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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Capitel. Der Begriff der Souveränetät (Statshoheit).
und nach innen durch die eigene Natur und durch das Recht
seiner Glieder und der Individuen in ihm beschränkt. 2

Die deutsche Sprache hat keinen völlig entsprechenden
Ausdruck. Die "Obergewalt" oder wie die ältere Statssprache
in der Schweiz lautete "der höchste und gröszte Gewalt" 3
bezeichnet nur die Autorität nach Innen, nicht zugleich die
Selbständigkeit nach Auszen. Das Wort "Statshoheit" be-
zeichnet aber die Würde (majestas) als die Macht des Stats.
Der Ausdruck "Statsgewalt" erinnert weniger an die Würde
als an die Machtentfaltung. Wir sind daher genöthigt, um
beides zusammen zu fassen, was der Eine Ausdruck Sou-
veränetät besagt, von "Statshoheit und Statsgewalt" zu reden.
Indessen haben die deutschen Ausdrücke doch den Vorzug,
dasz sie weniger als der französische zu dem Miszverständ-
nisz der absoluten Gewalt verleiten. Je nach Umständen wer-
den wir übrigens auch nur eine der beiden Bezeichnungen
brauchen.

Die Eigenschaften der Souveränetät sind:

1. Unabhängigkeit der Statsgewalt von jeder über-
geordneten Statsautorität. Auch diese Unabhängigkeit ist
nur relativ, nicht absolut zu verstehen. Das Völkerrecht,
welches alle Staten zu einer gemeinsamen Rechtsordnung
verbindet, ist ebenso wenig in Widerspruch mit der Souve-
ränetät der Staten, als das Verfassungsrecht, welches die Aus-
übung der Statsgewalt innerhalb des Statsgebiets beschränkt.
Umdeszwillen ist es möglich, dasz Länderstaten noch als
souverän geachtet bleiben, obwohl sie in wesentlichen Dingen,
wie z. B. äuszere Politik- und Heeresmacht, von dem gröszeren
Gesammtstat abhängig geworden sind.


2 Hannoversche Erklärung von 1814 bei Hormayr Lebensbilder
I, S. 111: "In dem Begriffe der Souveränetätsrechte liegt keine Idee der
Despotie. Der König von Groszbritannien ist unläugbar ebenso souve-
rän als jeder andere Fürst in Europa, und die Freiheiten seines Volks
befestigen seinen Thron, anstatt ihn zu untergraben."
3 Blumer Rechtsgesch. der Schweizer Demokratien II. 140. 141.

Erstes Capitel. Der Begriff der Souveränetät (Statshoheit).
und nach innen durch die eigene Natur und durch das Recht
seiner Glieder und der Individuen in ihm beschränkt. 2

Die deutsche Sprache hat keinen völlig entsprechenden
Ausdruck. Die „Obergewalt“ oder wie die ältere Statssprache
in der Schweiz lautete „der höchste und gröszte Gewalt“ 3
bezeichnet nur die Autorität nach Innen, nicht zugleich die
Selbständigkeit nach Auszen. Das Wort „Statshoheit“ be-
zeichnet aber die Würde (majestas) als die Macht des Stats.
Der Ausdruck „Statsgewalt“ erinnert weniger an die Würde
als an die Machtentfaltung. Wir sind daher genöthigt, um
beides zusammen zu fassen, was der Eine Ausdruck Sou-
veränetät besagt, von „Statshoheit und Statsgewalt“ zu reden.
Indessen haben die deutschen Ausdrücke doch den Vorzug,
dasz sie weniger als der französische zu dem Miszverständ-
nisz der absoluten Gewalt verleiten. Je nach Umständen wer-
den wir übrigens auch nur eine der beiden Bezeichnungen
brauchen.

Die Eigenschaften der Souveränetät sind:

1. Unabhängigkeit der Statsgewalt von jeder über-
geordneten Statsautorität. Auch diese Unabhängigkeit ist
nur relativ, nicht absolut zu verstehen. Das Völkerrecht,
welches alle Staten zu einer gemeinsamen Rechtsordnung
verbindet, ist ebenso wenig in Widerspruch mit der Souve-
ränetät der Staten, als das Verfassungsrecht, welches die Aus-
übung der Statsgewalt innerhalb des Statsgebiets beschränkt.
Umdeszwillen ist es möglich, dasz Länderstaten noch als
souverän geachtet bleiben, obwohl sie in wesentlichen Dingen,
wie z. B. äuszere Politik- und Heeresmacht, von dem gröszeren
Gesammtstat abhängig geworden sind.


2 Hannoversche Erklärung von 1814 bei Hormayr Lebensbilder
I, S. 111: „In dem Begriffe der Souveränetätsrechte liegt keine Idee der
Despotie. Der König von Groszbritannien ist unläugbar ebenso souve-
rän als jeder andere Fürst in Europa, und die Freiheiten seines Volks
befestigen seinen Thron, anstatt ihn zu untergraben.“
3 Blumer Rechtsgesch. der Schweizer Demokratien II. 140. 141.
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[563/0581] Erstes Capitel. Der Begriff der Souveränetät (Statshoheit). und nach innen durch die eigene Natur und durch das Recht seiner Glieder und der Individuen in ihm beschränkt. 2 Die deutsche Sprache hat keinen völlig entsprechenden Ausdruck. Die „Obergewalt“ oder wie die ältere Statssprache in der Schweiz lautete „der höchste und gröszte Gewalt“ 3 bezeichnet nur die Autorität nach Innen, nicht zugleich die Selbständigkeit nach Auszen. Das Wort „Statshoheit“ be- zeichnet aber die Würde (majestas) als die Macht des Stats. Der Ausdruck „Statsgewalt“ erinnert weniger an die Würde als an die Machtentfaltung. Wir sind daher genöthigt, um beides zusammen zu fassen, was der Eine Ausdruck Sou- veränetät besagt, von „Statshoheit und Statsgewalt“ zu reden. Indessen haben die deutschen Ausdrücke doch den Vorzug, dasz sie weniger als der französische zu dem Miszverständ- nisz der absoluten Gewalt verleiten. Je nach Umständen wer- den wir übrigens auch nur eine der beiden Bezeichnungen brauchen. Die Eigenschaften der Souveränetät sind: 1. Unabhängigkeit der Statsgewalt von jeder über- geordneten Statsautorität. Auch diese Unabhängigkeit ist nur relativ, nicht absolut zu verstehen. Das Völkerrecht, welches alle Staten zu einer gemeinsamen Rechtsordnung verbindet, ist ebenso wenig in Widerspruch mit der Souve- ränetät der Staten, als das Verfassungsrecht, welches die Aus- übung der Statsgewalt innerhalb des Statsgebiets beschränkt. Umdeszwillen ist es möglich, dasz Länderstaten noch als souverän geachtet bleiben, obwohl sie in wesentlichen Dingen, wie z. B. äuszere Politik- und Heeresmacht, von dem gröszeren Gesammtstat abhängig geworden sind. 2 Hannoversche Erklärung von 1814 bei Hormayr Lebensbilder I, S. 111: „In dem Begriffe der Souveränetätsrechte liegt keine Idee der Despotie. Der König von Groszbritannien ist unläugbar ebenso souve- rän als jeder andere Fürst in Europa, und die Freiheiten seines Volks befestigen seinen Thron, anstatt ihn zu untergraben.“ 3 Blumer Rechtsgesch. der Schweizer Demokratien II. 140. 141.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 563. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/581>, abgerufen am 27.04.2024.