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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

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(1555) und der spätere Herausgeber Kaspar Waser (1610), ob-
schon in letzterer Ausgabe, Fol. 72b, eine Sprachprobe aus dem
"vernaculus Rhaetorum sermo" gegeben wird, "quem ipsi vulgo
Romanum appellant (ut et suum Sabaudi) nostri
Churweltsch",
aus welcher man eine ganz eigenthümlich lotterige Vermengung
provenzalischer und italienischer Wurzeln und Flexionen durchein-
ander wahrnimmt. Jm "Mithridat", a. a. O., wird die grau-
bündtner Sprache ein sermo Italicus omnium corruptissimus
genannt und gesagt, daß bis dahin noch keine Literatur in diesem
Jargon existirt habe. Doch wird dabei des Graubündtners Jakob
Bifrons erwähnt, "qui hanc linguam scriptis illustrare et publi-
care incoepit et catechismum etiam sacrosanctae religionis
nostrae e Germanico in hunc sermonem convertit, excusum
Pusclavii anno salutis
1552". Das Buch habe ich nirgends auf-
treiben können, so wenig wie sonst irgendein Probestück einer spä-
tern Literatur, welche überhaupt zu fehlen scheint, da der so un-
natürlich zusammengesetzte Sprachbestand nicht die innere sprach-
geistige Kraft hat zur Erzeugung und Fortpflanzung seiner Gat-
tung, namentlich da, wie Schleicher 1) treffend bemerkt, deutscher
Einfluß von ziemlich spätem Datum und einheimischer Mangel
an Cultur mit vereinten Kräften diesem Dialekt übel mitge-
spielt haben. Das Churwelsch oder Rhätoromanische zerfällt übri-
gens in zwei Dialekte, den rumonischen im Rheingebiet des
Cantons Graubündten und den im Jnngebiete gesprochenen ladi-
nischen.
Dem Churwelsch fehlen, nach Schleicher, unter andern
zwei wesentliche romanische Kennzeichen, die Bildung des Futurum
durch habere und das zum historischen Tempus verwandte Per-
fectum. Das Futurum wird umschrieben mit venire (ad amare),
wie auch das Passivum mit venire gebildet wird: venio amatus,
ich werde geliebt. Vergleicht man damit das deutsche "ich werde
lieben, ich werde geliebt", so ergibt sich leicht die Quelle dieses
Hülfszeitworts venire. Auch die unromanische Vermischung des

1) "Die Sprachen Europas in systematischer Uebersicht" (Bonn 1850),
S. 187.

(1555) und der ſpätere Herausgeber Kaspar Waſer (1610), ob-
ſchon in letzterer Ausgabe, Fol. 72b, eine Sprachprobe aus dem
vernaculus Rhaetorum sermo“ gegeben wird, „quem ipsi vulgo
Romanum appellant (ut et suum Sabaudi) nostri
Churweltſch“,
aus welcher man eine ganz eigenthümlich lotterige Vermengung
provenzaliſcher und italieniſcher Wurzeln und Flexionen durchein-
ander wahrnimmt. Jm „Mithridat“, a. a. O., wird die grau-
bündtner Sprache ein sermo Italicus omnium corruptissimus
genannt und geſagt, daß bis dahin noch keine Literatur in dieſem
Jargon exiſtirt habe. Doch wird dabei des Graubündtners Jakob
Bifrons erwähnt, „qui hanc linguam scriptis illustrare et publi-
care incoepit et catechismum etiam sacrosanctae religionis
nostrae e Germanico in hunc sermonem convertit, excusum
Pusclavii anno salutis
1552“. Das Buch habe ich nirgends auf-
treiben können, ſo wenig wie ſonſt irgendein Probeſtück einer ſpä-
tern Literatur, welche überhaupt zu fehlen ſcheint, da der ſo un-
natürlich zuſammengeſetzte Sprachbeſtand nicht die innere ſprach-
geiſtige Kraft hat zur Erzeugung und Fortpflanzung ſeiner Gat-
tung, namentlich da, wie Schleicher 1) treffend bemerkt, deutſcher
Einfluß von ziemlich ſpätem Datum und einheimiſcher Mangel
an Cultur mit vereinten Kräften dieſem Dialekt übel mitge-
ſpielt haben. Das Churwelſch oder Rhätoromaniſche zerfällt übri-
gens in zwei Dialekte, den rumoniſchen im Rheingebiet des
Cantons Graubündten und den im Jnngebiete geſprochenen ladi-
niſchen.
Dem Churwelſch fehlen, nach Schleicher, unter andern
zwei weſentliche romaniſche Kennzeichen, die Bildung des Futurum
durch habere und das zum hiſtoriſchen Tempus verwandte Per-
fectum. Das Futurum wird umſchrieben mit venire (ad amare),
wie auch das Paſſivum mit venire gebildet wird: venio amatus,
ich werde geliebt. Vergleicht man damit das deutſche „ich werde
lieben, ich werde geliebt“, ſo ergibt ſich leicht die Quelle dieſes
Hülfszeitworts venire. Auch die unromaniſche Vermiſchung des

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S. 187.
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[26/0060] (1555) und der ſpätere Herausgeber Kaspar Waſer (1610), ob- ſchon in letzterer Ausgabe, Fol. 72b, eine Sprachprobe aus dem „vernaculus Rhaetorum sermo“ gegeben wird, „quem ipsi vulgo Romanum appellant (ut et suum Sabaudi) nostri Churweltſch“, aus welcher man eine ganz eigenthümlich lotterige Vermengung provenzaliſcher und italieniſcher Wurzeln und Flexionen durchein- ander wahrnimmt. Jm „Mithridat“, a. a. O., wird die grau- bündtner Sprache ein sermo Italicus omnium corruptissimus genannt und geſagt, daß bis dahin noch keine Literatur in dieſem Jargon exiſtirt habe. Doch wird dabei des Graubündtners Jakob Bifrons erwähnt, „qui hanc linguam scriptis illustrare et publi- care incoepit et catechismum etiam sacrosanctae religionis nostrae e Germanico in hunc sermonem convertit, excusum Pusclavii anno salutis 1552“. Das Buch habe ich nirgends auf- treiben können, ſo wenig wie ſonſt irgendein Probeſtück einer ſpä- tern Literatur, welche überhaupt zu fehlen ſcheint, da der ſo un- natürlich zuſammengeſetzte Sprachbeſtand nicht die innere ſprach- geiſtige Kraft hat zur Erzeugung und Fortpflanzung ſeiner Gat- tung, namentlich da, wie Schleicher 1) treffend bemerkt, deutſcher Einfluß von ziemlich ſpätem Datum und einheimiſcher Mangel an Cultur mit vereinten Kräften dieſem Dialekt übel mitge- ſpielt haben. Das Churwelſch oder Rhätoromaniſche zerfällt übri- gens in zwei Dialekte, den rumoniſchen im Rheingebiet des Cantons Graubündten und den im Jnngebiete geſprochenen ladi- niſchen. Dem Churwelſch fehlen, nach Schleicher, unter andern zwei weſentliche romaniſche Kennzeichen, die Bildung des Futurum durch habere und das zum hiſtoriſchen Tempus verwandte Per- fectum. Das Futurum wird umſchrieben mit venire (ad amare), wie auch das Paſſivum mit venire gebildet wird: venio amatus, ich werde geliebt. Vergleicht man damit das deutſche „ich werde lieben, ich werde geliebt“, ſo ergibt ſich leicht die Quelle dieſes Hülfszeitworts venire. Auch die unromaniſche Vermiſchung des 1) „Die Sprachen Europas in ſyſtematiſcher Ueberſicht“ (Bonn 1850), S. 187.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/60>, abgerufen am 30.04.2024.