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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862.

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Jst die durch historische Processe bewirkte Entstehung von
Sprachen, z. B. die der ganzen romanischen Sprachfamilie, noch
bei weitem mehr ein Beweis vom Untergang einer Sprache, in-
dem die eine Sprache nur durch die unmittelbare Abhängigkeit
eines Volkes von einem herrschenden Volke und dessen Sprache zer-
setzt und in ihrer ursprünglichen Reinheit verdunkelt und unter-
drückt werden konnte: so zeigt sich doch auch, daß da, wo der
Sprachgeist sich noch frei bewegen konnte, die fremdartigen Zusätze,
welche die Formen starr und für das Volk unverständlich mach-
ten, von diesem Sprachgeist zurückgewiesen und somit die origina-
len Sprachsubstanzen vor der Zersetzung bewahrt wurden, wie
ja die deutsche Sprache trotz der vielfachsten Angriffe und Ge-
fahren sich dennoch am freiesten von der Vermischung mit frem-
den Sprachen gehalten hat. Ein nicht geringes Verdienst hat dabei
stets die ohnehin immer von einem hohen Grade nationalen Frei-
heitsgefühls zeugende Volksliteratur und besonders die Satire ge-
habt, indem sie in übermüthigem Spotte die erkannte nahende
Gefahr dadurch bloßlegte, daß sie die Unmöglichkeit fremdartiger
Formen offen darlegte und dem Spotte preisgab. Jn dieser
Weise machte schon Aristophanes mit lachendem Munde auf die
in den fremdartigen Formen herannahende Gefahr der Entartung
aufmerksam, z. B. in den "Acharnern", in welchen der Megareus
und Boiotes schon als höchst komische, scharfgezeichnete Dialekt-
typen 1) hervortreten und wo im hundertsten Verse:

in unserer Weltperiode, in welcher sich im Menschen der Geist concentrirt und
der Menschengeist sich aus den Lauten herausgezogen, freigemacht hat. Die
mächtige, gewaltsam thätige, von schöpferischer Potenz strotzende Natur frü-
herer Weltperioden ist in unserer jetzigen zur Reproduction herabgekommen,
sie erzeugt nichts Neues mehr, nachdem der Weltgeist im Menschen aus dem
Anderssein zu sich gekommen; seitdem der Menschengeist -- und der Mensch ist
und bleibt doch der Mikrokosmus -- zu sich kam in der Geschichte, ist es aus
mit seiner Fruchtbarkeit im bewußtlosen Erzeugen seines concreten Bildes, der
Sprache. Seitdem wird auch sie nur reproducirt, aber in den Sprachgenera-
tionen zeigt sich eine immermehr um sich greifende Entartung."
1) Wem fällt hierbei nicht die moderne, immer komische Stereotype des
"Zwickauer" in dem von Muthwillen, Laune und Satire übersprudelnden ber-
liner "Kladderadatsch" ein?

Jſt die durch hiſtoriſche Proceſſe bewirkte Entſtehung von
Sprachen, z. B. die der ganzen romaniſchen Sprachfamilie, noch
bei weitem mehr ein Beweis vom Untergang einer Sprache, in-
dem die eine Sprache nur durch die unmittelbare Abhängigkeit
eines Volkes von einem herrſchenden Volke und deſſen Sprache zer-
ſetzt und in ihrer urſprünglichen Reinheit verdunkelt und unter-
drückt werden konnte: ſo zeigt ſich doch auch, daß da, wo der
Sprachgeiſt ſich noch frei bewegen konnte, die fremdartigen Zuſätze,
welche die Formen ſtarr und für das Volk unverſtändlich mach-
ten, von dieſem Sprachgeiſt zurückgewieſen und ſomit die origina-
len Sprachſubſtanzen vor der Zerſetzung bewahrt wurden, wie
ja die deutſche Sprache trotz der vielfachſten Angriffe und Ge-
fahren ſich dennoch am freieſten von der Vermiſchung mit frem-
den Sprachen gehalten hat. Ein nicht geringes Verdienſt hat dabei
ſtets die ohnehin immer von einem hohen Grade nationalen Frei-
heitsgefühls zeugende Volksliteratur und beſonders die Satire ge-
habt, indem ſie in übermüthigem Spotte die erkannte nahende
Gefahr dadurch bloßlegte, daß ſie die Unmöglichkeit fremdartiger
Formen offen darlegte und dem Spotte preisgab. Jn dieſer
Weiſe machte ſchon Ariſtophanes mit lachendem Munde auf die
in den fremdartigen Formen herannahende Gefahr der Entartung
aufmerkſam, z. B. in den „Acharnern“, in welchen der Megareus
und Boiotes ſchon als höchſt komiſche, ſcharfgezeichnete Dialekt-
typen 1) hervortreten und wo im hundertſten Verſe:

in unſerer Weltperiode, in welcher ſich im Menſchen der Geiſt concentrirt und
der Menſchengeiſt ſich aus den Lauten herausgezogen, freigemacht hat. Die
mächtige, gewaltſam thätige, von ſchöpferiſcher Potenz ſtrotzende Natur frü-
herer Weltperioden iſt in unſerer jetzigen zur Reproduction herabgekommen,
ſie erzeugt nichts Neues mehr, nachdem der Weltgeiſt im Menſchen aus dem
Andersſein zu ſich gekommen; ſeitdem der Menſchengeiſt — und der Menſch iſt
und bleibt doch der Mikrokosmus — zu ſich kam in der Geſchichte, iſt es aus
mit ſeiner Fruchtbarkeit im bewußtloſen Erzeugen ſeines concreten Bildes, der
Sprache. Seitdem wird auch ſie nur reproducirt, aber in den Sprachgenera-
tionen zeigt ſich eine immermehr um ſich greifende Entartung.“
1) Wem fällt hierbei nicht die moderne, immer komiſche Stereotype des
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[58/0092] Jſt die durch hiſtoriſche Proceſſe bewirkte Entſtehung von Sprachen, z. B. die der ganzen romaniſchen Sprachfamilie, noch bei weitem mehr ein Beweis vom Untergang einer Sprache, in- dem die eine Sprache nur durch die unmittelbare Abhängigkeit eines Volkes von einem herrſchenden Volke und deſſen Sprache zer- ſetzt und in ihrer urſprünglichen Reinheit verdunkelt und unter- drückt werden konnte: ſo zeigt ſich doch auch, daß da, wo der Sprachgeiſt ſich noch frei bewegen konnte, die fremdartigen Zuſätze, welche die Formen ſtarr und für das Volk unverſtändlich mach- ten, von dieſem Sprachgeiſt zurückgewieſen und ſomit die origina- len Sprachſubſtanzen vor der Zerſetzung bewahrt wurden, wie ja die deutſche Sprache trotz der vielfachſten Angriffe und Ge- fahren ſich dennoch am freieſten von der Vermiſchung mit frem- den Sprachen gehalten hat. Ein nicht geringes Verdienſt hat dabei ſtets die ohnehin immer von einem hohen Grade nationalen Frei- heitsgefühls zeugende Volksliteratur und beſonders die Satire ge- habt, indem ſie in übermüthigem Spotte die erkannte nahende Gefahr dadurch bloßlegte, daß ſie die Unmöglichkeit fremdartiger Formen offen darlegte und dem Spotte preisgab. Jn dieſer Weiſe machte ſchon Ariſtophanes mit lachendem Munde auf die in den fremdartigen Formen herannahende Gefahr der Entartung aufmerkſam, z. B. in den „Acharnern“, in welchen der Megareus und Boiotes ſchon als höchſt komiſche, ſcharfgezeichnete Dialekt- typen 1) hervortreten und wo im hundertſten Verſe: 2) 1) Wem fällt hierbei nicht die moderne, immer komiſche Stereotype des „Zwickauer“ in dem von Muthwillen, Laune und Satire überſprudelnden ber- liner „Kladderadatſch“ ein? 2) in unſerer Weltperiode, in welcher ſich im Menſchen der Geiſt concentrirt und der Menſchengeiſt ſich aus den Lauten herausgezogen, freigemacht hat. Die mächtige, gewaltſam thätige, von ſchöpferiſcher Potenz ſtrotzende Natur frü- herer Weltperioden iſt in unſerer jetzigen zur Reproduction herabgekommen, ſie erzeugt nichts Neues mehr, nachdem der Weltgeiſt im Menſchen aus dem Andersſein zu ſich gekommen; ſeitdem der Menſchengeiſt — und der Menſch iſt und bleibt doch der Mikrokosmus — zu ſich kam in der Geſchichte, iſt es aus mit ſeiner Fruchtbarkeit im bewußtloſen Erzeugen ſeines concreten Bildes, der Sprache. Seitdem wird auch ſie nur reproducirt, aber in den Sprachgenera- tionen zeigt ſich eine immermehr um ſich greifende Entartung.“

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/92>, abgerufen am 30.04.2024.