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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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2. Die Mittel, welche die didaktische Poesie im wirklichen Lehrgedicht zur p2b_220.002
Darstellung und Klarlegung der Wahrheit anwendet, sind:

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a. Die poetische Definition, die mit der logischen Prosa-Definition p2b_220.004
kaum die Form gemein hat, indem sie Begriffe zur Erklärung häuft, während p2b_220.005
jene nur die Kennzeichen des Begriffs einzeln vorführt.

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Beispiel:

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Vater ist, der alle Kinder, p2b_220.008
Keines mehr und keines minder, p2b_220.009
Liebt und jedes mehr als sich; p2b_220.010
Solche Lieb ist väterlich.
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Vater ist, der einen Bissen p2b_220.012
Misset eh'r, als lässet missen, p2b_220.013
Der den Kindern teilt sein Brot p2b_220.014
Und für sich behält die Not.
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Vater ist, der seine Rute p2b_220.016
Jhnen führt, nicht sich zu Gute, p2b_220.017
Und den Streich sich selber giebt, p2b_220.018
Den er dem giebt, was er liebt.
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Vater ist, der alle kennet, p2b_220.020
Mit dem Namen alle nennet, p2b_220.021
Und in seinem kleinen Reich p2b_220.022
Alle hält in Liebe gleich.
(Rückert.)

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b. Die poetische Jnduktion, welche die Wahrheit in Beispielen zeigt.

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Beispiel:

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Viel rühmen dich, Warum? aus Überzeugung? Nein! p2b_220.026
Man lehrt durch Höflichkeit dich wieder höflich sein. p2b_220.027
Warum hat dich Krispin so vielfach schon erhoben? p2b_220.028
Er wird dein Lob, um sich der Welt selbst einzuloben. p2b_220.029
Der Redner rühmet dich, nicht, weil du's würdig bist, p2b_220.030
Nein, um uns darzuthun, daß er ein Redner ist. p2b_220.031
Hier spricht ein Tisch von dir. Wie? schätzen dich die Blöden? p2b_220.032
O nein, sie wollten jetzt nicht mehr vom Wetter reden. p2b_220.033
Sarkast lobt heute dich; warum? dächtst du es wohl? p2b_220.034
Damit sein künft'ger Spott mehr Eindruck machen soll.
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(Aus Gellerts Reichtum und Ehre.)

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c. Die poetische Analogie, welche die Ähnlichkeit des Gegenstandes p2b_220.037
in Beziehung mit anderen setzt. (Vgl. als Probe "Dem Liebesänger" unter p2b_220.038
I. der Beispiele.)

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d. Die poetische Jndividualisation, welche statt eines abstrakten p2b_220.040
Begriffes die untergeordneten Jndividuen nimmt. (Vgl. als Beispiel die gute p2b_220.041
Lehre des Bettlers unter II.)

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2. Die Mittel, welche die didaktische Poesie im wirklichen Lehrgedicht zur p2b_220.002
Darstellung und Klarlegung der Wahrheit anwendet, sind:

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a. Die poetische Definition, die mit der logischen Prosa-Definition p2b_220.004
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b. Die poetische Jnduktion, welche die Wahrheit in Beispielen zeigt.

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Beispiel:

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/242>, abgerufen am 30.04.2024.