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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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reste" der Religion, die er für die Schwenkung des Meisters
verantwortlich macht und von denen er behauptet, sie seien
dem "germanischen Wesen" fremd und zuwider 122). Ja,
er bezeichnet die christliche Moral als das eigentliche
Verderben, statt eben diese Moral zum Ausgangspunkt einer
Kritik der Staatsidee zu nehmen.

Jetzt findet er: "Die Verneinung des Lebens ist nicht
mehr so leicht zu erreichen: man mag Einsiedler oder
Mönch sein -- was ist da verneint?" Und: "Es gibt so-
viele Arten angenehmer Empfindung, dass ich verzweifle,
das höchste Gut zu bestimmen". Statt in die Schule des
frühen Mittelalters, begibt er sich in die der französischen
Moralisten des ancien regime, und in die Schule der Feuer-
bach, Bauer und Stirner. Den germanischen "Urtext" sucht
er wiederherzustellen, den "eigentlichen" Naturzustand des
Germanen, die vorchristliche Wildheit, um, wie er glaubt,
eine reine Nation nach Ausscheidung orientalischer,
jüdischer Moralismen zu erreichen; und sucht das kommende
Genie vor jener Ideenverwirrung und Stagnation zu retten,
der er Wagner verfallen sah 123). Das gewitzigte Individuum
wird ihm mit Luther, Kant und Stirner Garant des Gewissens,
und so gerät er, wenn auch aus Geschmacksgründen gegen
die Reformation, doch in ihre Bahn und in eine Position,
die dem seit 1789 neu erwachten Kollektivbewusstsein der
Völker widerspricht.

Noch in der unter Wagners Einfluss geschriebenen
"Geburt der Tragödie" hatte er eine tragische Kultur pro-
phezeit und die Auflösung des Individuums in der Tra-
gödie befürwortet. Jetzt glaubte er radikaler zu sein, wenn
er den Kampf gegen die Kirche zum Kampf gegen das
Christentum als gegen die Philister- und Herdensanktion,
ja gegen die Moral selbst ausdehnte 124). Gerade die christ-
lichsten, menschlichsten Tugenden greift er an: Nächsten-
liebe, Mitleid, Charität. Der Pastorensohn regt sich in ihm.
Hochmut und Selbstüberschätzung des Protestanten aus

reste“ der Religion, die er für die Schwenkung des Meisters
verantwortlich macht und von denen er behauptet, sie seien
dem „germanischen Wesen“ fremd und zuwider 122). Ja,
er bezeichnet die christliche Moral als das eigentliche
Verderben, statt eben diese Moral zum Ausgangspunkt einer
Kritik der Staatsidee zu nehmen.

Jetzt findet er: „Die Verneinung des Lebens ist nicht
mehr so leicht zu erreichen: man mag Einsiedler oder
Mönch sein — was ist da verneint?“ Und: „Es gibt so-
viele Arten angenehmer Empfindung, dass ich verzweifle,
das höchste Gut zu bestimmen“. Statt in die Schule des
frühen Mittelalters, begibt er sich in die der französischen
Moralisten des ancien régime, und in die Schule der Feuer-
bach, Bauer und Stirner. Den germanischen „Urtext“ sucht
er wiederherzustellen, den „eigentlichen“ Naturzustand des
Germanen, die vorchristliche Wildheit, um, wie er glaubt,
eine reine Nation nach Ausscheidung orientalischer,
jüdischer Moralismen zu erreichen; und sucht das kommende
Genie vor jener Ideenverwirrung und Stagnation zu retten,
der er Wagner verfallen sah 123). Das gewitzigte Individuum
wird ihm mit Luther, Kant und Stirner Garant des Gewissens,
und so gerät er, wenn auch aus Geschmacksgründen gegen
die Reformation, doch in ihre Bahn und in eine Position,
die dem seit 1789 neu erwachten Kollektivbewusstsein der
Völker widerspricht.

Noch in der unter Wagners Einfluss geschriebenen
„Geburt der Tragödie“ hatte er eine tragische Kultur pro-
phezeit und die Auflösung des Individuums in der Tra-
gödie befürwortet. Jetzt glaubte er radikaler zu sein, wenn
er den Kampf gegen die Kirche zum Kampf gegen das
Christentum als gegen die Philister- und Herdensanktion,
ja gegen die Moral selbst ausdehnte 124). Gerade die christ-
lichsten, menschlichsten Tugenden greift er an: Nächsten-
liebe, Mitleid, Charität. Der Pastorensohn regt sich in ihm.
Hochmut und Selbstüberschätzung des Protestanten aus

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[226/0234] reste“ der Religion, die er für die Schwenkung des Meisters verantwortlich macht und von denen er behauptet, sie seien dem „germanischen Wesen“ fremd und zuwider ¹²²⁾ . Ja, er bezeichnet die christliche Moral als das eigentliche Verderben, statt eben diese Moral zum Ausgangspunkt einer Kritik der Staatsidee zu nehmen. Jetzt findet er: „Die Verneinung des Lebens ist nicht mehr so leicht zu erreichen: man mag Einsiedler oder Mönch sein — was ist da verneint?“ Und: „Es gibt so- viele Arten angenehmer Empfindung, dass ich verzweifle, das höchste Gut zu bestimmen“. Statt in die Schule des frühen Mittelalters, begibt er sich in die der französischen Moralisten des ancien régime, und in die Schule der Feuer- bach, Bauer und Stirner. Den germanischen „Urtext“ sucht er wiederherzustellen, den „eigentlichen“ Naturzustand des Germanen, die vorchristliche Wildheit, um, wie er glaubt, eine reine Nation nach Ausscheidung orientalischer, jüdischer Moralismen zu erreichen; und sucht das kommende Genie vor jener Ideenverwirrung und Stagnation zu retten, der er Wagner verfallen sah ¹²³⁾ . Das gewitzigte Individuum wird ihm mit Luther, Kant und Stirner Garant des Gewissens, und so gerät er, wenn auch aus Geschmacksgründen gegen die Reformation, doch in ihre Bahn und in eine Position, die dem seit 1789 neu erwachten Kollektivbewusstsein der Völker widerspricht. Noch in der unter Wagners Einfluss geschriebenen „Geburt der Tragödie“ hatte er eine tragische Kultur pro- phezeit und die Auflösung des Individuums in der Tra- gödie befürwortet. Jetzt glaubte er radikaler zu sein, wenn er den Kampf gegen die Kirche zum Kampf gegen das Christentum als gegen die Philister- und Herdensanktion, ja gegen die Moral selbst ausdehnte ¹²⁴⁾ . Gerade die christ- lichsten, menschlichsten Tugenden greift er an: Nächsten- liebe, Mitleid, Charität. Der Pastorensohn regt sich in ihm. Hochmut und Selbstüberschätzung des Protestanten aus

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/234>, abgerufen am 29.04.2024.