicht, daß jeder Fremde, der die Schweiz früher gekannt und jetzt wieder bereist, durch die guten Straßen, Posteinrichtungen und Gasthöfe bestochen, wähnen kann, es habe dieses Land während der letzten Jahre zusehends aufgeblüht; tiefer Sehende werden sich aber durch derlei äußere Ausstattung nicht täuschen lassen, sondern mit mir besorgen, es nage ein Wurm am Herzen der Schweiz. *) Aber woher dann der wohlhabende Mittelstand von England, Frankreich, den Vereinigten Staaten? A. d. R.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 46. Augsburg, 15. Februar 1840, S. 0363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_046_18400215/11>, abgerufen am 29.04.2024.