Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 165. Augsburg, 13. Juni 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

den Gemüthern der Bewohner Europa's. Aber wer möchte chronologisch die Epochen ihrer Kindheit, ihrer Blüthe und vollen Entwicklung berechnen? Nach der Lehre des Pentarchisten verbündet sie die Action der moralischen Kraft über die physische, will nicht durch Heere und Flotten, nicht durch "drückende Sequestrationen und Embargos", sondern providentiell und gleichsam kirchlich das Böse dämmen. Der Gedanke ist von exuberanter Fülle, ein wahrhaft sociales Christenthum, dehnbar, weich, permanent, und die geheimsten Falten europäischen Staatslebens um so tiefer durchdringend, da er die bankerutte Idee effectiver Volkssouveränetät ersetzt, und in seiner Coincidenz mit dem Evangelium eine unberechenbare Zukunft im Schooße trägt.

Uns Deutsche schreckt nur die zu merkbare Hast der Apostel des neuen Bundes, ihre Glückseligkeitstheorie auf germanischen Boden herüberzupflanzen. Unruhig fragt man, ob die Rolle, die geistige Tochter des frommen Slaven-Imperators zu schirmen, großzuziehen und sie als Leibgarden politischer Gerechtigkeit siegreich im Mittelpunkt Europa's zu inthronisiren, durch ein Decret der Vorsehung, wie sie behaupten, wirklich den Moskowiten zugefallen sey? Ideen mit universellem Fruchtkeim, meint man bei uns, könne nur Deutschland hervorbringen und standhaft entwickeln; Germanien sey ja vorzugsweise das Land der Ideen! Uncultur, Halbbarbar, Geistesöde, metallisch erstarrter und für Keime ächter Humanität ewig verschlossener Boden sind, russischen Lobrednern gegenüber, die Lieblingsausdrücke germanischer Philautie. Gerade in diesem Punkte stehen sich die deutschen Urtheile am schroffsten gegenüber.

Rußland ist ein universeller, militärisch disciplinirter, kolossaler Kirchenstaat, eine Buß- und Thränen-Anstalt zu sittlicher Restauration einer corrupten und im Sumpfe materieller Interessen sich allmählich verschlammenden Welt. Das elende Krämerleben in Europa erzeugt allenthalben Ekel, Lebensüberdruß, Selbstmord und verzagten Sinn bei üppigen Tafeln und vollen Truhen. Seelenleiden, Sorge und Kampf gegen drohende Trübsal und Erschütterung befestigen allein die öffentlichen Charaktere, stählen das Gemüth und bewahren vor gänzlichem Ersterben aller moralischen Kraft. Es ist nun einmal nicht vergönnt, daß der Mensch sorgenlos und glücklich sey!

Nicht Graf Nesselrode und seine Agenten, nicht der Kriegsminister Paskjewitsch und seine streitbaren Banden, sondern das anatolische Glaubensbekenntniß und die alte Reichsfahne Moskoviens in der Mongolenzeit, mit der Dornenkrone, rücken gegen den Occident, und die "europäische Pentarchie" ist das Manifest des moskovischen Apostolats.

Ich glaube nicht, daß die durch und durch säcularisirten West-Europäer Wesen und Charakter der politisch-religiösen Bewegung hinter der Weichsel, daß sie Nerv und Schnellkraft des neuen byzantinisch-russischen Chaliphats erkennen. Es ist die große Reaction der morgenländischen Kirche gegen die lateinische Christenheit, deren Angriffe auf russisches Kirchenthum um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, als Alexander Newski Großfürst war, auf Befehl des päpstlichen Stuhles durch den Schweden-König Erichson am finnischen Meerbusen begannen, durch die Schwertritter in Livland, und durch die katholischen Polen auf der langen Strecke zwischen dem baltischen und schwarzen Meere mit Unverstand, Härte und Grausamkeit durch Jahrhunderte fortliefen, und endlich mit einem allgemeinen Heranwälzen des von Napoleon unterjochten lateinischen Abendlandes ihren Endpunkt erreichten. Die Invasion von 1812 galt bei dem frommen Russen-Volk wie ein Religionskrieg, und ohne Zweifel hat die Nation nur in der Kraft ihres Glaubens die Gefahr überstanden. Geduld, Märtyrerblut und Heldenthum der altgläubigen Menge haben wider Scandinavier, Polen und Germanen Reich, Kirche und Nation gerettet, und aus dem glorreichen Sieg der orthodoxen Kirche ist Thron und Dynastie der Romanow hervorgegangen. Daher ein unauflöslicher Cement von Blut, Sieg und Seelenentzücken zwischen geistlichem und weltlichem Regiment dem Reiche Moskovien auf unabsehliche Zeiten Nahrung und Stärkung gibt.

Es liegt in diesem russischen, von innen heraus langsam anwachsenden Kirchen-Koloß etwas Unabwendbares. Nur kirchlich, d. i. mit denselben Mitteln, die ihn zu Sieg und Eroberung treiben, kann man entgegenstreiten. - Es ist der Kampf der heiligen Stühle von Rom und Byzanz. Auf welcher Seite ist nun Einheit, Kraft, Feuermuth, Klugheit und Disciplin? Bereits hat Michael Cärullarius in Litthauen und Klein-Rußland einen großen Sieg davongetragen. Der Kampf ist jetzt an der Weichsel und nähert sich Deutschland. Wie lange wird und kann dieser weiland classische Boden der römischen Kirche heute die Sache Leo's IX vertheidigen? Muß noch einmal die "ewige Stadt" die Geister in Europa zum Widerstand entzünden? Zwingt vielleicht die wachsende Gefahr vor slavisch-griechischem Kirchenthum West-Europa noch einmal zu einer großen innern Einigung? So viel uns bekannt, hat keine in Deutschland erschienene Diatribe die Pentarchie von dieser Seite betrachtet und den Abschnitt "Rußland" in diesem Sinne geprüft. Sagt der Pentarchist nicht ausdrücklich: "Fundament des russischen Reichs sey die griechische Kirche;" in Rußland sey die weltliche Macht - ohne die Insignien abzulegen - kirchlich geworden, übe der Czaar - zugleich Pontifex und Generalissimus - eine geheime, die Gemüther in ihren Tiefen ergreifende und erschütternde Macht, sey die Kirche Nation, und alles Sonderleben ausgelöscht; man leide, dulde, arbeite und entbehre gemeinschaftlich für das große Nationalziel, Sieg und Triumph der griechisch-russischen Kirche! - Diese Willenseinheitlegt sich in Rußland weniger mit Gewalt von außen her auf die Masse, siequillt von innen heraus, weil den robusten, langgestreckten, homogen erbauten Körper der moskovischen Race Eine Seele belebt, aber eine Seele voll Energie und Intelligenz, voll Heiterkeit und leichten Sinnes. - In Moskovien gilt die Maxime: der Mensch, besonders die arbeitende Classe, sey - horribile dictu - nicht des Vergnügens wegen auf der Erde. Der Spruch trifft aber eben so gut die Privilegirten, insbesondere den Czaar und die Instrumente seiner Macht. Vom kaiserlichen Prunksaal bis zur ärmlichsten Hütte herab - dessen sey man überzeugt - genießt in Rußland so zu sagen fast kein menschliches Wesen in Ruhe seines Schlafes oder ergibt sich sorglos den Freuden des Mahles,
Tantus amor florum, et generandi gloria mellis!
Selbst die dem Menschen zu Hülfe und Nutzen beigesellten Hausthiere theilen Zucht und Disciplin, und jenes hastige, aufgeregte, stürmische, uns langsamen Germanen so innig verhaßte, eilfertige und unermüdliche Wesen der Moskowiter.

Wort und That, Theorie und Praxis, Schein und Wesen standen sich einst in Rußland und Polen, heute aber, da das katholische Polen Todes verblichen, stehen sich dieselben Elemente in Rußland und Deutschland feindlich gegenüber.

(Beschluß folgt.)

Die Kehrseite der Pentarchie.

Die Münchener "historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland" haben der Betrachtung des im vorhergehenden

den Gemüthern der Bewohner Europa's. Aber wer möchte chronologisch die Epochen ihrer Kindheit, ihrer Blüthe und vollen Entwicklung berechnen? Nach der Lehre des Pentarchisten verbündet sie die Action der moralischen Kraft über die physische, will nicht durch Heere und Flotten, nicht durch „drückende Sequestrationen und Embargos“, sondern providentiell und gleichsam kirchlich das Böse dämmen. Der Gedanke ist von exuberanter Fülle, ein wahrhaft sociales Christenthum, dehnbar, weich, permanent, und die geheimsten Falten europäischen Staatslebens um so tiefer durchdringend, da er die bankerutte Idee effectiver Volkssouveränetät ersetzt, und in seiner Coincidenz mit dem Evangelium eine unberechenbare Zukunft im Schooße trägt.

Uns Deutsche schreckt nur die zu merkbare Hast der Apostel des neuen Bundes, ihre Glückseligkeitstheorie auf germanischen Boden herüberzupflanzen. Unruhig fragt man, ob die Rolle, die geistige Tochter des frommen Slaven-Imperators zu schirmen, großzuziehen und sie als Leibgarden politischer Gerechtigkeit siegreich im Mittelpunkt Europa's zu inthronisiren, durch ein Decret der Vorsehung, wie sie behaupten, wirklich den Moskowiten zugefallen sey? Ideen mit universellem Fruchtkeim, meint man bei uns, könne nur Deutschland hervorbringen und standhaft entwickeln; Germanien sey ja vorzugsweise das Land der Ideen! Uncultur, Halbbarbar, Geistesöde, metallisch erstarrter und für Keime ächter Humanität ewig verschlossener Boden sind, russischen Lobrednern gegenüber, die Lieblingsausdrücke germanischer Philautie. Gerade in diesem Punkte stehen sich die deutschen Urtheile am schroffsten gegenüber.

Rußland ist ein universeller, militärisch disciplinirter, kolossaler Kirchenstaat, eine Buß- und Thränen-Anstalt zu sittlicher Restauration einer corrupten und im Sumpfe materieller Interessen sich allmählich verschlammenden Welt. Das elende Krämerleben in Europa erzeugt allenthalben Ekel, Lebensüberdruß, Selbstmord und verzagten Sinn bei üppigen Tafeln und vollen Truhen. Seelenleiden, Sorge und Kampf gegen drohende Trübsal und Erschütterung befestigen allein die öffentlichen Charaktere, stählen das Gemüth und bewahren vor gänzlichem Ersterben aller moralischen Kraft. Es ist nun einmal nicht vergönnt, daß der Mensch sorgenlos und glücklich sey!

Nicht Graf Nesselrode und seine Agenten, nicht der Kriegsminister Paskjewitsch und seine streitbaren Banden, sondern das anatolische Glaubensbekenntniß und die alte Reichsfahne Moskoviens in der Mongolenzeit, mit der Dornenkrone, rücken gegen den Occident, und die „europäische Pentarchie“ ist das Manifest des moskovischen Apostolats.

Ich glaube nicht, daß die durch und durch säcularisirten West-Europäer Wesen und Charakter der politisch-religiösen Bewegung hinter der Weichsel, daß sie Nerv und Schnellkraft des neuen byzantinisch-russischen Chaliphats erkennen. Es ist die große Reaction der morgenländischen Kirche gegen die lateinische Christenheit, deren Angriffe auf russisches Kirchenthum um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, als Alexander Newski Großfürst war, auf Befehl des päpstlichen Stuhles durch den Schweden-König Erichson am finnischen Meerbusen begannen, durch die Schwertritter in Livland, und durch die katholischen Polen auf der langen Strecke zwischen dem baltischen und schwarzen Meere mit Unverstand, Härte und Grausamkeit durch Jahrhunderte fortliefen, und endlich mit einem allgemeinen Heranwälzen des von Napoleon unterjochten lateinischen Abendlandes ihren Endpunkt erreichten. Die Invasion von 1812 galt bei dem frommen Russen-Volk wie ein Religionskrieg, und ohne Zweifel hat die Nation nur in der Kraft ihres Glaubens die Gefahr überstanden. Geduld, Märtyrerblut und Heldenthum der altgläubigen Menge haben wider Scandinavier, Polen und Germanen Reich, Kirche und Nation gerettet, und aus dem glorreichen Sieg der orthodoxen Kirche ist Thron und Dynastie der Romanow hervorgegangen. Daher ein unauflöslicher Cement von Blut, Sieg und Seelenentzücken zwischen geistlichem und weltlichem Regiment dem Reiche Moskovien auf unabsehliche Zeiten Nahrung und Stärkung gibt.

Es liegt in diesem russischen, von innen heraus langsam anwachsenden Kirchen-Koloß etwas Unabwendbares. Nur kirchlich, d. i. mit denselben Mitteln, die ihn zu Sieg und Eroberung treiben, kann man entgegenstreiten. – Es ist der Kampf der heiligen Stühle von Rom und Byzanz. Auf welcher Seite ist nun Einheit, Kraft, Feuermuth, Klugheit und Disciplin? Bereits hat Michael Cärullarius in Litthauen und Klein-Rußland einen großen Sieg davongetragen. Der Kampf ist jetzt an der Weichsel und nähert sich Deutschland. Wie lange wird und kann dieser weiland classische Boden der römischen Kirche heute die Sache Leo's IX vertheidigen? Muß noch einmal die „ewige Stadt“ die Geister in Europa zum Widerstand entzünden? Zwingt vielleicht die wachsende Gefahr vor slavisch-griechischem Kirchenthum West-Europa noch einmal zu einer großen innern Einigung? So viel uns bekannt, hat keine in Deutschland erschienene Diatribe die Pentarchie von dieser Seite betrachtet und den Abschnitt „Rußland“ in diesem Sinne geprüft. Sagt der Pentarchist nicht ausdrücklich: „Fundament des russischen Reichs sey die griechische Kirche;“ in Rußland sey die weltliche Macht – ohne die Insignien abzulegen – kirchlich geworden, übe der Czaar – zugleich Pontifex und Generalissimus – eine geheime, die Gemüther in ihren Tiefen ergreifende und erschütternde Macht, sey die Kirche Nation, und alles Sonderleben ausgelöscht; man leide, dulde, arbeite und entbehre gemeinschaftlich für das große Nationalziel, Sieg und Triumph der griechisch-russischen Kirche! – Diese Willenseinheitlegt sich in Rußland weniger mit Gewalt von außen her auf die Masse, siequillt von innen heraus, weil den robusten, langgestreckten, homogen erbauten Körper der moskovischen Race Eine Seele belebt, aber eine Seele voll Energie und Intelligenz, voll Heiterkeit und leichten Sinnes. – In Moskovien gilt die Maxime: der Mensch, besonders die arbeitende Classe, sey – horribile dictu – nicht des Vergnügens wegen auf der Erde. Der Spruch trifft aber eben so gut die Privilegirten, insbesondere den Czaar und die Instrumente seiner Macht. Vom kaiserlichen Prunksaal bis zur ärmlichsten Hütte herab – dessen sey man überzeugt – genießt in Rußland so zu sagen fast kein menschliches Wesen in Ruhe seines Schlafes oder ergibt sich sorglos den Freuden des Mahles,
Tantus amor florum, et generandi gloria mellis!
Selbst die dem Menschen zu Hülfe und Nutzen beigesellten Hausthiere theilen Zucht und Disciplin, und jenes hastige, aufgeregte, stürmische, uns langsamen Germanen so innig verhaßte, eilfertige und unermüdliche Wesen der Moskowiter.

Wort und That, Theorie und Praxis, Schein und Wesen standen sich einst in Rußland und Polen, heute aber, da das katholische Polen Todes verblichen, stehen sich dieselben Elemente in Rußland und Deutschland feindlich gegenüber.

(Beschluß folgt.)

Die Kehrseite der Pentarchie.

Die Münchener „historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland“ haben der Betrachtung des im vorhergehenden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0011" n="1315"/>
den Gemüthern der Bewohner Europa's. Aber wer möchte chronologisch die Epochen ihrer Kindheit, ihrer Blüthe und vollen Entwicklung berechnen? Nach der Lehre des Pentarchisten verbündet sie die Action der <hi rendition="#g">moralischen</hi> Kraft über die <hi rendition="#g">physische</hi>, will nicht durch Heere und Flotten, nicht durch &#x201E;drückende Sequestrationen und Embargos&#x201C;, sondern providentiell und gleichsam kirchlich das Böse dämmen. Der Gedanke ist von exuberanter Fülle, ein wahrhaft sociales Christenthum, dehnbar, weich, permanent, und die geheimsten Falten europäischen Staatslebens um so tiefer durchdringend, da er die bankerutte Idee effectiver Volkssouveränetät ersetzt, und in seiner Coincidenz mit dem Evangelium eine unberechenbare Zukunft im Schooße trägt.</p><lb/>
        <p>Uns Deutsche schreckt nur die zu merkbare Hast der Apostel des neuen Bundes, ihre Glückseligkeitstheorie auf germanischen Boden herüberzupflanzen. Unruhig fragt man, ob die Rolle, die geistige Tochter des frommen Slaven-Imperators zu schirmen, großzuziehen und sie als Leibgarden politischer Gerechtigkeit siegreich im Mittelpunkt Europa's zu inthronisiren, durch ein Decret der Vorsehung, wie sie behaupten, wirklich den Moskowiten zugefallen sey? Ideen mit universellem Fruchtkeim, meint man bei uns, könne nur Deutschland hervorbringen und standhaft entwickeln; Germanien sey ja vorzugsweise das Land der Ideen! Uncultur, Halbbarbar, Geistesöde, metallisch erstarrter und für Keime ächter Humanität ewig verschlossener Boden sind, russischen Lobrednern gegenüber, die Lieblingsausdrücke germanischer Philautie. Gerade in diesem Punkte stehen sich die deutschen Urtheile am schroffsten gegenüber.</p><lb/>
        <p>Rußland ist ein universeller, militärisch disciplinirter, kolossaler <hi rendition="#g">Kirchenstaat</hi>, eine Buß- und Thränen-Anstalt zu sittlicher Restauration einer corrupten und im Sumpfe materieller Interessen sich allmählich verschlammenden Welt. Das elende Krämerleben in Europa erzeugt allenthalben Ekel, Lebensüberdruß, Selbstmord und verzagten Sinn bei üppigen Tafeln und vollen Truhen. Seelenleiden, Sorge und Kampf gegen drohende Trübsal und Erschütterung befestigen allein die öffentlichen Charaktere, stählen das Gemüth und bewahren vor gänzlichem Ersterben aller moralischen Kraft. Es ist nun einmal nicht vergönnt, daß der Mensch sorgenlos und glücklich sey!</p><lb/>
        <p>Nicht Graf Nesselrode und seine Agenten, nicht der Kriegsminister <hi rendition="#g">Paskjewitsch</hi> und seine streitbaren Banden, sondern das anatolische Glaubensbekenntniß und die alte Reichsfahne Moskoviens in der Mongolenzeit, mit der Dornenkrone, rücken gegen den Occident, und die &#x201E;europäische Pentarchie&#x201C; ist das Manifest des moskovischen Apostolats.</p><lb/>
        <p>Ich glaube nicht, daß die durch und durch säcularisirten West-Europäer Wesen und Charakter der politisch-religiösen Bewegung hinter der Weichsel, daß sie Nerv und Schnellkraft des neuen byzantinisch-russischen Chaliphats erkennen. Es ist die große Reaction der morgenländischen Kirche gegen die lateinische Christenheit, deren Angriffe auf russisches Kirchenthum um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, als Alexander Newski Großfürst war, auf Befehl des päpstlichen Stuhles durch den Schweden-König Erichson am finnischen Meerbusen begannen, durch die Schwertritter in Livland, und durch die katholischen Polen auf der langen Strecke zwischen dem baltischen und schwarzen Meere mit Unverstand, Härte und Grausamkeit durch Jahrhunderte fortliefen, und endlich mit einem allgemeinen Heranwälzen des von Napoleon unterjochten lateinischen Abendlandes ihren Endpunkt erreichten. Die Invasion von 1812 galt bei dem frommen Russen-Volk wie ein Religionskrieg, und ohne Zweifel hat die Nation nur in der Kraft ihres Glaubens die Gefahr überstanden. Geduld, Märtyrerblut und Heldenthum der altgläubigen Menge haben wider Scandinavier, Polen und Germanen Reich, Kirche und Nation gerettet, und aus dem glorreichen Sieg der orthodoxen Kirche ist Thron und Dynastie der <hi rendition="#g">Romanow</hi> hervorgegangen. Daher ein unauflöslicher Cement von Blut, Sieg und Seelenentzücken zwischen geistlichem und weltlichem Regiment dem Reiche Moskovien auf unabsehliche Zeiten Nahrung und Stärkung gibt.</p><lb/>
        <p>Es liegt in diesem russischen, von innen heraus langsam anwachsenden Kirchen-Koloß etwas Unabwendbares. Nur kirchlich, d. i. mit denselben Mitteln, die ihn zu Sieg und Eroberung treiben, kann man entgegenstreiten. &#x2013; Es ist der Kampf der heiligen Stühle von <hi rendition="#g">Rom</hi> und <hi rendition="#g">Byzanz</hi>. Auf welcher Seite ist nun Einheit, Kraft, Feuermuth, Klugheit und Disciplin? Bereits hat <hi rendition="#g">Michael Cärullarius</hi> in Litthauen und Klein-Rußland einen großen Sieg davongetragen. Der Kampf ist jetzt an der Weichsel und nähert sich Deutschland. Wie lange wird und kann dieser weiland classische Boden der römischen Kirche heute die Sache <hi rendition="#g">Leo</hi>'s IX vertheidigen? Muß noch einmal die &#x201E;ewige Stadt&#x201C; die Geister in Europa zum Widerstand entzünden? Zwingt vielleicht die wachsende Gefahr vor slavisch-griechischem Kirchenthum West-Europa noch einmal zu einer großen innern Einigung? So viel uns bekannt, hat keine in Deutschland erschienene Diatribe die Pentarchie von dieser Seite betrachtet und den Abschnitt &#x201E;Rußland&#x201C; in diesem Sinne geprüft. Sagt der Pentarchist nicht ausdrücklich: &#x201E;Fundament des russischen Reichs sey die griechische Kirche;&#x201C; in Rußland sey die weltliche Macht &#x2013; ohne die Insignien abzulegen &#x2013; kirchlich geworden, übe der Czaar &#x2013; zugleich Pontifex und Generalissimus &#x2013; eine geheime, die Gemüther in ihren Tiefen ergreifende und erschütternde Macht, sey die Kirche Nation, und alles Sonderleben ausgelöscht; man leide, dulde, arbeite und entbehre gemeinschaftlich für das große Nationalziel, Sieg und Triumph der griechisch-russischen Kirche! &#x2013; Diese Willenseinheitlegt sich in Rußland weniger mit Gewalt von außen her auf die Masse, siequillt von innen heraus, weil den robusten, langgestreckten, homogen erbauten Körper der moskovischen Race Eine Seele belebt, aber eine Seele voll Energie und Intelligenz, voll Heiterkeit und leichten Sinnes. &#x2013; In Moskovien gilt die Maxime: der Mensch, besonders die arbeitende Classe, sey &#x2013; horribile dictu &#x2013; nicht des Vergnügens wegen auf der Erde. Der Spruch trifft aber eben so gut die Privilegirten, insbesondere den Czaar und die Instrumente seiner Macht. Vom kaiserlichen Prunksaal bis zur ärmlichsten Hütte herab &#x2013; dessen sey man überzeugt &#x2013; genießt in Rußland so zu sagen fast kein menschliches Wesen in Ruhe seines Schlafes oder ergibt sich sorglos den Freuden des Mahles,<lb/>
Tantus amor florum, et generandi gloria mellis!<lb/>
Selbst die dem Menschen zu Hülfe und Nutzen beigesellten Hausthiere theilen Zucht und Disciplin, und jenes hastige, aufgeregte, stürmische, uns langsamen Germanen so innig verhaßte, eilfertige und unermüdliche Wesen der Moskowiter.</p><lb/>
        <p>Wort und That, Theorie und Praxis, Schein und Wesen standen sich einst in <hi rendition="#g">Rußland</hi> und <hi rendition="#g">Polen</hi>, heute aber, da das katholische Polen Todes verblichen, stehen sich dieselben Elemente in <hi rendition="#g">Rußland</hi> und <hi rendition="#g">Deutschland</hi> feindlich gegenüber.</p><lb/>
        <p>(Beschluß folgt.)</p><lb/>
      </div><lb/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Kehrseite der Pentarchie</hi>.</hi> </head><lb/>
        <p>Die <hi rendition="#g">Münchener</hi> &#x201E;historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland&#x201C; haben der Betrachtung des im vorhergehenden<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1315/0011] den Gemüthern der Bewohner Europa's. Aber wer möchte chronologisch die Epochen ihrer Kindheit, ihrer Blüthe und vollen Entwicklung berechnen? Nach der Lehre des Pentarchisten verbündet sie die Action der moralischen Kraft über die physische, will nicht durch Heere und Flotten, nicht durch „drückende Sequestrationen und Embargos“, sondern providentiell und gleichsam kirchlich das Böse dämmen. Der Gedanke ist von exuberanter Fülle, ein wahrhaft sociales Christenthum, dehnbar, weich, permanent, und die geheimsten Falten europäischen Staatslebens um so tiefer durchdringend, da er die bankerutte Idee effectiver Volkssouveränetät ersetzt, und in seiner Coincidenz mit dem Evangelium eine unberechenbare Zukunft im Schooße trägt. Uns Deutsche schreckt nur die zu merkbare Hast der Apostel des neuen Bundes, ihre Glückseligkeitstheorie auf germanischen Boden herüberzupflanzen. Unruhig fragt man, ob die Rolle, die geistige Tochter des frommen Slaven-Imperators zu schirmen, großzuziehen und sie als Leibgarden politischer Gerechtigkeit siegreich im Mittelpunkt Europa's zu inthronisiren, durch ein Decret der Vorsehung, wie sie behaupten, wirklich den Moskowiten zugefallen sey? Ideen mit universellem Fruchtkeim, meint man bei uns, könne nur Deutschland hervorbringen und standhaft entwickeln; Germanien sey ja vorzugsweise das Land der Ideen! Uncultur, Halbbarbar, Geistesöde, metallisch erstarrter und für Keime ächter Humanität ewig verschlossener Boden sind, russischen Lobrednern gegenüber, die Lieblingsausdrücke germanischer Philautie. Gerade in diesem Punkte stehen sich die deutschen Urtheile am schroffsten gegenüber. Rußland ist ein universeller, militärisch disciplinirter, kolossaler Kirchenstaat, eine Buß- und Thränen-Anstalt zu sittlicher Restauration einer corrupten und im Sumpfe materieller Interessen sich allmählich verschlammenden Welt. Das elende Krämerleben in Europa erzeugt allenthalben Ekel, Lebensüberdruß, Selbstmord und verzagten Sinn bei üppigen Tafeln und vollen Truhen. Seelenleiden, Sorge und Kampf gegen drohende Trübsal und Erschütterung befestigen allein die öffentlichen Charaktere, stählen das Gemüth und bewahren vor gänzlichem Ersterben aller moralischen Kraft. Es ist nun einmal nicht vergönnt, daß der Mensch sorgenlos und glücklich sey! Nicht Graf Nesselrode und seine Agenten, nicht der Kriegsminister Paskjewitsch und seine streitbaren Banden, sondern das anatolische Glaubensbekenntniß und die alte Reichsfahne Moskoviens in der Mongolenzeit, mit der Dornenkrone, rücken gegen den Occident, und die „europäische Pentarchie“ ist das Manifest des moskovischen Apostolats. Ich glaube nicht, daß die durch und durch säcularisirten West-Europäer Wesen und Charakter der politisch-religiösen Bewegung hinter der Weichsel, daß sie Nerv und Schnellkraft des neuen byzantinisch-russischen Chaliphats erkennen. Es ist die große Reaction der morgenländischen Kirche gegen die lateinische Christenheit, deren Angriffe auf russisches Kirchenthum um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts, als Alexander Newski Großfürst war, auf Befehl des päpstlichen Stuhles durch den Schweden-König Erichson am finnischen Meerbusen begannen, durch die Schwertritter in Livland, und durch die katholischen Polen auf der langen Strecke zwischen dem baltischen und schwarzen Meere mit Unverstand, Härte und Grausamkeit durch Jahrhunderte fortliefen, und endlich mit einem allgemeinen Heranwälzen des von Napoleon unterjochten lateinischen Abendlandes ihren Endpunkt erreichten. Die Invasion von 1812 galt bei dem frommen Russen-Volk wie ein Religionskrieg, und ohne Zweifel hat die Nation nur in der Kraft ihres Glaubens die Gefahr überstanden. Geduld, Märtyrerblut und Heldenthum der altgläubigen Menge haben wider Scandinavier, Polen und Germanen Reich, Kirche und Nation gerettet, und aus dem glorreichen Sieg der orthodoxen Kirche ist Thron und Dynastie der Romanow hervorgegangen. Daher ein unauflöslicher Cement von Blut, Sieg und Seelenentzücken zwischen geistlichem und weltlichem Regiment dem Reiche Moskovien auf unabsehliche Zeiten Nahrung und Stärkung gibt. Es liegt in diesem russischen, von innen heraus langsam anwachsenden Kirchen-Koloß etwas Unabwendbares. Nur kirchlich, d. i. mit denselben Mitteln, die ihn zu Sieg und Eroberung treiben, kann man entgegenstreiten. – Es ist der Kampf der heiligen Stühle von Rom und Byzanz. Auf welcher Seite ist nun Einheit, Kraft, Feuermuth, Klugheit und Disciplin? Bereits hat Michael Cärullarius in Litthauen und Klein-Rußland einen großen Sieg davongetragen. Der Kampf ist jetzt an der Weichsel und nähert sich Deutschland. Wie lange wird und kann dieser weiland classische Boden der römischen Kirche heute die Sache Leo's IX vertheidigen? Muß noch einmal die „ewige Stadt“ die Geister in Europa zum Widerstand entzünden? Zwingt vielleicht die wachsende Gefahr vor slavisch-griechischem Kirchenthum West-Europa noch einmal zu einer großen innern Einigung? So viel uns bekannt, hat keine in Deutschland erschienene Diatribe die Pentarchie von dieser Seite betrachtet und den Abschnitt „Rußland“ in diesem Sinne geprüft. Sagt der Pentarchist nicht ausdrücklich: „Fundament des russischen Reichs sey die griechische Kirche;“ in Rußland sey die weltliche Macht – ohne die Insignien abzulegen – kirchlich geworden, übe der Czaar – zugleich Pontifex und Generalissimus – eine geheime, die Gemüther in ihren Tiefen ergreifende und erschütternde Macht, sey die Kirche Nation, und alles Sonderleben ausgelöscht; man leide, dulde, arbeite und entbehre gemeinschaftlich für das große Nationalziel, Sieg und Triumph der griechisch-russischen Kirche! – Diese Willenseinheitlegt sich in Rußland weniger mit Gewalt von außen her auf die Masse, siequillt von innen heraus, weil den robusten, langgestreckten, homogen erbauten Körper der moskovischen Race Eine Seele belebt, aber eine Seele voll Energie und Intelligenz, voll Heiterkeit und leichten Sinnes. – In Moskovien gilt die Maxime: der Mensch, besonders die arbeitende Classe, sey – horribile dictu – nicht des Vergnügens wegen auf der Erde. Der Spruch trifft aber eben so gut die Privilegirten, insbesondere den Czaar und die Instrumente seiner Macht. Vom kaiserlichen Prunksaal bis zur ärmlichsten Hütte herab – dessen sey man überzeugt – genießt in Rußland so zu sagen fast kein menschliches Wesen in Ruhe seines Schlafes oder ergibt sich sorglos den Freuden des Mahles, Tantus amor florum, et generandi gloria mellis! Selbst die dem Menschen zu Hülfe und Nutzen beigesellten Hausthiere theilen Zucht und Disciplin, und jenes hastige, aufgeregte, stürmische, uns langsamen Germanen so innig verhaßte, eilfertige und unermüdliche Wesen der Moskowiter. Wort und That, Theorie und Praxis, Schein und Wesen standen sich einst in Rußland und Polen, heute aber, da das katholische Polen Todes verblichen, stehen sich dieselben Elemente in Rußland und Deutschland feindlich gegenüber. (Beschluß folgt.) Die Kehrseite der Pentarchie. Die Münchener „historisch-politischen Blätter für das katholische Deutschland“ haben der Betrachtung des im vorhergehenden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (?): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_165_18400613
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_165_18400613/11
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 165. Augsburg, 13. Juni 1840, S. 1315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_165_18400613/11>, abgerufen am 29.04.2024.