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Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881.

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Menschen ein klarer Durchblick nicht erlangen lässt, abgezogen
zu werden, ist die gesammte Energie und Thätigkeit auf die
(in directer oder indirecter Weise auf das Engste mit dem
Fortschritt der Wissenschaft verknüpften) Verbesserungen des
gegenwärtigen Lebens in seinem staatlichen Gesellschafts-
organismus zu richten, und im Festhalten an der von der
Natur überall und deutlichst verkündeten Lehre, dass für
Wohlfahrt und Wohlergehen die erste unerlässlichste Grund-
und Vorbedingung in der Gesundheit gegeben ist, wird
ein Anstreben, auch geistiger, Gesundheit die idealen Interessen

dauer im liebevollen Andenken" (Rablis Meir). Damit begeisterten sich auch
die Maori oder (s. Turner) Neu-Caledonier wenn sie um Futter für die
Cannibalenfeste kämpften, und die Neu-Caledonier höhnten es (1845) als
ein "parcel of lies", was die Weissen erzählt: "Rotten flesh and bones live
again". "Bei den gebildetsten Völkern trifft man auf Gebräuche und
Anordnungen, welche der Verachtung des unwissendsten Wilden werth
sind" (Graberg von Hemsö). Nur in seinen populären Schriften brachte
Maimonides die von den Talmudgläubigen verketzerte Unsterblichkeitslehre
zum Vortrag, und im More Nebuchim, "für einen engeren Leserkreis"
geschrieben, "erklärte er ausschliesslich nur die einzelnen Gedanken und
Ideen, abgesondert und abgezogen von der subjectiven Denkkraft der Seele,
welche sie im Leben gezeugt, und zwar nur die der höheren Gelehrten
und Weisen, die durch Erhabenheit und Wahrheit eine objective Realität
erlangt haben, d. h. zu für sich bestehenden, ewigen Wahrheiten geworden
sind, für unsterblich" (s. Simchowitz). Philosophische Aristokratie wäre
nicht viel besser, als clericale Arroganz. Nicht auf die Evolutionsweite
abstruser Gelehrsamkeit kommt es an, sondern auf das harmonisch gesunde
Gleichgewicht im Denkorganismus, das im kleinen und engen Kreise
erreichbarer oft, als im grössten. Daneben allerdings waltet der Wachsthums-
trieb, der nicht zu hemmen (und, um die Gesundheit vor Schädigung zu
bewahren, auch nicht gehemmt werden darf), im Geiste dahinstrebend, die
Aussenwelt im Wissen zu absorbiren. So gross dann der Abstand im
Wissen relativ auch erscheinen mag, zwischen den Klassen der Zusammen-
gesellten, er bleibt ein Minimum im Universum, dem noch nicht Gewussten
gegenüber. Dem einwohnenden Streben hat Jeder zu folgen, aber innerhalb
harmonischer Gleichgewichtsgesetze, deren bedachtloses Ueberschreiten im
scheinbaren Fortschritt, zur Selbstzersetzung führen würde (wie stets bei
krankhaften Störungen des Organischen). So gilt der Wahlspruch: Klar
und wahr mit sich selbst! sei es im kleineren oder kleinsten Kreise, sei es
im grösseren (je nach dem Maass der Kräfte).

Menschen ein klarer Durchblick nicht erlangen lässt, abgezogen
zu werden, ist die gesammte Energie und Thätigkeit auf die
(in directer oder indirecter Weise auf das Engste mit dem
Fortschritt der Wissenschaft verknüpften) Verbesserungen des
gegenwärtigen Lebens in seinem staatlichen Gesellschafts-
organismus zu richten, und im Festhalten an der von der
Natur überall und deutlichst verkündeten Lehre, dass für
Wohlfahrt und Wohlergehen die erste unerlässlichste Grund-
und Vorbedingung in der Gesundheit gegeben ist, wird
ein Anstreben, auch geistiger, Gesundheit die idealen Interessen

dauer im liebevollen Andenken“ (Rablis Meïr). Damit begeisterten sich auch
die Maori oder (s. Turner) Neu-Caledonier wenn sie um Futter für die
Cannibalenfeste kämpften, und die Neu-Caledonier höhnten es (1845) als
ein „parcel of lies“, was die Weissen erzählt: „Rotten flesh and bones live
again“. „Bei den gebildetsten Völkern trifft man auf Gebräuche und
Anordnungen, welche der Verachtung des unwissendsten Wilden werth
sind“ (Graberg von Hemsö). Nur in seinen populären Schriften brachte
Maimonides die von den Talmudgläubigen verketzerte Unsterblichkeitslehre
zum Vortrag, und im More Nebuchim, „für einen engeren Leserkreis“
geschrieben, „erklärte er ausschliesslich nur die einzelnen Gedanken und
Ideen, abgesondert und abgezogen von der subjectiven Denkkraft der Seele,
welche sie im Leben gezeugt, und zwar nur die der höheren Gelehrten
und Weisen, die durch Erhabenheit und Wahrheit eine objective Realität
erlangt haben, d. h. zu für sich bestehenden, ewigen Wahrheiten geworden
sind, für unsterblich“ (s. Simchowitz). Philosophische Aristokratie wäre
nicht viel besser, als clericale Arroganz. Nicht auf die Evolutionsweite
abstruser Gelehrsamkeit kommt es an, sondern auf das harmonisch gesunde
Gleichgewicht im Denkorganismus, das im kleinen und engen Kreise
erreichbarer oft, als im grössten. Daneben allerdings waltet der Wachsthums-
trieb, der nicht zu hemmen (und, um die Gesundheit vor Schädigung zu
bewahren, auch nicht gehemmt werden darf), im Geiste dahinstrebend, die
Aussenwelt im Wissen zu absorbiren. So gross dann der Abstand im
Wissen relativ auch erscheinen mag, zwischen den Klassen der Zusammen-
gesellten, er bleibt ein Minimum im Universum, dem noch nicht Gewussten
gegenüber. Dem einwohnenden Streben hat Jeder zu folgen, aber innerhalb
harmonischer Gleichgewichtsgesetze, deren bedachtloses Ueberschreiten im
scheinbaren Fortschritt, zur Selbstzersetzung führen würde (wie stets bei
krankhaften Störungen des Organischen). So gilt der Wahlspruch: Klar
und wahr mit sich selbst! sei es im kleineren oder kleinsten Kreise, sei es
im grösseren (je nach dem Maass der Kräfte).
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[138/0172] Menschen ein klarer Durchblick nicht erlangen lässt, abgezogen zu werden, ist die gesammte Energie und Thätigkeit auf die (in directer oder indirecter Weise auf das Engste mit dem Fortschritt der Wissenschaft verknüpften) Verbesserungen des gegenwärtigen Lebens in seinem staatlichen Gesellschafts- organismus zu richten, und im Festhalten an der von der Natur überall und deutlichst verkündeten Lehre, dass für Wohlfahrt und Wohlergehen die erste unerlässlichste Grund- und Vorbedingung in der Gesundheit gegeben ist, wird ein Anstreben, auch geistiger, Gesundheit die idealen Interessen **) **) dauer im liebevollen Andenken“ (Rablis Meïr). Damit begeisterten sich auch die Maori oder (s. Turner) Neu-Caledonier wenn sie um Futter für die Cannibalenfeste kämpften, und die Neu-Caledonier höhnten es (1845) als ein „parcel of lies“, was die Weissen erzählt: „Rotten flesh and bones live again“. „Bei den gebildetsten Völkern trifft man auf Gebräuche und Anordnungen, welche der Verachtung des unwissendsten Wilden werth sind“ (Graberg von Hemsö). Nur in seinen populären Schriften brachte Maimonides die von den Talmudgläubigen verketzerte Unsterblichkeitslehre zum Vortrag, und im More Nebuchim, „für einen engeren Leserkreis“ geschrieben, „erklärte er ausschliesslich nur die einzelnen Gedanken und Ideen, abgesondert und abgezogen von der subjectiven Denkkraft der Seele, welche sie im Leben gezeugt, und zwar nur die der höheren Gelehrten und Weisen, die durch Erhabenheit und Wahrheit eine objective Realität erlangt haben, d. h. zu für sich bestehenden, ewigen Wahrheiten geworden sind, für unsterblich“ (s. Simchowitz). Philosophische Aristokratie wäre nicht viel besser, als clericale Arroganz. Nicht auf die Evolutionsweite abstruser Gelehrsamkeit kommt es an, sondern auf das harmonisch gesunde Gleichgewicht im Denkorganismus, das im kleinen und engen Kreise erreichbarer oft, als im grössten. Daneben allerdings waltet der Wachsthums- trieb, der nicht zu hemmen (und, um die Gesundheit vor Schädigung zu bewahren, auch nicht gehemmt werden darf), im Geiste dahinstrebend, die Aussenwelt im Wissen zu absorbiren. So gross dann der Abstand im Wissen relativ auch erscheinen mag, zwischen den Klassen der Zusammen- gesellten, er bleibt ein Minimum im Universum, dem noch nicht Gewussten gegenüber. Dem einwohnenden Streben hat Jeder zu folgen, aber innerhalb harmonischer Gleichgewichtsgesetze, deren bedachtloses Ueberschreiten im scheinbaren Fortschritt, zur Selbstzersetzung führen würde (wie stets bei krankhaften Störungen des Organischen). So gilt der Wahlspruch: Klar und wahr mit sich selbst! sei es im kleineren oder kleinsten Kreise, sei es im grösseren (je nach dem Maass der Kräfte).

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Zitationshilfe: Bastian, Adolf: Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen. Berlin, 1881, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bastian_voelkergedanke_1881/172>, abgerufen am 12.05.2024.