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Allgemeine Zeitung. Nr. 92. Augsburg, 1. April 1840.

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Oeffentlicher Unterricht, Rechtsstudium und Rechtsschulen in Frankreich.

Der neue Minister des Unterrichts hat seine Thätigkeit durch eine Vorschrift eröffnet, die seinen guten Willen an den Tag legt, und auf das so sehr vernachlässigte Rechtsstudium in Frankreich wohlthätig einwirken kann, ich meine die Ordonnanz, welche das System der Preisfragen und der öffentlichen Concurrenz bei den Prüfungen der Rechtscandidaten einführt. Sonderbarer Wechsel der Dinge! In dem Lande, das im 16ten und noch im 17ten Jahrhundert mit seinen Rechtsschulen, seinen Rechtskundigen und Lehrern dem übrigen Europa vorleuchtete - in dem Lande des Cujaz, des Donellus und Dumoulin ist die Rechtswissenschaft, ist namentlich der Unterricht des Rechts zu einer Verwahrlosung herabgesunken, die dem französischen Beobachter selbst die bittersten Klagen entreißt, und deren traurige Folgen in der Praxis, in dem Barreau, in der Magistratur nur allzu sichtbar sind. Es ist, als ob die Kenntniß der gesetzlichen Ueberlieferungen, als ob das Quellenstudium für den Advocaten wie für den Richter ein werthloser Ueberfluß geworden sey; die "Geschäfte" verschlingen die Lehre, und das Heiligthum der Wissenschaft des Rechten und Unrechten (scientia justi et in justi) hat der profanen Werkstätte des Gewinns seinen Platz eingeräumt. Wenn dieses traurige Gemälde glänzende Lichtseiten nicht ausschließt, und in dem Dienste der Gerechtigkeit, im Barreau wie auf dem Stuhle des Richters, mehr als ein würdiger und ausgezeichneter Jünger noch waltet, so ist es nichtsdestoweniger in seinen allgemeinen Umrissen wahr. Der Unterricht an der hiesigen Rechtsfacultät ist lose und matt, und wird ohne begeisternden Ernst von oben, ohne frommen Eifer von unten betrieben; die Studenten betrachten die drei Jahre ihrer Universitätszeit als einen Zwang, als eine Frohnde, die überstanden werden muß, um der Zeugnisse willen, die nach einer gewissen Zahl Einschreibungen ertheilt werden und auf Prüfungen folgen, die von der Sache nur den Namen haben. Dieses Bewußtseyn liest sich auf der Stirn der großen Mehrzahl derer, die den Vorlesungen an der Rechtsschule beiwohnen, und geben ihnen einen trostlosen Anblick. Die Professoren ihrerseits, die diese Zuhörerschaft jeden Tag vor Augen haben, sind ermüdet, ermangeln alles geistigen Sporns, ermangeln insbesondere der Wohlthat des öffentlichen Wetteifers und versinken sehr bald in die tödtlichste aller geistigen Krankheiten - in den Schlendrian, der seinen Dienst verrichtet wie ein todtes Pendelwerk, und bei der Eröffnung jeder Vorlesung gern mit dem Spruche Falstaff' beginnen möchte: "Ich wollt', es wäre Abendessenszeit und Alles schon vorbei!" Diesem siechen Körper thut ein rüstiger Arzt noth; möge Cousin, der auf seinen Fahrten Vergleichungsstoff genug gesammelt hat, dieser Arzt seyn, und ihm neue Lebenskraft, frische Weihe bieten!

Der Minister verweist in seinem Bericht an den König, zur Rechtfertigung der Preisaufgaben und der Concursdissertationen, auf die deutschen Universitäten, auf deren Gebräuche und die oft sehr ernsten und gediegenen Arbeiten in diesen Dissertationen. Wir theilen seine Ansicht von der Nützlichlichkeit dieser Neuerung, und wir begrüßen in ihr insbesondere die Bürgschaft, daß andere, durchaus unentbehrliche Verbesserungen in den Lehrvorträgen der Rechtsfacultät eingeführt werden. Dahin rechnen wir vor Allem die Philosophie des Rechts, die hier beinahe eine ungeahnte Wissenschaft ist. Die Philosophie des Rechts, die wir von der Geschichte des Rechts nicht trennen, und die in ihrem modernsten Gewande zu dem großen vergleichenden Bilde der bestehenden Gesetzgebungen im In- und Ausland führt, würde den Sinn der Studirenden auf die ernsten Quellen der Wissenschaft zurückführen, ihnen Liebe zu derselben einflößen, ihren prüfenden Scharfsinn stärken, ihr Urtheil reifen und sie mit einem Grundschatz bereichern, an dem sie während der ganzen Dauer ihrer Praxis zehren könnten, der ihnen zum Leitstern in jenen schwierigen Momenten der Rechtsanwendung dienen würde, wo der positive Buchstaben des Gesetzes fehlt oder seine elastische Fassung in das weitlose Gebiet der Hermeneutik fällt. Ich meine natürlich ein ernstes historisches Studium, eine ehrliche und mit philosophischem Ueberblick geordnete Gliederung der französischen Rechtsquellen. Welches schöne und reiche Feld bleibt hier zu bearbeiten - ein Feld, das durch das neueste Werk von Laferriere, dessen Werth wir übrigens anerkennen, erst recht angedeutet wurde: hier das römische Recht, als Quelle der in den Provinzen des droit ecrit geltenden Gesetze, mit all seinen unumgänglichen Nebenzweigen, die zum alten Rom hinaufreichen und in logischer Folge dessen ganze politische und gesellige Einrichtung entfalten; dort die Gewohnheitsrechte, aus denen die Coutumes der verschiedenen Provinzen des droit coutumier entstanden sind, und die nichts Anderes sind, als die Einwirkung des germanischen Elements, wie es sich durch die fränkische Eroberung auf gallischem Boden eingepflanzt, allmählich Wurzel gefaßt und durch die Reibung der Sieger und Besiegten neue oder modificirte Formen angenommen und den wichtigsten Capiteln des Napoleon'schen Codex, z. B. über die Rechte der Weiber, deren Vermögen in der Ehe u. s. w., zur Grundlage gedient hat. Man spricht viel von der schroffen Trennung, welche in den Sprachen der beiden Nationen, der deutschen und französischen, begründet sey, während andrerseits ein geheimer Zug sie einander zu nähern scheint, und das Bedürfniß ihrer Befreundung immer mehr zu Tag bricht. Dieses geheimnißvolle Band, die traditionelle Verwandtschaft der beiden Völker, ist wohl dem Geschichtsfreunde nicht überall verhüllt; er kann wenigstens bis an die Loire die germanische Strömung verfolgen, wie sie aus den Wäldern des Tacitus die heimischen Gebräuche und Satzungen in das unterjochte Land eingeführt und den eifersüchtigen, tyrannischen Privilegien des "civilisirten" Roms die milden, menschlichen und würdigen Schutzrechte zu Gunsten der Weiber und der Familie aus dem "barbarischen" Norden entgegengehalten hat. Gibt es eine schönere, eine herrlichere Aufgabe als die eines Lehrvortrags, der dem heutigen, so einheitlichen Rechte Frankreichs seine frühe Kindheit, die Kämpfe und Wehen seiner Geburt und seine nahe Verwandtschaft mit dem benachbarten Lande in treffenden, großartigen Zügen vorführte!

An dem Tage, wo dieser Lehrstuhl einer Rechtsgeschichte und Philosophie, wie wir sie meinen, sich erhebt, wird ein erneuertes, lautes Gelächter ausbrechen über den grotesken Spaß, den die Lerminier'sche Legislation comparee so lange am college de France getrieben hat; an diesem Tage wird für für das Studium des Rechts an der Facultät zu Paris eine neue Zeitrechnung beginnen, und der Minister, der ihn ins Leben ruft, wird auf alle Zeiten das Verdienst behalten, dem Gebäude der Rechtswissenschaft, der Lehre des Rechts ihren Grund- und ihren Schlußstein verliehen zu haben. Aber um zu diesem verdienstlichen Fortschritte zu gelangen, insbesondere

Oeffentlicher Unterricht, Rechtsstudium und Rechtsschulen in Frankreich.

Der neue Minister des Unterrichts hat seine Thätigkeit durch eine Vorschrift eröffnet, die seinen guten Willen an den Tag legt, und auf das so sehr vernachlässigte Rechtsstudium in Frankreich wohlthätig einwirken kann, ich meine die Ordonnanz, welche das System der Preisfragen und der öffentlichen Concurrenz bei den Prüfungen der Rechtscandidaten einführt. Sonderbarer Wechsel der Dinge! In dem Lande, das im 16ten und noch im 17ten Jahrhundert mit seinen Rechtsschulen, seinen Rechtskundigen und Lehrern dem übrigen Europa vorleuchtete – in dem Lande des Cujaz, des Donellus und Dumoulin ist die Rechtswissenschaft, ist namentlich der Unterricht des Rechts zu einer Verwahrlosung herabgesunken, die dem französischen Beobachter selbst die bittersten Klagen entreißt, und deren traurige Folgen in der Praxis, in dem Barreau, in der Magistratur nur allzu sichtbar sind. Es ist, als ob die Kenntniß der gesetzlichen Ueberlieferungen, als ob das Quellenstudium für den Advocaten wie für den Richter ein werthloser Ueberfluß geworden sey; die „Geschäfte“ verschlingen die Lehre, und das Heiligthum der Wissenschaft des Rechten und Unrechten (scientia justi et in justi) hat der profanen Werkstätte des Gewinns seinen Platz eingeräumt. Wenn dieses traurige Gemälde glänzende Lichtseiten nicht ausschließt, und in dem Dienste der Gerechtigkeit, im Barreau wie auf dem Stuhle des Richters, mehr als ein würdiger und ausgezeichneter Jünger noch waltet, so ist es nichtsdestoweniger in seinen allgemeinen Umrissen wahr. Der Unterricht an der hiesigen Rechtsfacultät ist lose und matt, und wird ohne begeisternden Ernst von oben, ohne frommen Eifer von unten betrieben; die Studenten betrachten die drei Jahre ihrer Universitätszeit als einen Zwang, als eine Frohnde, die überstanden werden muß, um der Zeugnisse willen, die nach einer gewissen Zahl Einschreibungen ertheilt werden und auf Prüfungen folgen, die von der Sache nur den Namen haben. Dieses Bewußtseyn liest sich auf der Stirn der großen Mehrzahl derer, die den Vorlesungen an der Rechtsschule beiwohnen, und geben ihnen einen trostlosen Anblick. Die Professoren ihrerseits, die diese Zuhörerschaft jeden Tag vor Augen haben, sind ermüdet, ermangeln alles geistigen Sporns, ermangeln insbesondere der Wohlthat des öffentlichen Wetteifers und versinken sehr bald in die tödtlichste aller geistigen Krankheiten – in den Schlendrian, der seinen Dienst verrichtet wie ein todtes Pendelwerk, und bei der Eröffnung jeder Vorlesung gern mit dem Spruche Falstaff' beginnen möchte: „Ich wollt', es wäre Abendessenszeit und Alles schon vorbei!“ Diesem siechen Körper thut ein rüstiger Arzt noth; möge Cousin, der auf seinen Fahrten Vergleichungsstoff genug gesammelt hat, dieser Arzt seyn, und ihm neue Lebenskraft, frische Weihe bieten!

Der Minister verweist in seinem Bericht an den König, zur Rechtfertigung der Preisaufgaben und der Concursdissertationen, auf die deutschen Universitäten, auf deren Gebräuche und die oft sehr ernsten und gediegenen Arbeiten in diesen Dissertationen. Wir theilen seine Ansicht von der Nützlichlichkeit dieser Neuerung, und wir begrüßen in ihr insbesondere die Bürgschaft, daß andere, durchaus unentbehrliche Verbesserungen in den Lehrvorträgen der Rechtsfacultät eingeführt werden. Dahin rechnen wir vor Allem die Philosophie des Rechts, die hier beinahe eine ungeahnte Wissenschaft ist. Die Philosophie des Rechts, die wir von der Geschichte des Rechts nicht trennen, und die in ihrem modernsten Gewande zu dem großen vergleichenden Bilde der bestehenden Gesetzgebungen im In- und Ausland führt, würde den Sinn der Studirenden auf die ernsten Quellen der Wissenschaft zurückführen, ihnen Liebe zu derselben einflößen, ihren prüfenden Scharfsinn stärken, ihr Urtheil reifen und sie mit einem Grundschatz bereichern, an dem sie während der ganzen Dauer ihrer Praxis zehren könnten, der ihnen zum Leitstern in jenen schwierigen Momenten der Rechtsanwendung dienen würde, wo der positive Buchstaben des Gesetzes fehlt oder seine elastische Fassung in das weitlose Gebiet der Hermeneutik fällt. Ich meine natürlich ein ernstes historisches Studium, eine ehrliche und mit philosophischem Ueberblick geordnete Gliederung der französischen Rechtsquellen. Welches schöne und reiche Feld bleibt hier zu bearbeiten – ein Feld, das durch das neueste Werk von Laferrière, dessen Werth wir übrigens anerkennen, erst recht angedeutet wurde: hier das römische Recht, als Quelle der in den Provinzen des droit écrit geltenden Gesetze, mit all seinen unumgänglichen Nebenzweigen, die zum alten Rom hinaufreichen und in logischer Folge dessen ganze politische und gesellige Einrichtung entfalten; dort die Gewohnheitsrechte, aus denen die Coutumes der verschiedenen Provinzen des droit coutumier entstanden sind, und die nichts Anderes sind, als die Einwirkung des germanischen Elements, wie es sich durch die fränkische Eroberung auf gallischem Boden eingepflanzt, allmählich Wurzel gefaßt und durch die Reibung der Sieger und Besiegten neue oder modificirte Formen angenommen und den wichtigsten Capiteln des Napoleon'schen Codex, z. B. über die Rechte der Weiber, deren Vermögen in der Ehe u. s. w., zur Grundlage gedient hat. Man spricht viel von der schroffen Trennung, welche in den Sprachen der beiden Nationen, der deutschen und französischen, begründet sey, während andrerseits ein geheimer Zug sie einander zu nähern scheint, und das Bedürfniß ihrer Befreundung immer mehr zu Tag bricht. Dieses geheimnißvolle Band, die traditionelle Verwandtschaft der beiden Völker, ist wohl dem Geschichtsfreunde nicht überall verhüllt; er kann wenigstens bis an die Loire die germanische Strömung verfolgen, wie sie aus den Wäldern des Tacitus die heimischen Gebräuche und Satzungen in das unterjochte Land eingeführt und den eifersüchtigen, tyrannischen Privilegien des „civilisirten“ Roms die milden, menschlichen und würdigen Schutzrechte zu Gunsten der Weiber und der Familie aus dem „barbarischen“ Norden entgegengehalten hat. Gibt es eine schönere, eine herrlichere Aufgabe als die eines Lehrvortrags, der dem heutigen, so einheitlichen Rechte Frankreichs seine frühe Kindheit, die Kämpfe und Wehen seiner Geburt und seine nahe Verwandtschaft mit dem benachbarten Lande in treffenden, großartigen Zügen vorführte!

An dem Tage, wo dieser Lehrstuhl einer Rechtsgeschichte und Philosophie, wie wir sie meinen, sich erhebt, wird ein erneuertes, lautes Gelächter ausbrechen über den grotesken Spaß, den die Lerminier'sche Législation comparée so lange am collège de France getrieben hat; an diesem Tage wird für für das Studium des Rechts an der Facultät zu Paris eine neue Zeitrechnung beginnen, und der Minister, der ihn ins Leben ruft, wird auf alle Zeiten das Verdienst behalten, dem Gebäude der Rechtswissenschaft, der Lehre des Rechts ihren Grund- und ihren Schlußstein verliehen zu haben. Aber um zu diesem verdienstlichen Fortschritte zu gelangen, insbesondere

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[0729/0009] Oeffentlicher Unterricht, Rechtsstudium und Rechtsschulen in Frankreich. _ Paris, 22 März. Der neue Minister des Unterrichts hat seine Thätigkeit durch eine Vorschrift eröffnet, die seinen guten Willen an den Tag legt, und auf das so sehr vernachlässigte Rechtsstudium in Frankreich wohlthätig einwirken kann, ich meine die Ordonnanz, welche das System der Preisfragen und der öffentlichen Concurrenz bei den Prüfungen der Rechtscandidaten einführt. Sonderbarer Wechsel der Dinge! In dem Lande, das im 16ten und noch im 17ten Jahrhundert mit seinen Rechtsschulen, seinen Rechtskundigen und Lehrern dem übrigen Europa vorleuchtete – in dem Lande des Cujaz, des Donellus und Dumoulin ist die Rechtswissenschaft, ist namentlich der Unterricht des Rechts zu einer Verwahrlosung herabgesunken, die dem französischen Beobachter selbst die bittersten Klagen entreißt, und deren traurige Folgen in der Praxis, in dem Barreau, in der Magistratur nur allzu sichtbar sind. Es ist, als ob die Kenntniß der gesetzlichen Ueberlieferungen, als ob das Quellenstudium für den Advocaten wie für den Richter ein werthloser Ueberfluß geworden sey; die „Geschäfte“ verschlingen die Lehre, und das Heiligthum der Wissenschaft des Rechten und Unrechten (scientia justi et in justi) hat der profanen Werkstätte des Gewinns seinen Platz eingeräumt. Wenn dieses traurige Gemälde glänzende Lichtseiten nicht ausschließt, und in dem Dienste der Gerechtigkeit, im Barreau wie auf dem Stuhle des Richters, mehr als ein würdiger und ausgezeichneter Jünger noch waltet, so ist es nichtsdestoweniger in seinen allgemeinen Umrissen wahr. Der Unterricht an der hiesigen Rechtsfacultät ist lose und matt, und wird ohne begeisternden Ernst von oben, ohne frommen Eifer von unten betrieben; die Studenten betrachten die drei Jahre ihrer Universitätszeit als einen Zwang, als eine Frohnde, die überstanden werden muß, um der Zeugnisse willen, die nach einer gewissen Zahl Einschreibungen ertheilt werden und auf Prüfungen folgen, die von der Sache nur den Namen haben. Dieses Bewußtseyn liest sich auf der Stirn der großen Mehrzahl derer, die den Vorlesungen an der Rechtsschule beiwohnen, und geben ihnen einen trostlosen Anblick. Die Professoren ihrerseits, die diese Zuhörerschaft jeden Tag vor Augen haben, sind ermüdet, ermangeln alles geistigen Sporns, ermangeln insbesondere der Wohlthat des öffentlichen Wetteifers und versinken sehr bald in die tödtlichste aller geistigen Krankheiten – in den Schlendrian, der seinen Dienst verrichtet wie ein todtes Pendelwerk, und bei der Eröffnung jeder Vorlesung gern mit dem Spruche Falstaff' beginnen möchte: „Ich wollt', es wäre Abendessenszeit und Alles schon vorbei!“ Diesem siechen Körper thut ein rüstiger Arzt noth; möge Cousin, der auf seinen Fahrten Vergleichungsstoff genug gesammelt hat, dieser Arzt seyn, und ihm neue Lebenskraft, frische Weihe bieten! Der Minister verweist in seinem Bericht an den König, zur Rechtfertigung der Preisaufgaben und der Concursdissertationen, auf die deutschen Universitäten, auf deren Gebräuche und die oft sehr ernsten und gediegenen Arbeiten in diesen Dissertationen. Wir theilen seine Ansicht von der Nützlichlichkeit dieser Neuerung, und wir begrüßen in ihr insbesondere die Bürgschaft, daß andere, durchaus unentbehrliche Verbesserungen in den Lehrvorträgen der Rechtsfacultät eingeführt werden. Dahin rechnen wir vor Allem die Philosophie des Rechts, die hier beinahe eine ungeahnte Wissenschaft ist. Die Philosophie des Rechts, die wir von der Geschichte des Rechts nicht trennen, und die in ihrem modernsten Gewande zu dem großen vergleichenden Bilde der bestehenden Gesetzgebungen im In- und Ausland führt, würde den Sinn der Studirenden auf die ernsten Quellen der Wissenschaft zurückführen, ihnen Liebe zu derselben einflößen, ihren prüfenden Scharfsinn stärken, ihr Urtheil reifen und sie mit einem Grundschatz bereichern, an dem sie während der ganzen Dauer ihrer Praxis zehren könnten, der ihnen zum Leitstern in jenen schwierigen Momenten der Rechtsanwendung dienen würde, wo der positive Buchstaben des Gesetzes fehlt oder seine elastische Fassung in das weitlose Gebiet der Hermeneutik fällt. Ich meine natürlich ein ernstes historisches Studium, eine ehrliche und mit philosophischem Ueberblick geordnete Gliederung der französischen Rechtsquellen. Welches schöne und reiche Feld bleibt hier zu bearbeiten – ein Feld, das durch das neueste Werk von Laferrière, dessen Werth wir übrigens anerkennen, erst recht angedeutet wurde: hier das römische Recht, als Quelle der in den Provinzen des droit écrit geltenden Gesetze, mit all seinen unumgänglichen Nebenzweigen, die zum alten Rom hinaufreichen und in logischer Folge dessen ganze politische und gesellige Einrichtung entfalten; dort die Gewohnheitsrechte, aus denen die Coutumes der verschiedenen Provinzen des droit coutumier entstanden sind, und die nichts Anderes sind, als die Einwirkung des germanischen Elements, wie es sich durch die fränkische Eroberung auf gallischem Boden eingepflanzt, allmählich Wurzel gefaßt und durch die Reibung der Sieger und Besiegten neue oder modificirte Formen angenommen und den wichtigsten Capiteln des Napoleon'schen Codex, z. B. über die Rechte der Weiber, deren Vermögen in der Ehe u. s. w., zur Grundlage gedient hat. Man spricht viel von der schroffen Trennung, welche in den Sprachen der beiden Nationen, der deutschen und französischen, begründet sey, während andrerseits ein geheimer Zug sie einander zu nähern scheint, und das Bedürfniß ihrer Befreundung immer mehr zu Tag bricht. Dieses geheimnißvolle Band, die traditionelle Verwandtschaft der beiden Völker, ist wohl dem Geschichtsfreunde nicht überall verhüllt; er kann wenigstens bis an die Loire die germanische Strömung verfolgen, wie sie aus den Wäldern des Tacitus die heimischen Gebräuche und Satzungen in das unterjochte Land eingeführt und den eifersüchtigen, tyrannischen Privilegien des „civilisirten“ Roms die milden, menschlichen und würdigen Schutzrechte zu Gunsten der Weiber und der Familie aus dem „barbarischen“ Norden entgegengehalten hat. Gibt es eine schönere, eine herrlichere Aufgabe als die eines Lehrvortrags, der dem heutigen, so einheitlichen Rechte Frankreichs seine frühe Kindheit, die Kämpfe und Wehen seiner Geburt und seine nahe Verwandtschaft mit dem benachbarten Lande in treffenden, großartigen Zügen vorführte! An dem Tage, wo dieser Lehrstuhl einer Rechtsgeschichte und Philosophie, wie wir sie meinen, sich erhebt, wird ein erneuertes, lautes Gelächter ausbrechen über den grotesken Spaß, den die Lerminier'sche Législation comparée so lange am collège de France getrieben hat; an diesem Tage wird für für das Studium des Rechts an der Facultät zu Paris eine neue Zeitrechnung beginnen, und der Minister, der ihn ins Leben ruft, wird auf alle Zeiten das Verdienst behalten, dem Gebäude der Rechtswissenschaft, der Lehre des Rechts ihren Grund- und ihren Schlußstein verliehen zu haben. Aber um zu diesem verdienstlichen Fortschritte zu gelangen, insbesondere

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Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 92. Augsburg, 1. April 1840, S. 0729. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_092_18400401/9>, abgerufen am 28.04.2024.