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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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hier (bei Wagner) seinen Kunstausdruck: dieses dumpfe
Treiben ohne Zweck, diese Extase, diese Verzweiflung,
dieser Ton des Leidens und Begehrens, dieser Akzent der
Liebe und der Insbrunst" 120). Und in das Studium Scho-
penhauers versunken: "Seine (Schopenhauers) Grösse ist
ausserordentlich, wieder dem Dasein ins Herz gesehen zu
haben, ohne gelehrtenhafte Abziehungen, ohne ermüdendes
Verweilen und Abgesponnenwerden in der philosophischen
Scholastik. Er zertrümmert die Verweltlichung, aber ebenso
die barbarisierende Kraft der Wissenschaften, er erweckt
das ungeheuerste Bedürfnis, wie Sokrates der Erwecker
eines solchen Bedürfnisses war. Was die Religion war, ist
vergessen gewesen,
ebenso welche Bedeutung die Kunst für
das Leben hat. Schopenhauer steht zu allem im Wider-
spruche, was jetzt als Kultur gilt" 121).

Die Anwendung des Erlösungsgedankens auf die
"Kultur": das war die Aufgabe, die einem redlichen Geiste
gestellt war. Doch Nietzsche war Protestant, auch er; von der
Selbstsucht seiner Nation und der Zeit tiefer erfasst, als er
wähnte. Unter dem Einflusse Jakob Burckhardts und der
Renaissance regen sich bald Bedenken bei ihm, sowohl
gegen Schopenhauer wie gegen Wagner, und ach, gerade
gegen dasjenige Band zwischen beiden, das er hätte stärken
müssen, und das er löste; den Geist der Schuld und des
Verzichts, den Geist der Demut und Schwäche, den Geist
der Verfehlung und Abirrung.

Der Kompromiss, den Wagner seit der Reichsgründung
mit Rom und Bayreuth einging, mit den Kommerzienräten
und Beichtvätern seiner Majestät, die hysterische Materiali-
sation der Erlösungsmusik, -- Nietzsche leitete sie vom
Pesthauche einer "absterbenden Religion" her, statt von dem
Mangel an Widerstand gegen ein prostituierendes Zwangs-
system. Statt seine Verneinung gegen den Staat zu richten,
der Religion und Gewissen entehrte, wendet sich Nietzsche,
ganz im Sinne des Staates, gegen die vermeintlichen "Ueber-

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hier (bei Wagner) seinen Kunstausdruck: dieses dumpfe
Treiben ohne Zweck, diese Extase, diese Verzweiflung,
dieser Ton des Leidens und Begehrens, dieser Akzent der
Liebe und der Insbrunst“ 120). Und in das Studium Scho-
penhauers versunken: „Seine (Schopenhauers) Grösse ist
ausserordentlich, wieder dem Dasein ins Herz gesehen zu
haben, ohne gelehrtenhafte Abziehungen, ohne ermüdendes
Verweilen und Abgesponnenwerden in der philosophischen
Scholastik. Er zertrümmert die Verweltlichung, aber ebenso
die barbarisierende Kraft der Wissenschaften, er erweckt
das ungeheuerste Bedürfnis, wie Sokrates der Erwecker
eines solchen Bedürfnisses war. Was die Religion war, ist
vergessen gewesen,
ebenso welche Bedeutung die Kunst für
das Leben hat. Schopenhauer steht zu allem im Wider-
spruche, was jetzt als Kultur gilt“ 121).

Die Anwendung des Erlösungsgedankens auf die
„Kultur“: das war die Aufgabe, die einem redlichen Geiste
gestellt war. Doch Nietzsche war Protestant, auch er; von der
Selbstsucht seiner Nation und der Zeit tiefer erfasst, als er
wähnte. Unter dem Einflusse Jakob Burckhardts und der
Renaissance regen sich bald Bedenken bei ihm, sowohl
gegen Schopenhauer wie gegen Wagner, und ach, gerade
gegen dasjenige Band zwischen beiden, das er hätte stärken
müssen, und das er löste; den Geist der Schuld und des
Verzichts, den Geist der Demut und Schwäche, den Geist
der Verfehlung und Abirrung.

Der Kompromiss, den Wagner seit der Reichsgründung
mit Rom und Bayreuth einging, mit den Kommerzienräten
und Beichtvätern seiner Majestät, die hysterische Materiali-
sation der Erlösungsmusik, — Nietzsche leitete sie vom
Pesthauche einer „absterbenden Religion“ her, statt von dem
Mangel an Widerstand gegen ein prostituierendes Zwangs-
system. Statt seine Verneinung gegen den Staat zu richten,
der Religion und Gewissen entehrte, wendet sich Nietzsche,
ganz im Sinne des Staates, gegen die vermeintlichen „Ueber-

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[225/0233] hier (bei Wagner) seinen Kunstausdruck: dieses dumpfe Treiben ohne Zweck, diese Extase, diese Verzweiflung, dieser Ton des Leidens und Begehrens, dieser Akzent der Liebe und der Insbrunst“ ¹²⁰⁾ . Und in das Studium Scho- penhauers versunken: „Seine (Schopenhauers) Grösse ist ausserordentlich, wieder dem Dasein ins Herz gesehen zu haben, ohne gelehrtenhafte Abziehungen, ohne ermüdendes Verweilen und Abgesponnenwerden in der philosophischen Scholastik. Er zertrümmert die Verweltlichung, aber ebenso die barbarisierende Kraft der Wissenschaften, er erweckt das ungeheuerste Bedürfnis, wie Sokrates der Erwecker eines solchen Bedürfnisses war. Was die Religion war, ist vergessen gewesen, ebenso welche Bedeutung die Kunst für das Leben hat. Schopenhauer steht zu allem im Wider- spruche, was jetzt als Kultur gilt“ ¹²¹⁾ . Die Anwendung des Erlösungsgedankens auf die „Kultur“: das war die Aufgabe, die einem redlichen Geiste gestellt war. Doch Nietzsche war Protestant, auch er; von der Selbstsucht seiner Nation und der Zeit tiefer erfasst, als er wähnte. Unter dem Einflusse Jakob Burckhardts und der Renaissance regen sich bald Bedenken bei ihm, sowohl gegen Schopenhauer wie gegen Wagner, und ach, gerade gegen dasjenige Band zwischen beiden, das er hätte stärken müssen, und das er löste; den Geist der Schuld und des Verzichts, den Geist der Demut und Schwäche, den Geist der Verfehlung und Abirrung. Der Kompromiss, den Wagner seit der Reichsgründung mit Rom und Bayreuth einging, mit den Kommerzienräten und Beichtvätern seiner Majestät, die hysterische Materiali- sation der Erlösungsmusik, — Nietzsche leitete sie vom Pesthauche einer „absterbenden Religion“ her, statt von dem Mangel an Widerstand gegen ein prostituierendes Zwangs- system. Statt seine Verneinung gegen den Staat zu richten, der Religion und Gewissen entehrte, wendet sich Nietzsche, ganz im Sinne des Staates, gegen die vermeintlichen „Ueber- 15

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/233>, abgerufen am 29.04.2024.