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Allgemeine Zeitung. Nr. 165. Augsburg, 13. Juni 1840.

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Die "europäische Pentarchie" ist der letzte Ausdruck, die logisch correcte Anwendung des Socialrechts unserer Zeit, oder der politischen Erhaltungslehre des Jahrhunderts, auf die schwächeren Staaten Europa's überhaupt, und Deutschlands insbesondere. Ueber das Unzulässige und Macchiavellistische der neuen Doctrin sind wir voraus alle einverstanden, weil ungetrübter Fortbestand der gegenwärtigen Ordnung und unbedingtes Zurückstoßen aller revolutionären Neuerung im europäischen Haushalt, von woher sie immer komme, für Jedermann Gesetz und Bedürfniß ist. Aber der listige Pentarchist knüpft den Faden seines Gewebes an den unzerbrechlichen, gleichsam demantenen Ring des aller Creatur, Individuen wie Staaten, inwohnenden Strebens, unter dem Vorwande allgemeiner Ordnung und Sicherheit, den Genuß irdischer Vortheile selbstsüchtig auf die möglich kleinste Zahl, gleichsam hierarchisch zu beschränken. Sträubte sich nicht von jeher die verderbte und unverbesserliche Natur des Menschen gegen die Lehre, daß dem großen Haufen, d. i. dem Geringen, Uncultivirten und Armen, gleicher Antheil wie dem Hohen, Feinen, Reichen und Mächtigen am Genusse irdischer Güter, Rechte und Glückseligkeit gebühre; daß die Stimme des Schwachen und des Starken in Berathung, Lenkung und Schlichtung allgemeiner Angelegenheiten gleiches Gewicht besitze; daß hienieden schon Rang, Gradation, Ansehen und vorrechtlicher Genuß erlösche, und ein allgemeines Nivellirungsgesetz, wie eine Erdwalze, über die Oberfläche der Staaten hinstreife und alle Erhabenheiten abschlage, und alles Ueberragende unter die verflachte Rinde zurücktreibe? Diese Ausgleichung überläßt man für das jenseitige Leben Gott, für das diesseitige aber den Moralcompendien und der Schultheorie. In Praxi wird sich ihr der Mensch, wie er jetzt ist, freiwillig nie unterwerfen, und der "Damm wider das Anwogen der Massen gegen die obern Positionen" ist und bleibt die letzte Bedingung, unter welcher sich der schwache Mensch das Beisammenleben im Staatsverbande zu denken vermag. Erbittere man sich nicht über diese Rede. Warum soll man die Menschen besser malen als sie sind? Oder offenbart sich in Europa nicht jetzt mehr als je das unabweisbare Bedürfniß und Streben nach Schranke, Maaß und Zügel gegen die ungeordnet und wild operirende Kraft der vielen?

Die Revolution und der Demos haben die alte Ordnung in Europa unwiederbringlich vernichtet, und sämmtliche Völkerschaften dieses Welttheiles bilden von jetzt an einen gemeinschaftlichen Staatshaushalt mit Gesetzbuch, Familiencodex, Budget, Rangliste und Heer gegen den nivellirenden Furor des Tiers-Etat. Aber wer ist, und wie weit reicht in der neueuropäischen Gesellschaft der Tiers-Etat? Wer ist Volk? Wer Vornehm, Edelmann, Aristokrat? In der Antwort auf diese Fragen liegt das ärgste Gift und das für Deutsche verdammungswürdigste Argument des Pentarchisten. Seiner Meinung zufolge wären die kleinsten und kleineren Fürsten, die Staaten dritter und letzter Ordnung in Europa, gegenüber den großen Monarchien, Volk geworden, zählten unter den Tiers-Etat, und gälten - wenn es gestattet ist, den ganzen Gedanken unseres Feindes wiederzugeben - als Proletarier, bloßgestellt allen Lockungen des Ehrgeizes, der Ruhmsucht, der Gierde nach Genuß und Bedeutung, so wie des allen Kleinen angebornen Hanges die Stellung zu erhöhen und sich Größeren hinzugeben, wie weiland die übelberathenen Theilfürsten des alten Rurik-Staates in der Mongolen-Zeit. "Wollt ihr den Weltfrieden bewahren, so zügelt die Kleinen und beschränkt das Stimmrecht im großen Familienrath", gilt ihm jetzt als Wahrzeichen unserer Zeit und, so zu sagen, als Feldgeschrei für Europa.

Hierin erkennt man den Moskowiten und den Alleinherrschafts-Fanatismus einer Nation, die unter allen Völkern des Erdbodens am furchtbarsten durch die Polykoiranie gelitten hat. - Indessen ist freilich auch nicht zu verkennen, wie sich das öffentliche Leben in Europa allmählich vereinfacht, wie correct und natürlich die Bewegung wird, wie sich die Leidenschaften, eine nach der andern, fester Disciplin unterwerfen, und die Bürgschaften der Sicherheit bei Recht und Eigenthum mit jedem Decennium erstarken, weil de facto nur noch wenige Stimmen über öffentliche Dinge zu reden haben. Es war eine Zeit, da ein schlichter Edelmann in Europa den Landfrieden stören konnte. Diese Leutchen wurden endlich zur Ruhe gebracht. Wieder gab es eine Zeit, wo ein kleiner Fürst, getrieben durch die Begierde nach höherer Bedeutung, den Welttheil in Flammen setzte. Ob dieser Act aber auch schon verziehen und sein Resultat als wirkliches Facit und stehende Post auf ewig im europäischen Lebensbuch eingetragen und anerkannt sey, weiß Niemand, und kann hier nicht besprochen werden. Gewiß aber liegt es in der Zeit, solchen Anomalien auf immer vorzubeugen. Das "goldene Buch" ist geschlossen. Möge es keinen verdrießen, dessen Name darin nicht verzeichnet ist.

Der Pentarchist weiß so gut als die Gegner, daß die Fünf-Mächte und Executoren der neuen Ordnung unmöglich eine compacte, stätige, ewig friedlich vereinte Größe bilden, daß auch sie getrennte Interessen verfolgen, das Gleichgewicht eine Chimäre sey, und die Sucht, sich gegenseitig zu übervortheilen, den Großen nicht weniger inwohne als den Kleinen, und die res humanae sich unmöglich - gleich einer Planetenbahn - in mechanische Schranken zwängen lassen. Ohne Zweifel lacht der Pentarchist über solche Präceptorweisheit, weil er sicher ist, daß bei allem Conflict der Privatinteressen die Fünf ihren Bund gegen die anarchische Propaganda des "Demos", die ihre Kraft am liebsten auf dem Gebiete der Schwachen versucht, instinctmäßig auf lange Zukunft bewahren.

Es thut einem leid, gegen den Nationalinstinct seiner Heimath, für Massen und Socialzwang gleichsam das Wort zu reden. Aber die Zeit drängt, und das neue Europa, wie es scheint, duldet unsere Lebensweise nicht länger. "Lo voglio far io", sagte der selige Kaiser Franz, als die lombardischen Großen ihre Beihülfe im Regiment anboten. Lo vogliamo far noi, "wir sind mündig und stark genug für uns selbst zu sorgen", rufen auch wir Deutschen den unberufenen Mentoren von jenseits der Weichsel zu.

Häufig macht man jetzt den für die Kleinstaaten höchst ungünstigen Lehrsatz geltend: ein fester Damm, d. i. eine compacte Ländermasse am Rhein und Alpen, hätte 1793 die zerstörende Fluth französischer Demokratie von Europa abgehalten, und der Menschheit alle Gräuel und Leiden erspart, welche ihr die in Napoleon incarnirte Revolution gebracht. Nur ächt aristokratische Präponderanz vermöge das wilde Thier, den Demos, zu bändigen und, wie das Ungethüm der Apokalypse, im Abgrunde gefesselt zu halten. Was ist aber ächte Aristokratie? Bei überwiegender Stärke und vollem Bewußtseyn der Kraft, Sich-selbst-Maaß-geben, und dadurch überall und in Allem der erste seyn, ist Aristokratie im ächten Sinn, eine im Wechselspiel irdischen Staatslebens ganz neue Idee, eine moralische Revolution im erhabensten Styl, Schöpfung und Grundgedanke Alexanders I. Kein Eroberer, kein Volk der früheren Zeiten, am wenigsten Napoleon und seine Gallier kannten und begriffen sie. Diese Idee ächt aristokratischer Präponderanz ist geboren, sie lebt in

Die „europäische Pentarchie“ ist der letzte Ausdruck, die logisch correcte Anwendung des Socialrechts unserer Zeit, oder der politischen Erhaltungslehre des Jahrhunderts, auf die schwächeren Staaten Europa's überhaupt, und Deutschlands insbesondere. Ueber das Unzulässige und Macchiavellistische der neuen Doctrin sind wir voraus alle einverstanden, weil ungetrübter Fortbestand der gegenwärtigen Ordnung und unbedingtes Zurückstoßen aller revolutionären Neuerung im europäischen Haushalt, von woher sie immer komme, für Jedermann Gesetz und Bedürfniß ist. Aber der listige Pentarchist knüpft den Faden seines Gewebes an den unzerbrechlichen, gleichsam demantenen Ring des aller Creatur, Individuen wie Staaten, inwohnenden Strebens, unter dem Vorwande allgemeiner Ordnung und Sicherheit, den Genuß irdischer Vortheile selbstsüchtig auf die möglich kleinste Zahl, gleichsam hierarchisch zu beschränken. Sträubte sich nicht von jeher die verderbte und unverbesserliche Natur des Menschen gegen die Lehre, daß dem großen Haufen, d. i. dem Geringen, Uncultivirten und Armen, gleicher Antheil wie dem Hohen, Feinen, Reichen und Mächtigen am Genusse irdischer Güter, Rechte und Glückseligkeit gebühre; daß die Stimme des Schwachen und des Starken in Berathung, Lenkung und Schlichtung allgemeiner Angelegenheiten gleiches Gewicht besitze; daß hienieden schon Rang, Gradation, Ansehen und vorrechtlicher Genuß erlösche, und ein allgemeines Nivellirungsgesetz, wie eine Erdwalze, über die Oberfläche der Staaten hinstreife und alle Erhabenheiten abschlage, und alles Ueberragende unter die verflachte Rinde zurücktreibe? Diese Ausgleichung überläßt man für das jenseitige Leben Gott, für das diesseitige aber den Moralcompendien und der Schultheorie. In Praxi wird sich ihr der Mensch, wie er jetzt ist, freiwillig nie unterwerfen, und der „Damm wider das Anwogen der Massen gegen die obern Positionen“ ist und bleibt die letzte Bedingung, unter welcher sich der schwache Mensch das Beisammenleben im Staatsverbande zu denken vermag. Erbittere man sich nicht über diese Rede. Warum soll man die Menschen besser malen als sie sind? Oder offenbart sich in Europa nicht jetzt mehr als je das unabweisbare Bedürfniß und Streben nach Schranke, Maaß und Zügel gegen die ungeordnet und wild operirende Kraft der vielen?

Die Revolution und der Demos haben die alte Ordnung in Europa unwiederbringlich vernichtet, und sämmtliche Völkerschaften dieses Welttheiles bilden von jetzt an einen gemeinschaftlichen Staatshaushalt mit Gesetzbuch, Familiencodex, Budget, Rangliste und Heer gegen den nivellirenden Furor des Tiers-Etat. Aber wer ist, und wie weit reicht in der neueuropäischen Gesellschaft der Tiers-Etat? Wer ist Volk? Wer Vornehm, Edelmann, Aristokrat? In der Antwort auf diese Fragen liegt das ärgste Gift und das für Deutsche verdammungswürdigste Argument des Pentarchisten. Seiner Meinung zufolge wären die kleinsten und kleineren Fürsten, die Staaten dritter und letzter Ordnung in Europa, gegenüber den großen Monarchien, Volk geworden, zählten unter den Tiers-Etat, und gälten – wenn es gestattet ist, den ganzen Gedanken unseres Feindes wiederzugeben – als Proletarier, bloßgestellt allen Lockungen des Ehrgeizes, der Ruhmsucht, der Gierde nach Genuß und Bedeutung, so wie des allen Kleinen angebornen Hanges die Stellung zu erhöhen und sich Größeren hinzugeben, wie weiland die übelberathenen Theilfürsten des alten Rurik-Staates in der Mongolen-Zeit. „Wollt ihr den Weltfrieden bewahren, so zügelt die Kleinen und beschränkt das Stimmrecht im großen Familienrath“, gilt ihm jetzt als Wahrzeichen unserer Zeit und, so zu sagen, als Feldgeschrei für Europa.

Hierin erkennt man den Moskowiten und den Alleinherrschafts-Fanatismus einer Nation, die unter allen Völkern des Erdbodens am furchtbarsten durch die Polykoiranie gelitten hat. – Indessen ist freilich auch nicht zu verkennen, wie sich das öffentliche Leben in Europa allmählich vereinfacht, wie correct und natürlich die Bewegung wird, wie sich die Leidenschaften, eine nach der andern, fester Disciplin unterwerfen, und die Bürgschaften der Sicherheit bei Recht und Eigenthum mit jedem Decennium erstarken, weil de facto nur noch wenige Stimmen über öffentliche Dinge zu reden haben. Es war eine Zeit, da ein schlichter Edelmann in Europa den Landfrieden stören konnte. Diese Leutchen wurden endlich zur Ruhe gebracht. Wieder gab es eine Zeit, wo ein kleiner Fürst, getrieben durch die Begierde nach höherer Bedeutung, den Welttheil in Flammen setzte. Ob dieser Act aber auch schon verziehen und sein Resultat als wirkliches Facit und stehende Post auf ewig im europäischen Lebensbuch eingetragen und anerkannt sey, weiß Niemand, und kann hier nicht besprochen werden. Gewiß aber liegt es in der Zeit, solchen Anomalien auf immer vorzubeugen. Das „goldene Buch“ ist geschlossen. Möge es keinen verdrießen, dessen Name darin nicht verzeichnet ist.

Der Pentarchist weiß so gut als die Gegner, daß die Fünf-Mächte und Executoren der neuen Ordnung unmöglich eine compacte, stätige, ewig friedlich vereinte Größe bilden, daß auch sie getrennte Interessen verfolgen, das Gleichgewicht eine Chimäre sey, und die Sucht, sich gegenseitig zu übervortheilen, den Großen nicht weniger inwohne als den Kleinen, und die res humanae sich unmöglich – gleich einer Planetenbahn – in mechanische Schranken zwängen lassen. Ohne Zweifel lacht der Pentarchist über solche Präceptorweisheit, weil er sicher ist, daß bei allem Conflict der Privatinteressen die Fünf ihren Bund gegen die anarchische Propaganda des „Demos“, die ihre Kraft am liebsten auf dem Gebiete der Schwachen versucht, instinctmäßig auf lange Zukunft bewahren.

Es thut einem leid, gegen den Nationalinstinct seiner Heimath, für Massen und Socialzwang gleichsam das Wort zu reden. Aber die Zeit drängt, und das neue Europa, wie es scheint, duldet unsere Lebensweise nicht länger. „Lo voglio far io“, sagte der selige Kaiser Franz, als die lombardischen Großen ihre Beihülfe im Regiment anboten. Lo vogliamo far noi, „wir sind mündig und stark genug für uns selbst zu sorgen“, rufen auch wir Deutschen den unberufenen Mentoren von jenseits der Weichsel zu.

Häufig macht man jetzt den für die Kleinstaaten höchst ungünstigen Lehrsatz geltend: ein fester Damm, d. i. eine compacte Ländermasse am Rhein und Alpen, hätte 1793 die zerstörende Fluth französischer Demokratie von Europa abgehalten, und der Menschheit alle Gräuel und Leiden erspart, welche ihr die in Napoleon incarnirte Revolution gebracht. Nur ächt aristokratische Präponderanz vermöge das wilde Thier, den Demos, zu bändigen und, wie das Ungethüm der Apokalypse, im Abgrunde gefesselt zu halten. Was ist aber ächte Aristokratie? Bei überwiegender Stärke und vollem Bewußtseyn der Kraft, Sich-selbst-Maaß-geben, und dadurch überall und in Allem der erste seyn, ist Aristokratie im ächten Sinn, eine im Wechselspiel irdischen Staatslebens ganz neue Idee, eine moralische Revolution im erhabensten Styl, Schöpfung und Grundgedanke Alexanders I. Kein Eroberer, kein Volk der früheren Zeiten, am wenigsten Napoleon und seine Gallier kannten und begriffen sie. Diese Idee ächt aristokratischer Präponderanz ist geboren, sie lebt in

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[1314/0010] Die „europäische Pentarchie“ ist der letzte Ausdruck, die logisch correcte Anwendung des Socialrechts unserer Zeit, oder der politischen Erhaltungslehre des Jahrhunderts, auf die schwächeren Staaten Europa's überhaupt, und Deutschlands insbesondere. Ueber das Unzulässige und Macchiavellistische der neuen Doctrin sind wir voraus alle einverstanden, weil ungetrübter Fortbestand der gegenwärtigen Ordnung und unbedingtes Zurückstoßen aller revolutionären Neuerung im europäischen Haushalt, von woher sie immer komme, für Jedermann Gesetz und Bedürfniß ist. Aber der listige Pentarchist knüpft den Faden seines Gewebes an den unzerbrechlichen, gleichsam demantenen Ring des aller Creatur, Individuen wie Staaten, inwohnenden Strebens, unter dem Vorwande allgemeiner Ordnung und Sicherheit, den Genuß irdischer Vortheile selbstsüchtig auf die möglich kleinste Zahl, gleichsam hierarchisch zu beschränken. Sträubte sich nicht von jeher die verderbte und unverbesserliche Natur des Menschen gegen die Lehre, daß dem großen Haufen, d. i. dem Geringen, Uncultivirten und Armen, gleicher Antheil wie dem Hohen, Feinen, Reichen und Mächtigen am Genusse irdischer Güter, Rechte und Glückseligkeit gebühre; daß die Stimme des Schwachen und des Starken in Berathung, Lenkung und Schlichtung allgemeiner Angelegenheiten gleiches Gewicht besitze; daß hienieden schon Rang, Gradation, Ansehen und vorrechtlicher Genuß erlösche, und ein allgemeines Nivellirungsgesetz, wie eine Erdwalze, über die Oberfläche der Staaten hinstreife und alle Erhabenheiten abschlage, und alles Ueberragende unter die verflachte Rinde zurücktreibe? Diese Ausgleichung überläßt man für das jenseitige Leben Gott, für das diesseitige aber den Moralcompendien und der Schultheorie. In Praxi wird sich ihr der Mensch, wie er jetzt ist, freiwillig nie unterwerfen, und der „Damm wider das Anwogen der Massen gegen die obern Positionen“ ist und bleibt die letzte Bedingung, unter welcher sich der schwache Mensch das Beisammenleben im Staatsverbande zu denken vermag. Erbittere man sich nicht über diese Rede. Warum soll man die Menschen besser malen als sie sind? Oder offenbart sich in Europa nicht jetzt mehr als je das unabweisbare Bedürfniß und Streben nach Schranke, Maaß und Zügel gegen die ungeordnet und wild operirende Kraft der vielen? Die Revolution und der Demos haben die alte Ordnung in Europa unwiederbringlich vernichtet, und sämmtliche Völkerschaften dieses Welttheiles bilden von jetzt an einen gemeinschaftlichen Staatshaushalt mit Gesetzbuch, Familiencodex, Budget, Rangliste und Heer gegen den nivellirenden Furor des Tiers-Etat. Aber wer ist, und wie weit reicht in der neueuropäischen Gesellschaft der Tiers-Etat? Wer ist Volk? Wer Vornehm, Edelmann, Aristokrat? In der Antwort auf diese Fragen liegt das ärgste Gift und das für Deutsche verdammungswürdigste Argument des Pentarchisten. Seiner Meinung zufolge wären die kleinsten und kleineren Fürsten, die Staaten dritter und letzter Ordnung in Europa, gegenüber den großen Monarchien, Volk geworden, zählten unter den Tiers-Etat, und gälten – wenn es gestattet ist, den ganzen Gedanken unseres Feindes wiederzugeben – als Proletarier, bloßgestellt allen Lockungen des Ehrgeizes, der Ruhmsucht, der Gierde nach Genuß und Bedeutung, so wie des allen Kleinen angebornen Hanges die Stellung zu erhöhen und sich Größeren hinzugeben, wie weiland die übelberathenen Theilfürsten des alten Rurik-Staates in der Mongolen-Zeit. „Wollt ihr den Weltfrieden bewahren, so zügelt die Kleinen und beschränkt das Stimmrecht im großen Familienrath“, gilt ihm jetzt als Wahrzeichen unserer Zeit und, so zu sagen, als Feldgeschrei für Europa. Hierin erkennt man den Moskowiten und den Alleinherrschafts-Fanatismus einer Nation, die unter allen Völkern des Erdbodens am furchtbarsten durch die Polykoiranie gelitten hat. – Indessen ist freilich auch nicht zu verkennen, wie sich das öffentliche Leben in Europa allmählich vereinfacht, wie correct und natürlich die Bewegung wird, wie sich die Leidenschaften, eine nach der andern, fester Disciplin unterwerfen, und die Bürgschaften der Sicherheit bei Recht und Eigenthum mit jedem Decennium erstarken, weil de facto nur noch wenige Stimmen über öffentliche Dinge zu reden haben. Es war eine Zeit, da ein schlichter Edelmann in Europa den Landfrieden stören konnte. Diese Leutchen wurden endlich zur Ruhe gebracht. Wieder gab es eine Zeit, wo ein kleiner Fürst, getrieben durch die Begierde nach höherer Bedeutung, den Welttheil in Flammen setzte. Ob dieser Act aber auch schon verziehen und sein Resultat als wirkliches Facit und stehende Post auf ewig im europäischen Lebensbuch eingetragen und anerkannt sey, weiß Niemand, und kann hier nicht besprochen werden. Gewiß aber liegt es in der Zeit, solchen Anomalien auf immer vorzubeugen. Das „goldene Buch“ ist geschlossen. Möge es keinen verdrießen, dessen Name darin nicht verzeichnet ist. Der Pentarchist weiß so gut als die Gegner, daß die Fünf-Mächte und Executoren der neuen Ordnung unmöglich eine compacte, stätige, ewig friedlich vereinte Größe bilden, daß auch sie getrennte Interessen verfolgen, das Gleichgewicht eine Chimäre sey, und die Sucht, sich gegenseitig zu übervortheilen, den Großen nicht weniger inwohne als den Kleinen, und die res humanae sich unmöglich – gleich einer Planetenbahn – in mechanische Schranken zwängen lassen. Ohne Zweifel lacht der Pentarchist über solche Präceptorweisheit, weil er sicher ist, daß bei allem Conflict der Privatinteressen die Fünf ihren Bund gegen die anarchische Propaganda des „Demos“, die ihre Kraft am liebsten auf dem Gebiete der Schwachen versucht, instinctmäßig auf lange Zukunft bewahren. Es thut einem leid, gegen den Nationalinstinct seiner Heimath, für Massen und Socialzwang gleichsam das Wort zu reden. Aber die Zeit drängt, und das neue Europa, wie es scheint, duldet unsere Lebensweise nicht länger. „Lo voglio far io“, sagte der selige Kaiser Franz, als die lombardischen Großen ihre Beihülfe im Regiment anboten. Lo vogliamo far noi, „wir sind mündig und stark genug für uns selbst zu sorgen“, rufen auch wir Deutschen den unberufenen Mentoren von jenseits der Weichsel zu. Häufig macht man jetzt den für die Kleinstaaten höchst ungünstigen Lehrsatz geltend: ein fester Damm, d. i. eine compacte Ländermasse am Rhein und Alpen, hätte 1793 die zerstörende Fluth französischer Demokratie von Europa abgehalten, und der Menschheit alle Gräuel und Leiden erspart, welche ihr die in Napoleon incarnirte Revolution gebracht. Nur ächt aristokratische Präponderanz vermöge das wilde Thier, den Demos, zu bändigen und, wie das Ungethüm der Apokalypse, im Abgrunde gefesselt zu halten. Was ist aber ächte Aristokratie? Bei überwiegender Stärke und vollem Bewußtseyn der Kraft, Sich-selbst-Maaß-geben, und dadurch überall und in Allem der erste seyn, ist Aristokratie im ächten Sinn, eine im Wechselspiel irdischen Staatslebens ganz neue Idee, eine moralische Revolution im erhabensten Styl, Schöpfung und Grundgedanke Alexanders I. Kein Eroberer, kein Volk der früheren Zeiten, am wenigsten Napoleon und seine Gallier kannten und begriffen sie. Diese Idee ächt aristokratischer Präponderanz ist geboren, sie lebt in

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 165. Augsburg, 13. Juni 1840, S. 1314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_165_18400613/10>, abgerufen am 28.04.2024.