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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862.

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delungen der deutschen "Sprache der Bildung" sich anschließende
allgemeine Fortbildung der Gaunersprache wahrnehmen kann: so
erkennt man doch auch wieder in jeder dieser einzelnen Erscheinun-
gen nur die vereinzelte Offenbarung, deren Form und Geltung,
wenn man das einzige, verbürgt aus unverdächtiger, unmittel-
barer gaunerischer Offenbarung hervorgegangene Wörterbuch des
constanzer Hans ausnimmt, fast durchgehends von der individuel-
len Auffassung und dem Verständniß des ersten Empfängers ab-
hängig ist und deren volle Wahrheit nur aus der Vergleichung
mit frühern und spätern entsprechenden Erscheinungen, sowie mit
den entsprechenden volksthümlichen Typen kritisch hergestellt und
befestigt werden kann. Die bei der Vergleichung und Kritik stets
zu berücksichtigende dialektische Modalität ist allerdings sehr weit
und verschiedenartig, auch verunstaltet der rohe Volks- und Ver-
brechermund sehr vieles: doch hat das Dialektische, selbst bei der
stärksten Verfärbung, immer ein bestimmtes von dem Sprachgeist
der specifischen dialektischen Gruppe gegebenes und innegehaltenes
Maß, welches von der Kritik eben aus der genauen Beachtung
dieses Geistes erkannt und berücksichtigt werden muß. So lassen
sich denn auch in der Gaunerlinguistik die dialektischen Verfär-
bungen recht wohl von interpolirten, incorrecten, sprachwidrigen
Formen unterscheiden, welche von Ungeschick und Unwissenheit, ja
sogar nicht selten auch von perfider Frivolität einzelner Redactoren
geschaffen und bei dem vorherrschenden Mangel einer gründlichen
Kritik auf gutes Glück hin als echt mit durchgebracht wurden.
Dieser literarischen Unehrlichkeit gegenüber haben aber sogar die
frivolen gaunerischen Wortentstellungen ein bestimmtes Maß und
System, damit sie der gaunerischen Gesammtheit allgemein ver-
ständlich bleiben können, weshalb denn auch die nach dem Muster
kabbalistischer Transpositionen gebildeten Buchstaben- und Silben-
Versetzungen in der Gaunersprache trotz der gegebenen weiten
Möglichkeit immer nur sehr beschränkt und beinahe auf bestimmte
Vocabeln begrenzt sind. Selbst in der hierin am weitesten gehen-
den englischen Gaunersprache sind die palindromen Formen des
back slang der Costermongers, z. B. dab für bad, dab tros

delungen der deutſchen „Sprache der Bildung“ ſich anſchließende
allgemeine Fortbildung der Gaunerſprache wahrnehmen kann: ſo
erkennt man doch auch wieder in jeder dieſer einzelnen Erſcheinun-
gen nur die vereinzelte Offenbarung, deren Form und Geltung,
wenn man das einzige, verbürgt aus unverdächtiger, unmittel-
barer gauneriſcher Offenbarung hervorgegangene Wörterbuch des
conſtanzer Hans ausnimmt, faſt durchgehends von der individuel-
len Auffaſſung und dem Verſtändniß des erſten Empfängers ab-
hängig iſt und deren volle Wahrheit nur aus der Vergleichung
mit frühern und ſpätern entſprechenden Erſcheinungen, ſowie mit
den entſprechenden volksthümlichen Typen kritiſch hergeſtellt und
befeſtigt werden kann. Die bei der Vergleichung und Kritik ſtets
zu berückſichtigende dialektiſche Modalität iſt allerdings ſehr weit
und verſchiedenartig, auch verunſtaltet der rohe Volks- und Ver-
brechermund ſehr vieles: doch hat das Dialektiſche, ſelbſt bei der
ſtärkſten Verfärbung, immer ein beſtimmtes von dem Sprachgeiſt
der ſpecifiſchen dialektiſchen Gruppe gegebenes und innegehaltenes
Maß, welches von der Kritik eben aus der genauen Beachtung
dieſes Geiſtes erkannt und berückſichtigt werden muß. So laſſen
ſich denn auch in der Gaunerlinguiſtik die dialektiſchen Verfär-
bungen recht wohl von interpolirten, incorrecten, ſprachwidrigen
Formen unterſcheiden, welche von Ungeſchick und Unwiſſenheit, ja
ſogar nicht ſelten auch von perfider Frivolität einzelner Redactoren
geſchaffen und bei dem vorherrſchenden Mangel einer gründlichen
Kritik auf gutes Glück hin als echt mit durchgebracht wurden.
Dieſer literariſchen Unehrlichkeit gegenüber haben aber ſogar die
frivolen gauneriſchen Wortentſtellungen ein beſtimmtes Maß und
Syſtem, damit ſie der gauneriſchen Geſammtheit allgemein ver-
ſtändlich bleiben können, weshalb denn auch die nach dem Muſter
kabbaliſtiſcher Transpoſitionen gebildeten Buchſtaben- und Silben-
Verſetzungen in der Gaunerſprache trotz der gegebenen weiten
Möglichkeit immer nur ſehr beſchränkt und beinahe auf beſtimmte
Vocabeln begrenzt ſind. Selbſt in der hierin am weiteſten gehen-
den engliſchen Gaunerſprache ſind die palindromen Formen des
back slang der Costermongers, z. B. dab für bad, dab tros

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[270/0282] delungen der deutſchen „Sprache der Bildung“ ſich anſchließende allgemeine Fortbildung der Gaunerſprache wahrnehmen kann: ſo erkennt man doch auch wieder in jeder dieſer einzelnen Erſcheinun- gen nur die vereinzelte Offenbarung, deren Form und Geltung, wenn man das einzige, verbürgt aus unverdächtiger, unmittel- barer gauneriſcher Offenbarung hervorgegangene Wörterbuch des conſtanzer Hans ausnimmt, faſt durchgehends von der individuel- len Auffaſſung und dem Verſtändniß des erſten Empfängers ab- hängig iſt und deren volle Wahrheit nur aus der Vergleichung mit frühern und ſpätern entſprechenden Erſcheinungen, ſowie mit den entſprechenden volksthümlichen Typen kritiſch hergeſtellt und befeſtigt werden kann. Die bei der Vergleichung und Kritik ſtets zu berückſichtigende dialektiſche Modalität iſt allerdings ſehr weit und verſchiedenartig, auch verunſtaltet der rohe Volks- und Ver- brechermund ſehr vieles: doch hat das Dialektiſche, ſelbſt bei der ſtärkſten Verfärbung, immer ein beſtimmtes von dem Sprachgeiſt der ſpecifiſchen dialektiſchen Gruppe gegebenes und innegehaltenes Maß, welches von der Kritik eben aus der genauen Beachtung dieſes Geiſtes erkannt und berückſichtigt werden muß. So laſſen ſich denn auch in der Gaunerlinguiſtik die dialektiſchen Verfär- bungen recht wohl von interpolirten, incorrecten, ſprachwidrigen Formen unterſcheiden, welche von Ungeſchick und Unwiſſenheit, ja ſogar nicht ſelten auch von perfider Frivolität einzelner Redactoren geſchaffen und bei dem vorherrſchenden Mangel einer gründlichen Kritik auf gutes Glück hin als echt mit durchgebracht wurden. Dieſer literariſchen Unehrlichkeit gegenüber haben aber ſogar die frivolen gauneriſchen Wortentſtellungen ein beſtimmtes Maß und Syſtem, damit ſie der gauneriſchen Geſammtheit allgemein ver- ſtändlich bleiben können, weshalb denn auch die nach dem Muſter kabbaliſtiſcher Transpoſitionen gebildeten Buchſtaben- und Silben- Verſetzungen in der Gaunerſprache trotz der gegebenen weiten Möglichkeit immer nur ſehr beſchränkt und beinahe auf beſtimmte Vocabeln begrenzt ſind. Selbſt in der hierin am weiteſten gehen- den engliſchen Gaunerſprache ſind die palindromen Formen des back slang der Costermongers, z. B. dab für bad, dab tros

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/282>, abgerufen am 28.04.2024.