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Allgemeine Zeitung. Nr. 125. Augsburg, 4. Mai 1840.

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Frage nicht für reif halte, und diesen Grundsatz nicht antasten lassen wolle. Wenn übrigens der ofterwähnte Correspondent die Wechsel- und Handelsgesetzverhandlungen gelesen hätte, so hätte er wahrscheinlich auch nicht daran gezweifelt, "daß eine hinlängliche Anzahl solcher Specialitäten unter den Deputirten sey, die eine industrielle, mercantile oder financielle Frage gründlich zu erörtern vermögen." Daß nur "eine Verhandlung, die Religionsfrage, mit großer Einsicht, Ruhe und Würde geführt wurde", ist eine etwas starke Behauptung: die Discussionen über die Emancipation der Juden, über den nachträglichen Urbarialartikel, über die Feldpolizei, die Verpflegung des Militärs und eine Unzahl anderer Gegenstände waren eben so würdevoll und leidenschaftslos; im Grunde waren nur bei Einer Frage die Leidenschaften aufgeregt, bei der Wahl- und Redefreiheit, weil dieß die Frage war, an der sich die Parteien maßen. Um übrigens zu beweisen, daß es keine "Rodomontade" von mir war, als ich schrieb, der Adel in Ungarn wolle seine Privilegien auf alle Bewohner des Landes ausdehnen, will ich hier einige Thatsachen folgen lassen: Bihar (Deputirte Böthy) verlangt, daß das Recht, adeligen Grundbesitz zu erwerben, auf alle Bewohner des Landes ausgedehnt, daß bei der Besetzung der Aemter keine Rücksicht auf adelige oder unadelige Geburt genommen werde, daß alle Ungarn vor dem Gesetz gleich seyen und alle Lasten gleichförmig tragen, daß endlich die Repräsentation beim Landtag auf alle Classen der Bewohner ausgedehnt werde. Mehrere Comitate schlagen vor, der Adel solle die Municipalsteuern (cassa domestica) im Verhältniß seines Grundbesitzes mittragen; die Mehrheit der Comitate entschied, daß die Landtagskosten und Diäten der Adel auf sich nehme; ohne Widerspruch ward der Vorschlag angenommen, daß dem obersten Gerichtshof, dem Septemvirat, zwei städtische, wenn gleich unadelige Beisitzer beigegeben werden; daß bei den neu zu errichtenden Wechselgerichten in Hinsicht der Richter auf die Geburt keine Rücksicht genommen werde. - Der ungarische Adel fühlt es, daß die Zeit der Privilegien zu Ende gehe. ...

Sollte der oft erwähnte Correspondent glauben, daß seine Behauptungen durch alle diese Thatsachen noch nicht hinlänglich widerlegt seyen, so kann ich ihm noch ein zweitesmal mit einer viel längern Liste seiner irrigen Angaben dienen; um aber die Gränzen eines Zeitungsartikels nicht zu überschreiten, will ich noch kurz einige Hauptgrundsätze der Staatswissenschaft der pia desideria beleuchten. Sehr richtig bemerkt der Correspondent - denn, daß seine Artikel bei vielem Irrigen manches Richtige, und unendlich viel Geistreiches enthalten, will ich ihm gern zugeben - "es fehle dem Lande hauptsächlich ein kräftiger Bürgerstand" - um diesen nun zu erschaffen und zu heben, will er den Repräsentanten der geschlossenen Corporationen und Magistrate gleiche Stimmen mit den Deputirten der Comitate geben - meiner Ansicht nach hieße aber gerade dieß "die Kirche beim Thurm zu bauen anfangen." Wie ein kräftiges Bürgerthum zu erschaffen sey, dieß hat am besten Preußen gezeigt mit seiner berühmten Städteordnung; dieß ist der Weg, den die Ungarn für den angemessensten halten: die Bürger sollen erst Einfluß in ihre Communal- und Municipalangelegenheiten erhalten, erst ihre Stadt verwalten lernen, dann wollen wir ihnen gern einen größern Antheil an der Gesetzgebung geben. Daß es aber dem jetzigen Landtag Ernst sey mit dieser Aufgabe, das zeigte er, als er die Deputation zu ernennen beschloß, die bis zum nächsten Landtag die unumgänglichen Vorarbeiten zur Lösung dieser folgenreichen Frage beenden soll. Denn daß die jetzigen Vertreter der Städte, oder eigentlich ihrer Corporationen, nicht die Vertreter des Handels und der Industrie sind, das bewiesen sie hauptsächlich bei der Verhandlung über die Judenemancipation und die Handelsfreiheit, wo beide Anträge von den Comitatsdeputirten unterstützt, und von den Städtedeputirten bekämpft wurden. - Falscher aber und geradezu gefährlich ist die Grundidee der pia desideria. Der Verfasser von ihnen will, daß wir nicht nur unsere Civil- und Criminalgesetzgebung, sondern selbst die Coordination des Landtags und aller Municipalverhältnisse einer gründlichen Revision unterwerfen, denn stückweise Reformen und vereinzelte Maaßregeln dürften, seiner Ansicht zufolge, die vorhandene Verwirrung eher vermehren als vermindern. Der Verfasser will, daß wir, die sichere historische Basis verlassend, alles durch ein Jahrtausend Gegebene in Frage stellen, und die Gesetze auf einmal zu einem systematischen Ganzen verarbeiten, das dem Geist unserer Civilisation und den daraus entstandenen heutigen Bedürfnissen angepaßt und vom Lichte philosophischer Forschung durchdrungen werde; mit andern Worten, er ermahnt uns, das zu thun, was die Constituante und Assemblee legislative thun wollte; wir aber wissen, daß darauf der Nationalconvent folgte; wir wollen daher lieber dem Beispiel Englands mit seinen theilweisen ruhigen Reformen nacheifern, und haben eben deßhalb, nachdem der vorige Landtag vorzüglich das Verhältniß des Grundherrn zum Unterthanen regelte, und die jetzigen Wechsel- und Handelsgesetze ausarbeitete, bereits einen Ausschuß ernannt, der bis zum nächsten Landtag einen Criminalcodex und eine Gefängnißordnung ausarbeite, deren Mangel bei uns am meisten fühlbar ist. So gehen wir langsamer zwar, aber sicherer als es der Herr Correspondent rathet, auf dem Wege der Reformen vorwärts, ohne zu gleicher Zeit alle wunden Flecken zu berühren, alle Interessen zu kränken, alle Leidenschaften aufzuregen.

Mehr aber, als diese gänzlich unpraktische Ansicht des Verfassers über die Revision des Corpus juris, wundert es mich, daß er als Mann von so viel Geist nicht die ganze Menschheit überblickt, daß in seinen Augen nur im Occident etwas zu lernen ist, daß der ganze große Orient für ihn keine Institution hat, die würdig wäre den Blick des Staatsmannes zu fesseln. Wir Ungarn, auf der Brücke zwischen dem Occident und dem Orient, sind anderer Ansicht, und ich glaube, der Verfasser wäre es auch, wenn er mehr Rücksicht auf die zahlreichen Schriften der Engländer über Indien, auf Ritters Erdkunde, oder Urquhart's Turkey and its ressources genommen hätte; er würde finden, daß eine Institution dort besteht, die trotz dem furchtbaren Despotismus die Völker doch nicht untergehen läßt - dieß sind die verschiedenen Municipalinstitutionen, die auch der Ungar, so wie sie sich bei ihm aus der orientalischen Wurzel nationell entwickelten, als sein höchstes Kleinod bewahrt. Doch freilich liebt diese der Correspondent nicht, er klagt über "die paralysirte Stellung der Executivgewalt," ihn widert das selfgovernment der Comitate an, er ist ein Occidentale, er liebt die Centralisation. Denn dieß ist ja der große Gegensatz zwischen dem Osten und dem Westen: dort gilt noch das Individuum, die verschiedene Form der Municipalität, hier herrscht mehr oder minder bureaukratische Gleichförmigkeit, die Individualität verliert sich in der Masse, das Volk verflacht. - Ich war lange genug in Frankreich, um zu sehen, daß ein solcher Zustand kein wünschenswerther sey, daß es die Centralisation allein sey, die dieses unglückliche Land unfähig zur Freiheit mache und endlosen Convulsionen entgegenführe. In diesem Sinne, im Sinne der Municipalverfassung wünsche ich, daß Ungarn nie seine orientalische Richtung verliere, und dieß ist der ungarische Standpunkt, zu dem sich der Correspondent nicht erhob.

Und nun, noch einen frommen Wunsch für den Verfasser der pia desideria. Möge er noch oft ewig duftende Kränze großen

Frage nicht für reif halte, und diesen Grundsatz nicht antasten lassen wolle. Wenn übrigens der ofterwähnte Correspondent die Wechsel- und Handelsgesetzverhandlungen gelesen hätte, so hätte er wahrscheinlich auch nicht daran gezweifelt, „daß eine hinlängliche Anzahl solcher Specialitäten unter den Deputirten sey, die eine industrielle, mercantile oder financielle Frage gründlich zu erörtern vermögen.“ Daß nur „eine Verhandlung, die Religionsfrage, mit großer Einsicht, Ruhe und Würde geführt wurde“, ist eine etwas starke Behauptung: die Discussionen über die Emancipation der Juden, über den nachträglichen Urbarialartikel, über die Feldpolizei, die Verpflegung des Militärs und eine Unzahl anderer Gegenstände waren eben so würdevoll und leidenschaftslos; im Grunde waren nur bei Einer Frage die Leidenschaften aufgeregt, bei der Wahl- und Redefreiheit, weil dieß die Frage war, an der sich die Parteien maßen. Um übrigens zu beweisen, daß es keine „Rodomontade“ von mir war, als ich schrieb, der Adel in Ungarn wolle seine Privilegien auf alle Bewohner des Landes ausdehnen, will ich hier einige Thatsachen folgen lassen: Bihar (Deputirte Böthy) verlangt, daß das Recht, adeligen Grundbesitz zu erwerben, auf alle Bewohner des Landes ausgedehnt, daß bei der Besetzung der Aemter keine Rücksicht auf adelige oder unadelige Geburt genommen werde, daß alle Ungarn vor dem Gesetz gleich seyen und alle Lasten gleichförmig tragen, daß endlich die Repräsentation beim Landtag auf alle Classen der Bewohner ausgedehnt werde. Mehrere Comitate schlagen vor, der Adel solle die Municipalsteuern (cassa domestica) im Verhältniß seines Grundbesitzes mittragen; die Mehrheit der Comitate entschied, daß die Landtagskosten und Diäten der Adel auf sich nehme; ohne Widerspruch ward der Vorschlag angenommen, daß dem obersten Gerichtshof, dem Septemvirat, zwei städtische, wenn gleich unadelige Beisitzer beigegeben werden; daß bei den neu zu errichtenden Wechselgerichten in Hinsicht der Richter auf die Geburt keine Rücksicht genommen werde. – Der ungarische Adel fühlt es, daß die Zeit der Privilegien zu Ende gehe. ...

Sollte der oft erwähnte Correspondent glauben, daß seine Behauptungen durch alle diese Thatsachen noch nicht hinlänglich widerlegt seyen, so kann ich ihm noch ein zweitesmal mit einer viel längern Liste seiner irrigen Angaben dienen; um aber die Gränzen eines Zeitungsartikels nicht zu überschreiten, will ich noch kurz einige Hauptgrundsätze der Staatswissenschaft der pia desideria beleuchten. Sehr richtig bemerkt der Correspondent – denn, daß seine Artikel bei vielem Irrigen manches Richtige, und unendlich viel Geistreiches enthalten, will ich ihm gern zugeben – „es fehle dem Lande hauptsächlich ein kräftiger Bürgerstand“ – um diesen nun zu erschaffen und zu heben, will er den Repräsentanten der geschlossenen Corporationen und Magistrate gleiche Stimmen mit den Deputirten der Comitate geben – meiner Ansicht nach hieße aber gerade dieß „die Kirche beim Thurm zu bauen anfangen.“ Wie ein kräftiges Bürgerthum zu erschaffen sey, dieß hat am besten Preußen gezeigt mit seiner berühmten Städteordnung; dieß ist der Weg, den die Ungarn für den angemessensten halten: die Bürger sollen erst Einfluß in ihre Communal- und Municipalangelegenheiten erhalten, erst ihre Stadt verwalten lernen, dann wollen wir ihnen gern einen größern Antheil an der Gesetzgebung geben. Daß es aber dem jetzigen Landtag Ernst sey mit dieser Aufgabe, das zeigte er, als er die Deputation zu ernennen beschloß, die bis zum nächsten Landtag die unumgänglichen Vorarbeiten zur Lösung dieser folgenreichen Frage beenden soll. Denn daß die jetzigen Vertreter der Städte, oder eigentlich ihrer Corporationen, nicht die Vertreter des Handels und der Industrie sind, das bewiesen sie hauptsächlich bei der Verhandlung über die Judenemancipation und die Handelsfreiheit, wo beide Anträge von den Comitatsdeputirten unterstützt, und von den Städtedeputirten bekämpft wurden. – Falscher aber und geradezu gefährlich ist die Grundidee der pia desideria. Der Verfasser von ihnen will, daß wir nicht nur unsere Civil- und Criminalgesetzgebung, sondern selbst die Coordination des Landtags und aller Municipalverhältnisse einer gründlichen Revision unterwerfen, denn stückweise Reformen und vereinzelte Maaßregeln dürften, seiner Ansicht zufolge, die vorhandene Verwirrung eher vermehren als vermindern. Der Verfasser will, daß wir, die sichere historische Basis verlassend, alles durch ein Jahrtausend Gegebene in Frage stellen, und die Gesetze auf einmal zu einem systematischen Ganzen verarbeiten, das dem Geist unserer Civilisation und den daraus entstandenen heutigen Bedürfnissen angepaßt und vom Lichte philosophischer Forschung durchdrungen werde; mit andern Worten, er ermahnt uns, das zu thun, was die Constituante und Assemblée legislative thun wollte; wir aber wissen, daß darauf der Nationalconvent folgte; wir wollen daher lieber dem Beispiel Englands mit seinen theilweisen ruhigen Reformen nacheifern, und haben eben deßhalb, nachdem der vorige Landtag vorzüglich das Verhältniß des Grundherrn zum Unterthanen regelte, und die jetzigen Wechsel- und Handelsgesetze ausarbeitete, bereits einen Ausschuß ernannt, der bis zum nächsten Landtag einen Criminalcodex und eine Gefängnißordnung ausarbeite, deren Mangel bei uns am meisten fühlbar ist. So gehen wir langsamer zwar, aber sicherer als es der Herr Correspondent rathet, auf dem Wege der Reformen vorwärts, ohne zu gleicher Zeit alle wunden Flecken zu berühren, alle Interessen zu kränken, alle Leidenschaften aufzuregen.

Mehr aber, als diese gänzlich unpraktische Ansicht des Verfassers über die Revision des Corpus juris, wundert es mich, daß er als Mann von so viel Geist nicht die ganze Menschheit überblickt, daß in seinen Augen nur im Occident etwas zu lernen ist, daß der ganze große Orient für ihn keine Institution hat, die würdig wäre den Blick des Staatsmannes zu fesseln. Wir Ungarn, auf der Brücke zwischen dem Occident und dem Orient, sind anderer Ansicht, und ich glaube, der Verfasser wäre es auch, wenn er mehr Rücksicht auf die zahlreichen Schriften der Engländer über Indien, auf Ritters Erdkunde, oder Urquhart's Turkey and its ressources genommen hätte; er würde finden, daß eine Institution dort besteht, die trotz dem furchtbaren Despotismus die Völker doch nicht untergehen läßt – dieß sind die verschiedenen Municipalinstitutionen, die auch der Ungar, so wie sie sich bei ihm aus der orientalischen Wurzel nationell entwickelten, als sein höchstes Kleinod bewahrt. Doch freilich liebt diese der Correspondent nicht, er klagt über „die paralysirte Stellung der Executivgewalt,“ ihn widert das selfgovernment der Comitate an, er ist ein Occidentale, er liebt die Centralisation. Denn dieß ist ja der große Gegensatz zwischen dem Osten und dem Westen: dort gilt noch das Individuum, die verschiedene Form der Municipalität, hier herrscht mehr oder minder bureaukratische Gleichförmigkeit, die Individualität verliert sich in der Masse, das Volk verflacht. – Ich war lange genug in Frankreich, um zu sehen, daß ein solcher Zustand kein wünschenswerther sey, daß es die Centralisation allein sey, die dieses unglückliche Land unfähig zur Freiheit mache und endlosen Convulsionen entgegenführe. In diesem Sinne, im Sinne der Municipalverfassung wünsche ich, daß Ungarn nie seine orientalische Richtung verliere, und dieß ist der ungarische Standpunkt, zu dem sich der Correspondent nicht erhob.

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[0998/0014] Frage nicht für reif halte, und diesen Grundsatz nicht antasten lassen wolle. Wenn übrigens der ofterwähnte Correspondent die Wechsel- und Handelsgesetzverhandlungen gelesen hätte, so hätte er wahrscheinlich auch nicht daran gezweifelt, „daß eine hinlängliche Anzahl solcher Specialitäten unter den Deputirten sey, die eine industrielle, mercantile oder financielle Frage gründlich zu erörtern vermögen.“ Daß nur „eine Verhandlung, die Religionsfrage, mit großer Einsicht, Ruhe und Würde geführt wurde“, ist eine etwas starke Behauptung: die Discussionen über die Emancipation der Juden, über den nachträglichen Urbarialartikel, über die Feldpolizei, die Verpflegung des Militärs und eine Unzahl anderer Gegenstände waren eben so würdevoll und leidenschaftslos; im Grunde waren nur bei Einer Frage die Leidenschaften aufgeregt, bei der Wahl- und Redefreiheit, weil dieß die Frage war, an der sich die Parteien maßen. Um übrigens zu beweisen, daß es keine „Rodomontade“ von mir war, als ich schrieb, der Adel in Ungarn wolle seine Privilegien auf alle Bewohner des Landes ausdehnen, will ich hier einige Thatsachen folgen lassen: Bihar (Deputirte Böthy) verlangt, daß das Recht, adeligen Grundbesitz zu erwerben, auf alle Bewohner des Landes ausgedehnt, daß bei der Besetzung der Aemter keine Rücksicht auf adelige oder unadelige Geburt genommen werde, daß alle Ungarn vor dem Gesetz gleich seyen und alle Lasten gleichförmig tragen, daß endlich die Repräsentation beim Landtag auf alle Classen der Bewohner ausgedehnt werde. Mehrere Comitate schlagen vor, der Adel solle die Municipalsteuern (cassa domestica) im Verhältniß seines Grundbesitzes mittragen; die Mehrheit der Comitate entschied, daß die Landtagskosten und Diäten der Adel auf sich nehme; ohne Widerspruch ward der Vorschlag angenommen, daß dem obersten Gerichtshof, dem Septemvirat, zwei städtische, wenn gleich unadelige Beisitzer beigegeben werden; daß bei den neu zu errichtenden Wechselgerichten in Hinsicht der Richter auf die Geburt keine Rücksicht genommen werde. – Der ungarische Adel fühlt es, daß die Zeit der Privilegien zu Ende gehe. ... Sollte der oft erwähnte Correspondent glauben, daß seine Behauptungen durch alle diese Thatsachen noch nicht hinlänglich widerlegt seyen, so kann ich ihm noch ein zweitesmal mit einer viel längern Liste seiner irrigen Angaben dienen; um aber die Gränzen eines Zeitungsartikels nicht zu überschreiten, will ich noch kurz einige Hauptgrundsätze der Staatswissenschaft der pia desideria beleuchten. Sehr richtig bemerkt der Correspondent – denn, daß seine Artikel bei vielem Irrigen manches Richtige, und unendlich viel Geistreiches enthalten, will ich ihm gern zugeben – „es fehle dem Lande hauptsächlich ein kräftiger Bürgerstand“ – um diesen nun zu erschaffen und zu heben, will er den Repräsentanten der geschlossenen Corporationen und Magistrate gleiche Stimmen mit den Deputirten der Comitate geben – meiner Ansicht nach hieße aber gerade dieß „die Kirche beim Thurm zu bauen anfangen.“ Wie ein kräftiges Bürgerthum zu erschaffen sey, dieß hat am besten Preußen gezeigt mit seiner berühmten Städteordnung; dieß ist der Weg, den die Ungarn für den angemessensten halten: die Bürger sollen erst Einfluß in ihre Communal- und Municipalangelegenheiten erhalten, erst ihre Stadt verwalten lernen, dann wollen wir ihnen gern einen größern Antheil an der Gesetzgebung geben. Daß es aber dem jetzigen Landtag Ernst sey mit dieser Aufgabe, das zeigte er, als er die Deputation zu ernennen beschloß, die bis zum nächsten Landtag die unumgänglichen Vorarbeiten zur Lösung dieser folgenreichen Frage beenden soll. Denn daß die jetzigen Vertreter der Städte, oder eigentlich ihrer Corporationen, nicht die Vertreter des Handels und der Industrie sind, das bewiesen sie hauptsächlich bei der Verhandlung über die Judenemancipation und die Handelsfreiheit, wo beide Anträge von den Comitatsdeputirten unterstützt, und von den Städtedeputirten bekämpft wurden. – Falscher aber und geradezu gefährlich ist die Grundidee der pia desideria. Der Verfasser von ihnen will, daß wir nicht nur unsere Civil- und Criminalgesetzgebung, sondern selbst die Coordination des Landtags und aller Municipalverhältnisse einer gründlichen Revision unterwerfen, denn stückweise Reformen und vereinzelte Maaßregeln dürften, seiner Ansicht zufolge, die vorhandene Verwirrung eher vermehren als vermindern. Der Verfasser will, daß wir, die sichere historische Basis verlassend, alles durch ein Jahrtausend Gegebene in Frage stellen, und die Gesetze auf einmal zu einem systematischen Ganzen verarbeiten, das dem Geist unserer Civilisation und den daraus entstandenen heutigen Bedürfnissen angepaßt und vom Lichte philosophischer Forschung durchdrungen werde; mit andern Worten, er ermahnt uns, das zu thun, was die Constituante und Assemblée legislative thun wollte; wir aber wissen, daß darauf der Nationalconvent folgte; wir wollen daher lieber dem Beispiel Englands mit seinen theilweisen ruhigen Reformen nacheifern, und haben eben deßhalb, nachdem der vorige Landtag vorzüglich das Verhältniß des Grundherrn zum Unterthanen regelte, und die jetzigen Wechsel- und Handelsgesetze ausarbeitete, bereits einen Ausschuß ernannt, der bis zum nächsten Landtag einen Criminalcodex und eine Gefängnißordnung ausarbeite, deren Mangel bei uns am meisten fühlbar ist. So gehen wir langsamer zwar, aber sicherer als es der Herr Correspondent rathet, auf dem Wege der Reformen vorwärts, ohne zu gleicher Zeit alle wunden Flecken zu berühren, alle Interessen zu kränken, alle Leidenschaften aufzuregen. Mehr aber, als diese gänzlich unpraktische Ansicht des Verfassers über die Revision des Corpus juris, wundert es mich, daß er als Mann von so viel Geist nicht die ganze Menschheit überblickt, daß in seinen Augen nur im Occident etwas zu lernen ist, daß der ganze große Orient für ihn keine Institution hat, die würdig wäre den Blick des Staatsmannes zu fesseln. Wir Ungarn, auf der Brücke zwischen dem Occident und dem Orient, sind anderer Ansicht, und ich glaube, der Verfasser wäre es auch, wenn er mehr Rücksicht auf die zahlreichen Schriften der Engländer über Indien, auf Ritters Erdkunde, oder Urquhart's Turkey and its ressources genommen hätte; er würde finden, daß eine Institution dort besteht, die trotz dem furchtbaren Despotismus die Völker doch nicht untergehen läßt – dieß sind die verschiedenen Municipalinstitutionen, die auch der Ungar, so wie sie sich bei ihm aus der orientalischen Wurzel nationell entwickelten, als sein höchstes Kleinod bewahrt. Doch freilich liebt diese der Correspondent nicht, er klagt über „die paralysirte Stellung der Executivgewalt,“ ihn widert das selfgovernment der Comitate an, er ist ein Occidentale, er liebt die Centralisation. Denn dieß ist ja der große Gegensatz zwischen dem Osten und dem Westen: dort gilt noch das Individuum, die verschiedene Form der Municipalität, hier herrscht mehr oder minder bureaukratische Gleichförmigkeit, die Individualität verliert sich in der Masse, das Volk verflacht. – Ich war lange genug in Frankreich, um zu sehen, daß ein solcher Zustand kein wünschenswerther sey, daß es die Centralisation allein sey, die dieses unglückliche Land unfähig zur Freiheit mache und endlosen Convulsionen entgegenführe. In diesem Sinne, im Sinne der Municipalverfassung wünsche ich, daß Ungarn nie seine orientalische Richtung verliere, und dieß ist der ungarische Standpunkt, zu dem sich der Correspondent nicht erhob. Und nun, noch einen frommen Wunsch für den Verfasser der pia desideria. Möge er noch oft ewig duftende Kränze großen

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 125. Augsburg, 4. Mai 1840, S. 0998. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_125_18400504/14>, abgerufen am 28.04.2024.