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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

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Vor allem muß man die Berechtigung eines jeden Volkes an-
erkennen, im Verkehr mit fremden Völkern und deren Sprache
nach den verschiedenen Bewegungen des Zeitgeistes in religiöser,
sittlicher und wissenschaftlicher Hinsicht seinen Wortvorrath durch
Einbürgerung von Fremdwörtern zu bereichern. Wenn auch dieser
zunächst nur durch den Verkehr veranlaßten Bereicherung häufig
kein wirkliches Bedürfniß zu Grunde lag, so strebt doch jede ge-
bildete Sprache danach, selbst einen Ueberfluß von Wortformen
sich zu eigen zu machen, um damit den wichtigen Zweck der Be-
zeichnung von Unterschieden der Bedeutung zu erreichen. So gibt
es denn bei diesem Ueberfluß in der Sprache der Bildung eine
Menge fremder Wörter, welche der eigentlichen Volkssprache fremd
geblieben sind, aber durch das höhere Bedürfniß der Sprache der
Bildung, namentlich zum Ausdruck abstracter Begriffe und zur
Bezeichnung wissenschaftlicher und künstlerischer Gegenstände und
Begriffe, Aufnahme gefunden haben. 1) Unleugbar ist, daß trotz
dieser Bereicherung die Sprache an sich zurückgegangen ist, wie
man denn kaum eine treffendere Wahrheit finden kann als die,
welche Schleicher ("Sprachen Europas", S. 12) ausspricht, daß
Geschichte und Sprachbildung sich ablösende Thätigkeiten des mensch-
lichen Geistes sind. 2)

1) Vgl. das Weitere bei Becker, I, 57.
2) Vortrefflich ist dazu die aus Schleicher's früherm Werke "Zur verglei-
chenden Sprachengeschichte" (Bonn 1848), S. 17 herbeigezogene Bemerkung:
"Jn der Sprache erscheint der Geist sowol der Menschheit im allgemeinen als der
eines jeden Völkerstammes im besondern in seinem Anderssein, daher das Wechsel-
verhältniß von Nationalität und Sprache; derselbe Geist, der später in seiner
geschichtlichen Freiheit die Nationalität erzeugte, brachte früher in seinem Hin-
gegebensein an den Laut die Sprache hervor. Ebenso erscheint der Weltgeist
in der Natur in seinem Anderssein, es ist dies der erste Schritt nach dem rei-
nen Ansich; in dem Maße aber, als der Geist zu sich selbst kommt, für sich
wird, schwindet jenes Anderssein, zieht er sich aus ihm zurück, wendet ihm seine
Thätigkeit nicht mehr zu. Was die vormenschliche Periode in der Geschichte
unsers Erdballs, das ist die vorhistorische in der Geschichte des Menschen. Jn
ersterer fehlte das Selbstbewußtsein, in der letztern die Freiheit desselben; in
ersterer war der Geist gebunden in der Natur, in letzterer im Laute, daher dort
die Schöpfung des Reichs der Natur, hier die des Reichs der Laute. Anders

Vor allem muß man die Berechtigung eines jeden Volkes an-
erkennen, im Verkehr mit fremden Völkern und deren Sprache
nach den verſchiedenen Bewegungen des Zeitgeiſtes in religiöſer,
ſittlicher und wiſſenſchaftlicher Hinſicht ſeinen Wortvorrath durch
Einbürgerung von Fremdwörtern zu bereichern. Wenn auch dieſer
zunächſt nur durch den Verkehr veranlaßten Bereicherung häufig
kein wirkliches Bedürfniß zu Grunde lag, ſo ſtrebt doch jede ge-
bildete Sprache danach, ſelbſt einen Ueberfluß von Wortformen
ſich zu eigen zu machen, um damit den wichtigen Zweck der Be-
zeichnung von Unterſchieden der Bedeutung zu erreichen. So gibt
es denn bei dieſem Ueberfluß in der Sprache der Bildung eine
Menge fremder Wörter, welche der eigentlichen Volksſprache fremd
geblieben ſind, aber durch das höhere Bedürfniß der Sprache der
Bildung, namentlich zum Ausdruck abſtracter Begriffe und zur
Bezeichnung wiſſenſchaftlicher und künſtleriſcher Gegenſtände und
Begriffe, Aufnahme gefunden haben. 1) Unleugbar iſt, daß trotz
dieſer Bereicherung die Sprache an ſich zurückgegangen iſt, wie
man denn kaum eine treffendere Wahrheit finden kann als die,
welche Schleicher („Sprachen Europas“, S. 12) ausſpricht, daß
Geſchichte und Sprachbildung ſich ablöſende Thätigkeiten des menſch-
lichen Geiſtes ſind. 2)

1) Vgl. das Weitere bei Becker, I, 57.
2) Vortrefflich iſt dazu die aus Schleicher’s früherm Werke „Zur verglei-
chenden Sprachengeſchichte“ (Bonn 1848), S. 17 herbeigezogene Bemerkung:
„Jn der Sprache erſcheint der Geiſt ſowol der Menſchheit im allgemeinen als der
eines jeden Völkerſtammes im beſondern in ſeinem Andersſein, daher das Wechſel-
verhältniß von Nationalität und Sprache; derſelbe Geiſt, der ſpäter in ſeiner
geſchichtlichen Freiheit die Nationalität erzeugte, brachte früher in ſeinem Hin-
gegebenſein an den Laut die Sprache hervor. Ebenſo erſcheint der Weltgeiſt
in der Natur in ſeinem Andersſein, es iſt dies der erſte Schritt nach dem rei-
nen Anſich; in dem Maße aber, als der Geiſt zu ſich ſelbſt kommt, für ſich
wird, ſchwindet jenes Andersſein, zieht er ſich aus ihm zurück, wendet ihm ſeine
Thätigkeit nicht mehr zu. Was die vormenſchliche Periode in der Geſchichte
unſers Erdballs, das iſt die vorhiſtoriſche in der Geſchichte des Menſchen. Jn
erſterer fehlte das Selbſtbewußtſein, in der letztern die Freiheit deſſelben; in
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die Schöpfung des Reichs der Natur, hier die des Reichs der Laute. Anders
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[57/0091] Vor allem muß man die Berechtigung eines jeden Volkes an- erkennen, im Verkehr mit fremden Völkern und deren Sprache nach den verſchiedenen Bewegungen des Zeitgeiſtes in religiöſer, ſittlicher und wiſſenſchaftlicher Hinſicht ſeinen Wortvorrath durch Einbürgerung von Fremdwörtern zu bereichern. Wenn auch dieſer zunächſt nur durch den Verkehr veranlaßten Bereicherung häufig kein wirkliches Bedürfniß zu Grunde lag, ſo ſtrebt doch jede ge- bildete Sprache danach, ſelbſt einen Ueberfluß von Wortformen ſich zu eigen zu machen, um damit den wichtigen Zweck der Be- zeichnung von Unterſchieden der Bedeutung zu erreichen. So gibt es denn bei dieſem Ueberfluß in der Sprache der Bildung eine Menge fremder Wörter, welche der eigentlichen Volksſprache fremd geblieben ſind, aber durch das höhere Bedürfniß der Sprache der Bildung, namentlich zum Ausdruck abſtracter Begriffe und zur Bezeichnung wiſſenſchaftlicher und künſtleriſcher Gegenſtände und Begriffe, Aufnahme gefunden haben. 1) Unleugbar iſt, daß trotz dieſer Bereicherung die Sprache an ſich zurückgegangen iſt, wie man denn kaum eine treffendere Wahrheit finden kann als die, welche Schleicher („Sprachen Europas“, S. 12) ausſpricht, daß Geſchichte und Sprachbildung ſich ablöſende Thätigkeiten des menſch- lichen Geiſtes ſind. 2) 1) Vgl. das Weitere bei Becker, I, 57. 2) Vortrefflich iſt dazu die aus Schleicher’s früherm Werke „Zur verglei- chenden Sprachengeſchichte“ (Bonn 1848), S. 17 herbeigezogene Bemerkung: „Jn der Sprache erſcheint der Geiſt ſowol der Menſchheit im allgemeinen als der eines jeden Völkerſtammes im beſondern in ſeinem Andersſein, daher das Wechſel- verhältniß von Nationalität und Sprache; derſelbe Geiſt, der ſpäter in ſeiner geſchichtlichen Freiheit die Nationalität erzeugte, brachte früher in ſeinem Hin- gegebenſein an den Laut die Sprache hervor. Ebenſo erſcheint der Weltgeiſt in der Natur in ſeinem Andersſein, es iſt dies der erſte Schritt nach dem rei- nen Anſich; in dem Maße aber, als der Geiſt zu ſich ſelbſt kommt, für ſich wird, ſchwindet jenes Andersſein, zieht er ſich aus ihm zurück, wendet ihm ſeine Thätigkeit nicht mehr zu. Was die vormenſchliche Periode in der Geſchichte unſers Erdballs, das iſt die vorhiſtoriſche in der Geſchichte des Menſchen. Jn erſterer fehlte das Selbſtbewußtſein, in der letztern die Freiheit deſſelben; in erſterer war der Geiſt gebunden in der Natur, in letzterer im Laute, daher dort die Schöpfung des Reichs der Natur, hier die des Reichs der Laute. Anders

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/91>, abgerufen am 30.04.2024.