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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Capitel. II. Bodengestalt und Naturerscheinungen.
lernen sich selber helfen in der Gefahr. Sie werden zu Män-
nern erzogen. Die vielverzweigte und durchklüftete Natur
des Bodens begünstigt die Entstehung kleiner Gemeinwesen
in den mancherlei Bergthälern, die sich ihrer Eigenart selb-
ständig erfreuen und sich trotzig wehren wider fremde Ge-
walt. Die Perser, wie die Israeliten und Araber, die Völker
am Kaukasus wie die Hellenen, die Samniter wie die Schweizer
bezeugen diese Eigenthümlichkeit. Aber der Freiheitssinn der
Gebirgsvölker hat einen etwas anderen Charakter als die Frei-
heitsliebe der Küstenbewohner. Jener hat, wie das Gebirg,
mehr ruhige Härte und Festigkeit, dieser ist gleich dem
Meere beweglicher und zur Veränderung geneigter. Es war
für die Römer eine besonders glückliche Lage, dasz sie zugleich
von einem Gebirgskreis umlagert und der See nahe waren.

Langsamer entwickeln sich die Binnenländer, zumal
mit breiten gleichmäszigen Ebenen. Die Natur wirkt hier
nicht so anregend auf die Menschen und deszhalb wächst die
Cultur, welche jene Mängel ersetzen musz, nur allmählich
heran. Später als in Italien hat sich in Frankreich, später
als in England hat sich in Deutschland der Stat entwickelt.

Am ungünstigsten ist die Lage weiter vom Meere aus-
geschlossener Flachländer, ohne grosze Ströme und ohne
Gebirge, aber mit weiten Steppen oder gar Wüsten. Man
braucht nur Europa mit Afrika, oder Mittelasien mit den
asiatischen Küstenländern oder Westeuropa mit Osteuropa zu
vergleichen, um diesen Unterschied anschaulich zu machen.
Von jeher haben die Despotien in solchen Flachländern eine
duldsame Bevölkerung vorgefunden, welche stumpfsinnig und
widerstandslos der absoluten Monarchie gehorcht.

Zwar sind auch diese Bedingungen der Natur vorerst an-
zunehmen, wie sie sind. Indessen hat der Mensch in dieser
Hinsicht mehr Macht, als gegenüber dem Klima. Die Politik
kann freilich im Groszen auch nicht Berge versetzen, noch
Meere herbei zaubern. Aber sie kann ungezähmte Flüsse

Zweites Capitel. II. Bodengestalt und Naturerscheinungen.
lernen sich selber helfen in der Gefahr. Sie werden zu Män-
nern erzogen. Die vielverzweigte und durchklüftete Natur
des Bodens begünstigt die Entstehung kleiner Gemeinwesen
in den mancherlei Bergthälern, die sich ihrer Eigenart selb-
ständig erfreuen und sich trotzig wehren wider fremde Ge-
walt. Die Perser, wie die Israeliten und Araber, die Völker
am Kaukasus wie die Hellenen, die Samniter wie die Schweizer
bezeugen diese Eigenthümlichkeit. Aber der Freiheitssinn der
Gebirgsvölker hat einen etwas anderen Charakter als die Frei-
heitsliebe der Küstenbewohner. Jener hat, wie das Gebirg,
mehr ruhige Härte und Festigkeit, dieser ist gleich dem
Meere beweglicher und zur Veränderung geneigter. Es war
für die Römer eine besonders glückliche Lage, dasz sie zugleich
von einem Gebirgskreis umlagert und der See nahe waren.

Langsamer entwickeln sich die Binnenländer, zumal
mit breiten gleichmäszigen Ebenen. Die Natur wirkt hier
nicht so anregend auf die Menschen und deszhalb wächst die
Cultur, welche jene Mängel ersetzen musz, nur allmählich
heran. Später als in Italien hat sich in Frankreich, später
als in England hat sich in Deutschland der Stat entwickelt.

Am ungünstigsten ist die Lage weiter vom Meere aus-
geschlossener Flachländer, ohne grosze Ströme und ohne
Gebirge, aber mit weiten Steppen oder gar Wüsten. Man
braucht nur Europa mit Afrika, oder Mittelasien mit den
asiatischen Küstenländern oder Westeuropa mit Osteuropa zu
vergleichen, um diesen Unterschied anschaulich zu machen.
Von jeher haben die Despotien in solchen Flachländern eine
duldsame Bevölkerung vorgefunden, welche stumpfsinnig und
widerstandslos der absoluten Monarchie gehorcht.

Zwar sind auch diese Bedingungen der Natur vorerst an-
zunehmen, wie sie sind. Indessen hat der Mensch in dieser
Hinsicht mehr Macht, als gegenüber dem Klima. Die Politik
kann freilich im Groszen auch nicht Berge versetzen, noch
Meere herbei zaubern. Aber sie kann ungezähmte Flüsse

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[261/0279] Zweites Capitel. II. Bodengestalt und Naturerscheinungen. lernen sich selber helfen in der Gefahr. Sie werden zu Män- nern erzogen. Die vielverzweigte und durchklüftete Natur des Bodens begünstigt die Entstehung kleiner Gemeinwesen in den mancherlei Bergthälern, die sich ihrer Eigenart selb- ständig erfreuen und sich trotzig wehren wider fremde Ge- walt. Die Perser, wie die Israeliten und Araber, die Völker am Kaukasus wie die Hellenen, die Samniter wie die Schweizer bezeugen diese Eigenthümlichkeit. Aber der Freiheitssinn der Gebirgsvölker hat einen etwas anderen Charakter als die Frei- heitsliebe der Küstenbewohner. Jener hat, wie das Gebirg, mehr ruhige Härte und Festigkeit, dieser ist gleich dem Meere beweglicher und zur Veränderung geneigter. Es war für die Römer eine besonders glückliche Lage, dasz sie zugleich von einem Gebirgskreis umlagert und der See nahe waren. Langsamer entwickeln sich die Binnenländer, zumal mit breiten gleichmäszigen Ebenen. Die Natur wirkt hier nicht so anregend auf die Menschen und deszhalb wächst die Cultur, welche jene Mängel ersetzen musz, nur allmählich heran. Später als in Italien hat sich in Frankreich, später als in England hat sich in Deutschland der Stat entwickelt. Am ungünstigsten ist die Lage weiter vom Meere aus- geschlossener Flachländer, ohne grosze Ströme und ohne Gebirge, aber mit weiten Steppen oder gar Wüsten. Man braucht nur Europa mit Afrika, oder Mittelasien mit den asiatischen Küstenländern oder Westeuropa mit Osteuropa zu vergleichen, um diesen Unterschied anschaulich zu machen. Von jeher haben die Despotien in solchen Flachländern eine duldsame Bevölkerung vorgefunden, welche stumpfsinnig und widerstandslos der absoluten Monarchie gehorcht. Zwar sind auch diese Bedingungen der Natur vorerst an- zunehmen, wie sie sind. Indessen hat der Mensch in dieser Hinsicht mehr Macht, als gegenüber dem Klima. Die Politik kann freilich im Groszen auch nicht Berge versetzen, noch Meere herbei zaubern. Aber sie kann ungezähmte Flüsse

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/279>, abgerufen am 30.04.2024.