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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

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Wortvergleichungen und Zweideutigkeiten findet, bei denen er mit
Behagen besonders den jüngern Scaliger als Autorität anführt,
oder wenn man die Masse schmuziger Anekdoten in den "Face-
tiae
" oder den "Nugae venales" oder in der Unzahl lateinischer
Dissertationen durchmustert, bei denen gelehrte Form und ge-
lehrter Scharssinn an den plattesten und elendesten Stoffen sich
ergehen: so ist man doch noch mehr entrüstet darüber, daß die bei-
den eigensten Volkszuchtwissenschaften, die Jurisprudenz und die
Theologie, in schauerlichem Verständniß so blind und herzlos mit
der Tortur überführen und auf den Schaffoten der volks- und
seelenmörderischen Justizprocedur solche Lobreden halten konnten.
Zahllose derartige Beispiele werden noch nach fernen Jahrhunderten
Sinn und Muth des Forschers niederbeugen. Die laute Forderung
des Volkes nach Oeffentlichkeit der Rechtspflege ist eine historische
Rache an der finstern Abgeschlossenheit der Justizpflege der frühern
Jahrhunderte, und ihre Gewährung spottet des Gedankens einer
politischen Concession, wo sie im culturhistorischen Proceß aus dem
Seelengrund und Streben des seines Wesens und seiner Würde
sich immermehr bewußt gewordenen Volkes mit tiefinnerer Noth-
wendigkeit hervorgetreten ist.

Die übermäßige Verschwendung des deutschen Fleißes an die
Form auf Kosten des dadurch immer flüchtiger werdenden Wesens
war eine Folge der isolirten, müßigen, unpraktischen Gelehrsamkeit
und zeigt sich vorzüglich bei den Spielereien in den alten classi-
schen Sprachen, besonders der lateinischen, in welcher alle auf
classische Bildung Anspruch machende Gelehrte mindestens Hexa-
meter und Distichen zu improvisiren wissen mußten, in welcher aus
den alten Classikern seltsame Zufälligkeiten als absichtliche Kün-
steleien aufgelesen, zusammengestellt und mit dem tollsten Zwange
transponirt und gedeutelt wurden, wobei die müßige, schmuzige
französische Leichtfertigkeit das verwandte Latein mit eitlem, lüster-
nem Behagen auszubeuten wußte, um in der plattesten Weise
geistreich zu sein. So entstand die Flut der schmuzigsten und un-
flätigsten equivoques, rebus, entends-trois, contrepeteries, ana-
grammes, vers retrogrades, allusions
u. s. w., welche man, zum

Ave-Lallemant, Gaunerthum. III. 12

Wortvergleichungen und Zweideutigkeiten findet, bei denen er mit
Behagen beſonders den jüngern Scaliger als Autorität anführt,
oder wenn man die Maſſe ſchmuziger Anekdoten in den „Face-
tiae
“ oder den „Nugae venales“ oder in der Unzahl lateiniſcher
Diſſertationen durchmuſtert, bei denen gelehrte Form und ge-
lehrter Scharſſinn an den platteſten und elendeſten Stoffen ſich
ergehen: ſo iſt man doch noch mehr entrüſtet darüber, daß die bei-
den eigenſten Volkszuchtwiſſenſchaften, die Jurisprudenz und die
Theologie, in ſchauerlichem Verſtändniß ſo blind und herzlos mit
der Tortur überführen und auf den Schaffoten der volks- und
ſeelenmörderiſchen Juſtizprocedur ſolche Lobreden halten konnten.
Zahlloſe derartige Beiſpiele werden noch nach fernen Jahrhunderten
Sinn und Muth des Forſchers niederbeugen. Die laute Forderung
des Volkes nach Oeffentlichkeit der Rechtspflege iſt eine hiſtoriſche
Rache an der finſtern Abgeſchloſſenheit der Juſtizpflege der frühern
Jahrhunderte, und ihre Gewährung ſpottet des Gedankens einer
politiſchen Conceſſion, wo ſie im culturhiſtoriſchen Proceß aus dem
Seelengrund und Streben des ſeines Weſens und ſeiner Würde
ſich immermehr bewußt gewordenen Volkes mit tiefinnerer Noth-
wendigkeit hervorgetreten iſt.

Die übermäßige Verſchwendung des deutſchen Fleißes an die
Form auf Koſten des dadurch immer flüchtiger werdenden Weſens
war eine Folge der iſolirten, müßigen, unpraktiſchen Gelehrſamkeit
und zeigt ſich vorzüglich bei den Spielereien in den alten claſſi-
ſchen Sprachen, beſonders der lateiniſchen, in welcher alle auf
claſſiſche Bildung Anſpruch machende Gelehrte mindeſtens Hexa-
meter und Diſtichen zu improviſiren wiſſen mußten, in welcher aus
den alten Claſſikern ſeltſame Zufälligkeiten als abſichtliche Kün-
ſteleien aufgeleſen, zuſammengeſtellt und mit dem tollſten Zwange
transponirt und gedeutelt wurden, wobei die müßige, ſchmuzige
franzöſiſche Leichtfertigkeit das verwandte Latein mit eitlem, lüſter-
nem Behagen auszubeuten wußte, um in der platteſten Weiſe
geiſtreich zu ſein. So entſtand die Flut der ſchmuzigſten und un-
flätigſten équivoques, rebus, entends-trois, contrepeteries, ana-
grammes, vers retrogrades, allusions
u. ſ. w., welche man, zum

Avé-Lallemant, Gaunerthum. III. 12
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[177/0211] Wortvergleichungen und Zweideutigkeiten findet, bei denen er mit Behagen beſonders den jüngern Scaliger als Autorität anführt, oder wenn man die Maſſe ſchmuziger Anekdoten in den „Face- tiae“ oder den „Nugae venales“ oder in der Unzahl lateiniſcher Diſſertationen durchmuſtert, bei denen gelehrte Form und ge- lehrter Scharſſinn an den platteſten und elendeſten Stoffen ſich ergehen: ſo iſt man doch noch mehr entrüſtet darüber, daß die bei- den eigenſten Volkszuchtwiſſenſchaften, die Jurisprudenz und die Theologie, in ſchauerlichem Verſtändniß ſo blind und herzlos mit der Tortur überführen und auf den Schaffoten der volks- und ſeelenmörderiſchen Juſtizprocedur ſolche Lobreden halten konnten. Zahlloſe derartige Beiſpiele werden noch nach fernen Jahrhunderten Sinn und Muth des Forſchers niederbeugen. Die laute Forderung des Volkes nach Oeffentlichkeit der Rechtspflege iſt eine hiſtoriſche Rache an der finſtern Abgeſchloſſenheit der Juſtizpflege der frühern Jahrhunderte, und ihre Gewährung ſpottet des Gedankens einer politiſchen Conceſſion, wo ſie im culturhiſtoriſchen Proceß aus dem Seelengrund und Streben des ſeines Weſens und ſeiner Würde ſich immermehr bewußt gewordenen Volkes mit tiefinnerer Noth- wendigkeit hervorgetreten iſt. Die übermäßige Verſchwendung des deutſchen Fleißes an die Form auf Koſten des dadurch immer flüchtiger werdenden Weſens war eine Folge der iſolirten, müßigen, unpraktiſchen Gelehrſamkeit und zeigt ſich vorzüglich bei den Spielereien in den alten claſſi- ſchen Sprachen, beſonders der lateiniſchen, in welcher alle auf claſſiſche Bildung Anſpruch machende Gelehrte mindeſtens Hexa- meter und Diſtichen zu improviſiren wiſſen mußten, in welcher aus den alten Claſſikern ſeltſame Zufälligkeiten als abſichtliche Kün- ſteleien aufgeleſen, zuſammengeſtellt und mit dem tollſten Zwange transponirt und gedeutelt wurden, wobei die müßige, ſchmuzige franzöſiſche Leichtfertigkeit das verwandte Latein mit eitlem, lüſter- nem Behagen auszubeuten wußte, um in der platteſten Weiſe geiſtreich zu ſein. So entſtand die Flut der ſchmuzigſten und un- flätigſten équivoques, rebus, entends-trois, contrepeteries, ana- grammes, vers retrogrades, allusions u. ſ. w., welche man, zum Avé-Lallemant, Gaunerthum. III. 12

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/211>, abgerufen am 30.04.2024.