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Allgemeine Zeitung. Nr. 124. Augsburg, 3. Mai 1840.

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das, was uns Deutsche als eine poetische Unvollkommenheit erscheint, in gewisser Art zu einem Vorzug zu erheben, so daß der gewöhnliche Leser ungern missen würde, was der strengere Kritiker verwerfen müßte. Gewiß ist: ohne Gedankenstoff, ohne Sprachfertigkeit und Bekanntschaft mit der Kunst des Versbaues kann es einem Franzosen nicht so leicht einfallen, sich zum Dichter aufzuwerfen, wie einem Deutschen. Denn leider wird bei uns das Dichten oft gar zu sehr als eine freie Kunst angesehen und betrieben. Eine augenblickliche Stimmung, eine Leidenschaft, ein flüchtiges Gefühl, eine aufgeraffte Anekdote geben einem jungen (oder auch wohl ältern) Dilettanten Veranlassung, ein Lied oder ein kleines erzählendes Gedicht zu verfertigen, in den leichtesten, losesten Sylbenmaaßen, mit sparsamen, unächten Reimen, mit sorglosester Vernachlässigung aller prosodischen Gesetze. In solchen Gedichten von Anfängern, oder solchen, die es immer bleiben, wird der Sprache, der Grammatik, der Prosodie und der Logik gespottet, oder es wird doch durchaus keine neue Anschauung, Empfindung oder Idee vorgebracht, und doch nimmt sich das Product manchmal aus wie ein Gedicht:

"Zwar ein Thierchen gibt es nicht,
Doch gibt es ein Gedichtchen."

Um Prosa zu schreiben, sagt Goethe bei Eckermann einmal, dazu gehöre, daß man wirklich etwas zu sagen habe; bei der (lyrischen) Poesie ist dieß in gewissem Sinn weniger der Fall, d. h. bei der Poesie ist die Form schon etwas, und manchmal das Meiste, und ein an sich durchaus nicht neuer Gedanke kann doch poetisch ganz artig und interessant ausgesprochen werden. Durch die Form erhebt der ächte Dichter eine bekannte Idee, eine Empfindung, die Jeder gehabt haben mag, in eine höhere Potenz; der unberufene Dichter dagegen stutzt sie nur äußerlich zu, überkleidet sie mit einigen poetischen Floskeln und Lappen, denn freilich: difficile est, proprie communia dicere! Je näher nun unsers Erachtens die französische Poesie in mancher Hinsicht der Prosa steht oder stehen darf (von der sie sich dann wieder durch eine sonderbare Pruderie in der Wahl der Wörter und Ausdrücke zu entfernen strebt), um so mehr gilt von ihr das, was Goethe von der Prosa sagte: daß man Etwas zu sagen haben müsse, daß sie sich nicht so von selbst, gleichsam im Traum, mache, sich am Reim fortspinne; und auch aus diesem Grunde wird es weniger französische Dichterlinge geben. Die Zahl der Dilettanten muß kleiner seyn, und die besseren Dichter kommen weniger in den Fall, so leicht ein kleines Lied, ein Gedichtchen hinzuwerfen, wie der deutsche Dichter, der keinen solchen Anlauf zu nehmen gewohnt ist, wie ihn der, doch immer noch die Hauptform der französischen Poesie bildende Alexandriner mit seiner Grandezza und seinen, durch seinen Bau fast nothwendig geforderten epigrammatischen Antithesen erheischt. Um die Form des Alexandriners zu füllen, dazu gehört schon viel mehr Masse, so zu sagen, als ein leichtes deutsches Metrum zu fassen vermöchte. Frau v. Stael läßt der deutschen Sprache eine Gerechtigkeit widerfahren, die ihr Marmier, so fürchten wir nach den vorliegenden Proben, wohl verweigern dürfte; sie sagt: "Das Deutsche ist eine sehr glänzende Sprache für die Poesie, sehr reich in der Metaphysik, aber sehr positiv im Gespräch. Die französische Sprache dagegen ist wahrhaft reich nur in den Wendungen, welche die zartesten und feinsten Beziehungen und Verhältnisse des geselligen Lebens bezeichnen; sie ist arm und beschränkt in Allem, was der Phantasie und Philosophie angehört." Wir glauben das unserer Sprache gezollte Lob mit allem Recht annehmen zu dürfen, doch erfordert der Ausdruck "glänzend" (brillante) eine genauere Bestimmung. Frau v. Stael sagt selbst bald darauf: "Obgleich der Sinn der deutschen Sätze oft erst am Ende klar wird, erlaubt doch die Construction nicht immer, einen Satz mit dem pikantesten Ausdruck zu schließen; und doch ist dieß eines der vorzüglichsten Mittel, in der Conversation Effect hervorzubringen. Man hört bei den Deutschen selten, was wir bons mots nennen; die Gedanken selbst muß man bewundern, nicht den äußern Glanz, den man ihnen gibt." Der Glanz der deutschen Poesie ist weit mehr die dem Ganzen gleichmäßig inwohnende, über Alles verbreitete, mit dem innersten Kern verschmolzene Schönheit, als eine in einzelnen Fulgurationen, so zu sagen sinnlich hervortretende, überraschende Pracht; die schlagenden Effecte, die pikanten, Vieles in Ein Wort zusammendrängenden Schlüsse, die glänzenden Antithesen - alles das sind Eigenthümlichkeiten mehr der französischen Poesie (des Alexandriners) als der deutschen. Was der deutsche Geschmack verschmäht, epigrammatische Schlüsse, Eigennamen (zumal beim Reim), und Aehnliches, macht in der französischen, rednerischen Poesie oft einen großen Effect. So singt V. Hugo:

Ce siecle avait deux ans! Rome remplacait Sparte,
Deja Napoleon percait sous Bonaparte, etc.
und wieder:
Tout en vous partageant l'empire d'Alexandre,
Vous avez peur d'une ombre et peur d'un peu de cendre!
und wir zweifeln nicht, daß diese Verse mit großem Beifall aufgenommen wurden, so wenig uns solche rhetorische Schläge einen eigentlich poetischen Eindruck machen. Wir Deutschen besitzen Unbefangenheit genug, um zu begreifen, daß den Franzosen leicht ihre Poesie mit solchen mehr ins Auge und ins Ohr fallenden Eigenthümlichkeiten als reicher und vollkommener erscheinen mag, als die deutsche; dagegen behaupten wir doch mit Zuversicht: die deutsche lyrische Poesie ist in ihren edelsten Productionen weit immaterieller, weit ätherischer und geistiger, dabei aber doch körnichter, prägnanter und tiefer, als die französische; sie besitzt jene kurzen, geheimnißvollen Zauberworte, welche aufzufinden die rednerische und geistreiche Poesie der Franzosen sich vergebens müht, und welche die tiefsten Ahnungen des Gemüths aufregen; sie legt einen unendlichen Gehalt von Tiefsinn, Phantasie und Seele nieder in den dem Umfang nach kleinsten Liedern - eine Gattung, welche sich bei den Franzosen meist nur durch ihre glückliche, graciöse Leichtigkeit, selten durch Tiefe, auszeichnet. Ihr Liederdichter, ihr Chansonnier par excellence, ist Beranger; das Verdienst seiner Lieder wird in Deutschland gewiß gebührend anerkannt, doch beruht es zum größten Theil überwiegend auf der glücklichen Form und dem französischen esprit; der denselben charakteristische Refrain bewährt häufig das eminente Talent, die Gewandtheit des Dichters, hat aber auch etwas Künstliches und Prosaisches an sich. Die durch den Gehalt bedeutendsten lyrischen Gattungen sind bei den Franzosen die Elegie und die Ode, so wie die größern (erzählenden oder beschreibenden) Gedichte in Alexandrinern, und hier stehen heutigen Tages Lamartine und Victor Hugo oben an. Die bisher auseinandergesetzten Umstände bringen es mit sich, daß die meisten solcher Oden und Elegien nicht in dem Grade schwach und leer seyn können, als es freilich eine Menge sogenannter Gedichte in Deutschland gibt; aber eine andere Frage ist, ob die französische lyrische Poesie der Gegenwart, mag sie immerhin des Schlechten weniger haben, auch nach der Seite des Trefflichen hin den Vorzug vor der deutschen behaupte, wie Marmier dieß so zuversichtlich annimmt.

(Beschluß folgt.)

das, was uns Deutsche als eine poetische Unvollkommenheit erscheint, in gewisser Art zu einem Vorzug zu erheben, so daß der gewöhnliche Leser ungern missen würde, was der strengere Kritiker verwerfen müßte. Gewiß ist: ohne Gedankenstoff, ohne Sprachfertigkeit und Bekanntschaft mit der Kunst des Versbaues kann es einem Franzosen nicht so leicht einfallen, sich zum Dichter aufzuwerfen, wie einem Deutschen. Denn leider wird bei uns das Dichten oft gar zu sehr als eine freie Kunst angesehen und betrieben. Eine augenblickliche Stimmung, eine Leidenschaft, ein flüchtiges Gefühl, eine aufgeraffte Anekdote geben einem jungen (oder auch wohl ältern) Dilettanten Veranlassung, ein Lied oder ein kleines erzählendes Gedicht zu verfertigen, in den leichtesten, losesten Sylbenmaaßen, mit sparsamen, unächten Reimen, mit sorglosester Vernachlässigung aller prosodischen Gesetze. In solchen Gedichten von Anfängern, oder solchen, die es immer bleiben, wird der Sprache, der Grammatik, der Prosodie und der Logik gespottet, oder es wird doch durchaus keine neue Anschauung, Empfindung oder Idee vorgebracht, und doch nimmt sich das Product manchmal aus wie ein Gedicht:

„Zwar ein Thierchen gibt es nicht,
Doch gibt es ein Gedichtchen.“

Um Prosa zu schreiben, sagt Goethe bei Eckermann einmal, dazu gehöre, daß man wirklich etwas zu sagen habe; bei der (lyrischen) Poesie ist dieß in gewissem Sinn weniger der Fall, d. h. bei der Poesie ist die Form schon etwas, und manchmal das Meiste, und ein an sich durchaus nicht neuer Gedanke kann doch poetisch ganz artig und interessant ausgesprochen werden. Durch die Form erhebt der ächte Dichter eine bekannte Idee, eine Empfindung, die Jeder gehabt haben mag, in eine höhere Potenz; der unberufene Dichter dagegen stutzt sie nur äußerlich zu, überkleidet sie mit einigen poetischen Floskeln und Lappen, denn freilich: difficile est, proprie communia dicere! Je näher nun unsers Erachtens die französische Poesie in mancher Hinsicht der Prosa steht oder stehen darf (von der sie sich dann wieder durch eine sonderbare Pruderie in der Wahl der Wörter und Ausdrücke zu entfernen strebt), um so mehr gilt von ihr das, was Goethe von der Prosa sagte: daß man Etwas zu sagen haben müsse, daß sie sich nicht so von selbst, gleichsam im Traum, mache, sich am Reim fortspinne; und auch aus diesem Grunde wird es weniger französische Dichterlinge geben. Die Zahl der Dilettanten muß kleiner seyn, und die besseren Dichter kommen weniger in den Fall, so leicht ein kleines Lied, ein Gedichtchen hinzuwerfen, wie der deutsche Dichter, der keinen solchen Anlauf zu nehmen gewohnt ist, wie ihn der, doch immer noch die Hauptform der französischen Poesie bildende Alexandriner mit seiner Grandezza und seinen, durch seinen Bau fast nothwendig geforderten epigrammatischen Antithesen erheischt. Um die Form des Alexandriners zu füllen, dazu gehört schon viel mehr Masse, so zu sagen, als ein leichtes deutsches Metrum zu fassen vermöchte. Frau v. Staël läßt der deutschen Sprache eine Gerechtigkeit widerfahren, die ihr Marmier, so fürchten wir nach den vorliegenden Proben, wohl verweigern dürfte; sie sagt: „Das Deutsche ist eine sehr glänzende Sprache für die Poesie, sehr reich in der Metaphysik, aber sehr positiv im Gespräch. Die französische Sprache dagegen ist wahrhaft reich nur in den Wendungen, welche die zartesten und feinsten Beziehungen und Verhältnisse des geselligen Lebens bezeichnen; sie ist arm und beschränkt in Allem, was der Phantasie und Philosophie angehört.“ Wir glauben das unserer Sprache gezollte Lob mit allem Recht annehmen zu dürfen, doch erfordert der Ausdruck „glänzend“ (brillante) eine genauere Bestimmung. Frau v. Staël sagt selbst bald darauf: „Obgleich der Sinn der deutschen Sätze oft erst am Ende klar wird, erlaubt doch die Construction nicht immer, einen Satz mit dem pikantesten Ausdruck zu schließen; und doch ist dieß eines der vorzüglichsten Mittel, in der Conversation Effect hervorzubringen. Man hört bei den Deutschen selten, was wir bons mots nennen; die Gedanken selbst muß man bewundern, nicht den äußern Glanz, den man ihnen gibt.“ Der Glanz der deutschen Poesie ist weit mehr die dem Ganzen gleichmäßig inwohnende, über Alles verbreitete, mit dem innersten Kern verschmolzene Schönheit, als eine in einzelnen Fulgurationen, so zu sagen sinnlich hervortretende, überraschende Pracht; die schlagenden Effecte, die pikanten, Vieles in Ein Wort zusammendrängenden Schlüsse, die glänzenden Antithesen – alles das sind Eigenthümlichkeiten mehr der französischen Poesie (des Alexandriners) als der deutschen. Was der deutsche Geschmack verschmäht, epigrammatische Schlüsse, Eigennamen (zumal beim Reim), und Aehnliches, macht in der französischen, rednerischen Poesie oft einen großen Effect. So singt V. Hugo:

Ce siècle avait deux ans! Rome remplaçait Sparte,
Déjà Napoléon perçait sous Bonaparte, etc.
und wieder:
Tout en vous partageant l'empire d'Alexandre,
Vous avez peur d'une ombre et peur d'un peu de cendre!
und wir zweifeln nicht, daß diese Verse mit großem Beifall aufgenommen wurden, so wenig uns solche rhetorische Schläge einen eigentlich poetischen Eindruck machen. Wir Deutschen besitzen Unbefangenheit genug, um zu begreifen, daß den Franzosen leicht ihre Poesie mit solchen mehr ins Auge und ins Ohr fallenden Eigenthümlichkeiten als reicher und vollkommener erscheinen mag, als die deutsche; dagegen behaupten wir doch mit Zuversicht: die deutsche lyrische Poesie ist in ihren edelsten Productionen weit immaterieller, weit ätherischer und geistiger, dabei aber doch körnichter, prägnanter und tiefer, als die französische; sie besitzt jene kurzen, geheimnißvollen Zauberworte, welche aufzufinden die rednerische und geistreiche Poesie der Franzosen sich vergebens müht, und welche die tiefsten Ahnungen des Gemüths aufregen; sie legt einen unendlichen Gehalt von Tiefsinn, Phantasie und Seele nieder in den dem Umfang nach kleinsten Liedern – eine Gattung, welche sich bei den Franzosen meist nur durch ihre glückliche, graciöse Leichtigkeit, selten durch Tiefe, auszeichnet. Ihr Liederdichter, ihr Chansonnier par excellence, ist Beranger; das Verdienst seiner Lieder wird in Deutschland gewiß gebührend anerkannt, doch beruht es zum größten Theil überwiegend auf der glücklichen Form und dem französischen esprit; der denselben charakteristische Refrain bewährt häufig das eminente Talent, die Gewandtheit des Dichters, hat aber auch etwas Künstliches und Prosaisches an sich. Die durch den Gehalt bedeutendsten lyrischen Gattungen sind bei den Franzosen die Elegie und die Ode, so wie die größern (erzählenden oder beschreibenden) Gedichte in Alexandrinern, und hier stehen heutigen Tages Lamartine und Victor Hugo oben an. Die bisher auseinandergesetzten Umstände bringen es mit sich, daß die meisten solcher Oden und Elegien nicht in dem Grade schwach und leer seyn können, als es freilich eine Menge sogenannter Gedichte in Deutschland gibt; aber eine andere Frage ist, ob die französische lyrische Poesie der Gegenwart, mag sie immerhin des Schlechten weniger haben, auch nach der Seite des Trefflichen hin den Vorzug vor der deutschen behaupte, wie Marmier dieß so zuversichtlich annimmt.

(Beschluß folgt.)

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[0988/0012] das, was uns Deutsche als eine poetische Unvollkommenheit erscheint, in gewisser Art zu einem Vorzug zu erheben, so daß der gewöhnliche Leser ungern missen würde, was der strengere Kritiker verwerfen müßte. Gewiß ist: ohne Gedankenstoff, ohne Sprachfertigkeit und Bekanntschaft mit der Kunst des Versbaues kann es einem Franzosen nicht so leicht einfallen, sich zum Dichter aufzuwerfen, wie einem Deutschen. Denn leider wird bei uns das Dichten oft gar zu sehr als eine freie Kunst angesehen und betrieben. Eine augenblickliche Stimmung, eine Leidenschaft, ein flüchtiges Gefühl, eine aufgeraffte Anekdote geben einem jungen (oder auch wohl ältern) Dilettanten Veranlassung, ein Lied oder ein kleines erzählendes Gedicht zu verfertigen, in den leichtesten, losesten Sylbenmaaßen, mit sparsamen, unächten Reimen, mit sorglosester Vernachlässigung aller prosodischen Gesetze. In solchen Gedichten von Anfängern, oder solchen, die es immer bleiben, wird der Sprache, der Grammatik, der Prosodie und der Logik gespottet, oder es wird doch durchaus keine neue Anschauung, Empfindung oder Idee vorgebracht, und doch nimmt sich das Product manchmal aus wie ein Gedicht: „Zwar ein Thierchen gibt es nicht, Doch gibt es ein Gedichtchen.“ Um Prosa zu schreiben, sagt Goethe bei Eckermann einmal, dazu gehöre, daß man wirklich etwas zu sagen habe; bei der (lyrischen) Poesie ist dieß in gewissem Sinn weniger der Fall, d. h. bei der Poesie ist die Form schon etwas, und manchmal das Meiste, und ein an sich durchaus nicht neuer Gedanke kann doch poetisch ganz artig und interessant ausgesprochen werden. Durch die Form erhebt der ächte Dichter eine bekannte Idee, eine Empfindung, die Jeder gehabt haben mag, in eine höhere Potenz; der unberufene Dichter dagegen stutzt sie nur äußerlich zu, überkleidet sie mit einigen poetischen Floskeln und Lappen, denn freilich: difficile est, proprie communia dicere! Je näher nun unsers Erachtens die französische Poesie in mancher Hinsicht der Prosa steht oder stehen darf (von der sie sich dann wieder durch eine sonderbare Pruderie in der Wahl der Wörter und Ausdrücke zu entfernen strebt), um so mehr gilt von ihr das, was Goethe von der Prosa sagte: daß man Etwas zu sagen haben müsse, daß sie sich nicht so von selbst, gleichsam im Traum, mache, sich am Reim fortspinne; und auch aus diesem Grunde wird es weniger französische Dichterlinge geben. Die Zahl der Dilettanten muß kleiner seyn, und die besseren Dichter kommen weniger in den Fall, so leicht ein kleines Lied, ein Gedichtchen hinzuwerfen, wie der deutsche Dichter, der keinen solchen Anlauf zu nehmen gewohnt ist, wie ihn der, doch immer noch die Hauptform der französischen Poesie bildende Alexandriner mit seiner Grandezza und seinen, durch seinen Bau fast nothwendig geforderten epigrammatischen Antithesen erheischt. Um die Form des Alexandriners zu füllen, dazu gehört schon viel mehr Masse, so zu sagen, als ein leichtes deutsches Metrum zu fassen vermöchte. Frau v. Staël läßt der deutschen Sprache eine Gerechtigkeit widerfahren, die ihr Marmier, so fürchten wir nach den vorliegenden Proben, wohl verweigern dürfte; sie sagt: „Das Deutsche ist eine sehr glänzende Sprache für die Poesie, sehr reich in der Metaphysik, aber sehr positiv im Gespräch. Die französische Sprache dagegen ist wahrhaft reich nur in den Wendungen, welche die zartesten und feinsten Beziehungen und Verhältnisse des geselligen Lebens bezeichnen; sie ist arm und beschränkt in Allem, was der Phantasie und Philosophie angehört.“ Wir glauben das unserer Sprache gezollte Lob mit allem Recht annehmen zu dürfen, doch erfordert der Ausdruck „glänzend“ (brillante) eine genauere Bestimmung. Frau v. Staël sagt selbst bald darauf: „Obgleich der Sinn der deutschen Sätze oft erst am Ende klar wird, erlaubt doch die Construction nicht immer, einen Satz mit dem pikantesten Ausdruck zu schließen; und doch ist dieß eines der vorzüglichsten Mittel, in der Conversation Effect hervorzubringen. Man hört bei den Deutschen selten, was wir bons mots nennen; die Gedanken selbst muß man bewundern, nicht den äußern Glanz, den man ihnen gibt.“ Der Glanz der deutschen Poesie ist weit mehr die dem Ganzen gleichmäßig inwohnende, über Alles verbreitete, mit dem innersten Kern verschmolzene Schönheit, als eine in einzelnen Fulgurationen, so zu sagen sinnlich hervortretende, überraschende Pracht; die schlagenden Effecte, die pikanten, Vieles in Ein Wort zusammendrängenden Schlüsse, die glänzenden Antithesen – alles das sind Eigenthümlichkeiten mehr der französischen Poesie (des Alexandriners) als der deutschen. Was der deutsche Geschmack verschmäht, epigrammatische Schlüsse, Eigennamen (zumal beim Reim), und Aehnliches, macht in der französischen, rednerischen Poesie oft einen großen Effect. So singt V. Hugo: Ce siècle avait deux ans! Rome remplaçait Sparte, Déjà Napoléon perçait sous Bonaparte, etc. und wieder: Tout en vous partageant l'empire d'Alexandre, Vous avez peur d'une ombre et peur d'un peu de cendre! und wir zweifeln nicht, daß diese Verse mit großem Beifall aufgenommen wurden, so wenig uns solche rhetorische Schläge einen eigentlich poetischen Eindruck machen. Wir Deutschen besitzen Unbefangenheit genug, um zu begreifen, daß den Franzosen leicht ihre Poesie mit solchen mehr ins Auge und ins Ohr fallenden Eigenthümlichkeiten als reicher und vollkommener erscheinen mag, als die deutsche; dagegen behaupten wir doch mit Zuversicht: die deutsche lyrische Poesie ist in ihren edelsten Productionen weit immaterieller, weit ätherischer und geistiger, dabei aber doch körnichter, prägnanter und tiefer, als die französische; sie besitzt jene kurzen, geheimnißvollen Zauberworte, welche aufzufinden die rednerische und geistreiche Poesie der Franzosen sich vergebens müht, und welche die tiefsten Ahnungen des Gemüths aufregen; sie legt einen unendlichen Gehalt von Tiefsinn, Phantasie und Seele nieder in den dem Umfang nach kleinsten Liedern – eine Gattung, welche sich bei den Franzosen meist nur durch ihre glückliche, graciöse Leichtigkeit, selten durch Tiefe, auszeichnet. Ihr Liederdichter, ihr Chansonnier par excellence, ist Beranger; das Verdienst seiner Lieder wird in Deutschland gewiß gebührend anerkannt, doch beruht es zum größten Theil überwiegend auf der glücklichen Form und dem französischen esprit; der denselben charakteristische Refrain bewährt häufig das eminente Talent, die Gewandtheit des Dichters, hat aber auch etwas Künstliches und Prosaisches an sich. Die durch den Gehalt bedeutendsten lyrischen Gattungen sind bei den Franzosen die Elegie und die Ode, so wie die größern (erzählenden oder beschreibenden) Gedichte in Alexandrinern, und hier stehen heutigen Tages Lamartine und Victor Hugo oben an. Die bisher auseinandergesetzten Umstände bringen es mit sich, daß die meisten solcher Oden und Elegien nicht in dem Grade schwach und leer seyn können, als es freilich eine Menge sogenannter Gedichte in Deutschland gibt; aber eine andere Frage ist, ob die französische lyrische Poesie der Gegenwart, mag sie immerhin des Schlechten weniger haben, auch nach der Seite des Trefflichen hin den Vorzug vor der deutschen behaupte, wie Marmier dieß so zuversichtlich annimmt. (Beschluß folgt.)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 124. Augsburg, 3. Mai 1840, S. 0988. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_124_18400503/12>, abgerufen am 28.04.2024.