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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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Die grossen Reaktionsmächte der Zeit wurden syste-
matisch nicht vorgestellt. Eine weltmännisch-liberalistische
Politik kam nicht auf. Selbst Heine, der Ansätze zeigt, ver-
griff sich im Ziel und im Mass. Man war Räsonneur,
Frondeur und Rebell ohne Wirklichkeit, trotzdem man als
Hegelianer gerade im Wirklichkeitssinn (und in hundert
andern Dingen) den Franzosen sich überlegen fühlte. Die
Theologen, Bruno Bauer und seine Jünger, empfanden sich
(nach Mehring) als "persönliche Inkarnationen der Kritik,
des absoluten Geistes, der durch sie mit Bewusstsein im
Gegensatz zur übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes
spiele" 66). Und doch übersah man den Zusammenhang
Hegels mit dem Geiste des Talmud, einen Zusammenhang,
der meines Wissens selbst Marx nicht zu Bewusstsein kam;
und übersah den Mendelsohn'schen Messianismus, der sich
in Hegels "auserwählter" Philosophie so bewusst schon zur
Geltung brachte. Was Grillparzer von dem Junghegelianer
Hebbel sagte, als dieser in den vierziger Jahren nach Wien
kam 67): er wisse alles, er wisse sogar, wer Gott sei, -- das
traf genau so auf die politischen Junghegelianer zu, die zwischen
Paris, Brüssel, Köln und London aufgeregt und unerschütter-
lich überzeugt von der Weltbedeutung der Hegel'schen
Reglementierungs- und Disziplinarparagraphen, aber ohne
jene letzte Offenheit, die wirklich bereit ist, neue Ideen
liebevoll aufzunehmen, in der Schnellpost fuhren.

Die Revolution von 1848 brachte es an den Tag. Das
kontrerevolutionäre Prinzip, dessen Schüler man war, wider-
sprach den Anforderungen, die die Wirklichkeit stellte.
Geist-Surrogat und Sprach-Surrogat erwiesen sich gleicher-
massen als unzulänglich, das Wesen der Dinge zu treffen.
Die blasphemische Stellung Hegels zur Freiheit, seine Staats-
und Rechtsphilosophie, sein Amoralismus, entmannte die
Aktion, und es ergab sich, alles in allem, jene Verwirrung,
die an eine verpfuschte Operette mehr als an eine Revo-
lution erinnert. Die politische und theologische Naivetät

Die grossen Reaktionsmächte der Zeit wurden syste-
matisch nicht vorgestellt. Eine weltmännisch-liberalistische
Politik kam nicht auf. Selbst Heine, der Ansätze zeigt, ver-
griff sich im Ziel und im Mass. Man war Räsonneur,
Frondeur und Rebell ohne Wirklichkeit, trotzdem man als
Hegelianer gerade im Wirklichkeitssinn (und in hundert
andern Dingen) den Franzosen sich überlegen fühlte. Die
Theologen, Bruno Bauer und seine Jünger, empfanden sich
(nach Mehring) als „persönliche Inkarnationen der Kritik,
des absoluten Geistes, der durch sie mit Bewusstsein im
Gegensatz zur übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes
spiele“ 66). Und doch übersah man den Zusammenhang
Hegels mit dem Geiste des Talmud, einen Zusammenhang,
der meines Wissens selbst Marx nicht zu Bewusstsein kam;
und übersah den Mendelsohn'schen Messianismus, der sich
in Hegels „auserwählter“ Philosophie so bewusst schon zur
Geltung brachte. Was Grillparzer von dem Junghegelianer
Hebbel sagte, als dieser in den vierziger Jahren nach Wien
kam 67): er wisse alles, er wisse sogar, wer Gott sei, — das
traf genau so auf die politischen Junghegelianer zu, die zwischen
Paris, Brüssel, Köln und London aufgeregt und unerschütter-
lich überzeugt von der Weltbedeutung der Hegel'schen
Reglementierungs- und Disziplinarparagraphen, aber ohne
jene letzte Offenheit, die wirklich bereit ist, neue Ideen
liebevoll aufzunehmen, in der Schnellpost fuhren.

Die Revolution von 1848 brachte es an den Tag. Das
kontrerevolutionäre Prinzip, dessen Schüler man war, wider-
sprach den Anforderungen, die die Wirklichkeit stellte.
Geist-Surrogat und Sprach-Surrogat erwiesen sich gleicher-
massen als unzulänglich, das Wesen der Dinge zu treffen.
Die blasphemische Stellung Hegels zur Freiheit, seine Staats-
und Rechtsphilosophie, sein Amoralismus, entmannte die
Aktion, und es ergab sich, alles in allem, jene Verwirrung,
die an eine verpfuschte Operette mehr als an eine Revo-
lution erinnert. Die politische und theologische Naivetät

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[152/0160] Die grossen Reaktionsmächte der Zeit wurden syste- matisch nicht vorgestellt. Eine weltmännisch-liberalistische Politik kam nicht auf. Selbst Heine, der Ansätze zeigt, ver- griff sich im Ziel und im Mass. Man war Räsonneur, Frondeur und Rebell ohne Wirklichkeit, trotzdem man als Hegelianer gerade im Wirklichkeitssinn (und in hundert andern Dingen) den Franzosen sich überlegen fühlte. Die Theologen, Bruno Bauer und seine Jünger, empfanden sich (nach Mehring) als „persönliche Inkarnationen der Kritik, des absoluten Geistes, der durch sie mit Bewusstsein im Gegensatz zur übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes spiele“ ⁶⁶⁾ . Und doch übersah man den Zusammenhang Hegels mit dem Geiste des Talmud, einen Zusammenhang, der meines Wissens selbst Marx nicht zu Bewusstsein kam; und übersah den Mendelsohn'schen Messianismus, der sich in Hegels „auserwählter“ Philosophie so bewusst schon zur Geltung brachte. Was Grillparzer von dem Junghegelianer Hebbel sagte, als dieser in den vierziger Jahren nach Wien kam ⁶⁷⁾ : er wisse alles, er wisse sogar, wer Gott sei, — das traf genau so auf die politischen Junghegelianer zu, die zwischen Paris, Brüssel, Köln und London aufgeregt und unerschütter- lich überzeugt von der Weltbedeutung der Hegel'schen Reglementierungs- und Disziplinarparagraphen, aber ohne jene letzte Offenheit, die wirklich bereit ist, neue Ideen liebevoll aufzunehmen, in der Schnellpost fuhren. Die Revolution von 1848 brachte es an den Tag. Das kontrerevolutionäre Prinzip, dessen Schüler man war, wider- sprach den Anforderungen, die die Wirklichkeit stellte. Geist-Surrogat und Sprach-Surrogat erwiesen sich gleicher- massen als unzulänglich, das Wesen der Dinge zu treffen. Die blasphemische Stellung Hegels zur Freiheit, seine Staats- und Rechtsphilosophie, sein Amoralismus, entmannte die Aktion, und es ergab sich, alles in allem, jene Verwirrung, die an eine verpfuschte Operette mehr als an eine Revo- lution erinnert. Die politische und theologische Naivetät

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/160>, abgerufen am 29.04.2024.