Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechstes Buch. Die Statsformen.
welche durch sie erfochten wurden, die Verbindung mit den
romanischen Unterthanen, die seit Jahrhunderten in der Cultur
des römischen States erzogen und an die Vorstellungen und
durchgreifenden Einrichtungen des römischen States gewöhnt
waren.

In einer Beziehung freilich machte die Institution der
Monarchie eher einen Rückschritt. Das Princip der Erblich-
keit
nämlich der königlichen Würde, neben welcher die
frühere Kur zu einer ziemlich bedeutungslosen Formalität
zusammenschrumpfte, wurde allzusehr nach der Weise der
privatrechtlichen Erbfolge ausgeübt, und zum Nachtheil des
States und der Nation das Gesammtreich unter mehrere Söhne
des verstorbenen Königs so vertheilt, wie die liegenden Güter,
die ein Privatmann hinterlassen hatte. 2 Damit war aber der
politische und statsrechtliche Charakter der Thron-
folge, welcher die fortdauernde Einheit des States erhält,
gänzlich verkannt, und wurde dem privatrechtlichen Princip,
dasz die Herrschaft im State wie ein Vermögen des Indi-
viduums und der Familie sei, d. h. dem sogenannten Patri-
monialprincip
in dieser Hinsicht gehuldigt. 3

Als hauptsächliche Veränderungen in den Machtver-
hältnissen
sind folgende zu erwähnen:

1. Gesetzgebung. Diese wurde überhaupt wichtiger

2 Karl der Grosze freilich suchte diesen Uebeln einigermaszen zu be-
gegnen durch das Reichsgesetz von 806. "Placuit inter praedictos filios
nostros statuere atque praecipere, propter pacem quam inter eos perma-
nere desideramus, ut nullus eorum fratris sui terminos vel regni limites
invadere praesumat -- ;sed adjuvet unusquisque illorum fratrem suum,
ut auxilium illi ferat contra inimicos ejus juxta rationem et possibilitatem,
sive infra patriam sive contra exteras nationes." In derselben wird auch
der Wahl des Volkes noch Erwähnung gethan, c. 5. Vgl. Eich-
horn
, Deutsche Stats- und Rechtsgesch. I. §. 139 u. 159. Guizot, Es-
sais sur l'hist. de France. S. 206 ff.
3 Demgemäsz wurde die Thronfolge wie das Erbrecht in die "terra
Salica" behandelt. Vgl. Zöpfl, Deutsche Stats- u. Rechtsgesch. II. §. 33.
3te Aufl. S. 403. Waitz, Deutsche Verf.-Gesch. II.

Sechstes Buch. Die Statsformen.
welche durch sie erfochten wurden, die Verbindung mit den
romanischen Unterthanen, die seit Jahrhunderten in der Cultur
des römischen States erzogen und an die Vorstellungen und
durchgreifenden Einrichtungen des römischen States gewöhnt
waren.

In einer Beziehung freilich machte die Institution der
Monarchie eher einen Rückschritt. Das Princip der Erblich-
keit
nämlich der königlichen Würde, neben welcher die
frühere Kur zu einer ziemlich bedeutungslosen Formalität
zusammenschrumpfte, wurde allzusehr nach der Weise der
privatrechtlichen Erbfolge ausgeübt, und zum Nachtheil des
States und der Nation das Gesammtreich unter mehrere Söhne
des verstorbenen Königs so vertheilt, wie die liegenden Güter,
die ein Privatmann hinterlassen hatte. 2 Damit war aber der
politische und statsrechtliche Charakter der Thron-
folge, welcher die fortdauernde Einheit des States erhält,
gänzlich verkannt, und wurde dem privatrechtlichen Princip,
dasz die Herrschaft im State wie ein Vermögen des Indi-
viduums und der Familie sei, d. h. dem sogenannten Patri-
monialprincip
in dieser Hinsicht gehuldigt. 3

Als hauptsächliche Veränderungen in den Machtver-
hältnissen
sind folgende zu erwähnen:

1. Gesetzgebung. Diese wurde überhaupt wichtiger

2 Karl der Grosze freilich suchte diesen Uebeln einigermaszen zu be-
gegnen durch das Reichsgesetz von 806. „Placuit inter praedictos filios
nostros statuere atque praecipere, propter pacem quam inter eos perma-
nere desideramus, ut nullus eorum fratris sui terminos vel regni limites
invadere praesumat — ;sed adjuvet unusquisque illorum fratrem suum,
ut auxilium illi ferat contra inimicos ejus juxta rationem et possibilitatem,
sive infra patriam sive contra exteras nationes.“ In derselben wird auch
der Wahl des Volkes noch Erwähnung gethan, c. 5. Vgl. Eich-
horn
, Deutsche Stats- und Rechtsgesch. I. §. 139 u. 159. Guizot, Es-
sais sur l'hist. de France. S. 206 ff.
3 Demgemäsz wurde die Thronfolge wie das Erbrecht in die „terra
Salica“ behandelt. Vgl. Zöpfl, Deutsche Stats- u. Rechtsgesch. II. §. 33.
3te Aufl. S. 403. Waitz, Deutsche Verf.-Gesch. II.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0440" n="422"/><fw place="top" type="header">Sechstes Buch. Die Statsformen.</fw><lb/>
welche durch sie erfochten wurden, die Verbindung mit den<lb/>
romanischen Unterthanen, die seit Jahrhunderten in der Cultur<lb/>
des römischen States erzogen und an die Vorstellungen und<lb/>
durchgreifenden Einrichtungen des römischen States gewöhnt<lb/>
waren.</p><lb/>
          <p>In einer Beziehung freilich machte die Institution der<lb/>
Monarchie eher einen Rückschritt. Das Princip der <hi rendition="#g">Erblich-<lb/>
keit</hi> nämlich der königlichen Würde, neben welcher die<lb/>
frühere <hi rendition="#g">Kur</hi> zu einer ziemlich bedeutungslosen Formalität<lb/>
zusammenschrumpfte, wurde allzusehr nach der Weise der<lb/>
privatrechtlichen Erbfolge ausgeübt, und zum Nachtheil des<lb/>
States und der Nation das Gesammtreich unter mehrere Söhne<lb/>
des verstorbenen Königs so vertheilt, wie die liegenden Güter,<lb/>
die ein Privatmann hinterlassen hatte. <note place="foot" n="2">Karl der Grosze freilich suchte diesen Uebeln einigermaszen zu be-<lb/>
gegnen durch das Reichsgesetz von 806. &#x201E;Placuit inter praedictos filios<lb/>
nostros statuere atque praecipere, propter pacem quam inter eos perma-<lb/>
nere desideramus, ut nullus eorum fratris sui terminos vel regni limites<lb/>
invadere praesumat &#x2014; ;sed <hi rendition="#i">adjuvet</hi> unusquisque illorum fratrem suum,<lb/>
ut <hi rendition="#i">auxilium illi ferat contra inimicos ejus</hi> juxta rationem et possibilitatem,<lb/>
sive infra patriam sive contra exteras nationes.&#x201C; In derselben wird auch<lb/>
der <hi rendition="#g">Wahl des Volkes</hi> noch Erwähnung gethan, c. 5. Vgl. <hi rendition="#g">Eich-<lb/>
horn</hi>, Deutsche Stats- und Rechtsgesch. I. §. 139 u. 159. <hi rendition="#g">Guizot</hi>, Es-<lb/>
sais sur l'hist. de France. S. 206 ff.</note> Damit war aber der<lb/><hi rendition="#g">politische</hi> und <hi rendition="#g">statsrechtliche</hi> Charakter der Thron-<lb/>
folge, welcher die fortdauernde <hi rendition="#g">Einheit</hi> des States erhält,<lb/>
gänzlich verkannt, und wurde dem privatrechtlichen Princip,<lb/>
dasz die Herrschaft im State wie ein <hi rendition="#g">Vermögen</hi> des Indi-<lb/>
viduums und der Familie sei, d. h. dem sogenannten <hi rendition="#g">Patri-<lb/>
monialprincip</hi> in dieser Hinsicht gehuldigt. <note place="foot" n="3">Demgemäsz wurde die Thronfolge wie das Erbrecht in die &#x201E;terra<lb/>
Salica&#x201C; behandelt. Vgl. <hi rendition="#g">Zöpfl</hi>, Deutsche Stats- u. Rechtsgesch. II. §. 33.<lb/>
3te Aufl. S. 403. <hi rendition="#g">Waitz</hi>, Deutsche Verf.-Gesch. II.</note></p><lb/>
          <p>Als hauptsächliche Veränderungen in den <hi rendition="#g">Machtver-<lb/>
hältnissen</hi> sind folgende zu erwähnen:</p><lb/>
          <p>1. <hi rendition="#g">Gesetzgebung</hi>. Diese wurde überhaupt wichtiger<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[422/0440] Sechstes Buch. Die Statsformen. welche durch sie erfochten wurden, die Verbindung mit den romanischen Unterthanen, die seit Jahrhunderten in der Cultur des römischen States erzogen und an die Vorstellungen und durchgreifenden Einrichtungen des römischen States gewöhnt waren. In einer Beziehung freilich machte die Institution der Monarchie eher einen Rückschritt. Das Princip der Erblich- keit nämlich der königlichen Würde, neben welcher die frühere Kur zu einer ziemlich bedeutungslosen Formalität zusammenschrumpfte, wurde allzusehr nach der Weise der privatrechtlichen Erbfolge ausgeübt, und zum Nachtheil des States und der Nation das Gesammtreich unter mehrere Söhne des verstorbenen Königs so vertheilt, wie die liegenden Güter, die ein Privatmann hinterlassen hatte. 2 Damit war aber der politische und statsrechtliche Charakter der Thron- folge, welcher die fortdauernde Einheit des States erhält, gänzlich verkannt, und wurde dem privatrechtlichen Princip, dasz die Herrschaft im State wie ein Vermögen des Indi- viduums und der Familie sei, d. h. dem sogenannten Patri- monialprincip in dieser Hinsicht gehuldigt. 3 Als hauptsächliche Veränderungen in den Machtver- hältnissen sind folgende zu erwähnen: 1. Gesetzgebung. Diese wurde überhaupt wichtiger 2 Karl der Grosze freilich suchte diesen Uebeln einigermaszen zu be- gegnen durch das Reichsgesetz von 806. „Placuit inter praedictos filios nostros statuere atque praecipere, propter pacem quam inter eos perma- nere desideramus, ut nullus eorum fratris sui terminos vel regni limites invadere praesumat — ;sed adjuvet unusquisque illorum fratrem suum, ut auxilium illi ferat contra inimicos ejus juxta rationem et possibilitatem, sive infra patriam sive contra exteras nationes.“ In derselben wird auch der Wahl des Volkes noch Erwähnung gethan, c. 5. Vgl. Eich- horn, Deutsche Stats- und Rechtsgesch. I. §. 139 u. 159. Guizot, Es- sais sur l'hist. de France. S. 206 ff. 3 Demgemäsz wurde die Thronfolge wie das Erbrecht in die „terra Salica“ behandelt. Vgl. Zöpfl, Deutsche Stats- u. Rechtsgesch. II. §. 33. 3te Aufl. S. 403. Waitz, Deutsche Verf.-Gesch. II.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/440
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/440>, abgerufen am 26.04.2024.