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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Capitel. Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen.

Er bezieht die erste auf die groszen allgemeinen Stats-
angelegenheiten, die politische Gesammtleitung, rechnet dahin
die Entscheidung über Krieg und Frieden, über Schlieszung
oder Auflösung von Bündniszen, über die Gesetze, über die
Todesstrafe, die Verbannung, die Confiscation und über die
Rechenschaft der Finanzverwaltung. Man sieht, es sind sehr
verschiedenartige Dinge gemischt, auswärtige Politik und Ge-
setzgebung, aber auch höchste Strafgerichtsbarkeit und Con-
trole der Regierung, aber sie sind alle ausgezeichnet durch
ihre grosze politische Bedeutung für das ganze Statswesen
und für die Sicherheit der Bürger. Aristoteles nennt das,
nicht wie wir heute, Gesetzgebung sondern "Berathung", viel-
leicht weil die eigentliche Gesetzgebung erst später von den
Volksversammlungen geübt, und selbst da nur mittelbar geübt
wurde, dagegen die vorherige Berathung in der Volksver-
sammlung auf die wichtigsten Dinge maszgebend wirkte.

Die zweite Gattung von Functionen entspricht einiger-
maszen dem, was die heutigen Verfassungen "vollziehende Ge-
walt" nennen, ist aber richtiger durch die Hinweisung auf
die obrigkeitlichen Aemter bezeichnet.

Die dritte Classe entspricht unsrer Gerichtsgewalt.

Aber während so objectiv die verschiedenen Functionen
aus einander gehalten werden, so sind sie noch subjectiv oft
verbunden. Wir haben schon bemerkt, dasz die athenische
Ekklesie zugleich über Gesetze beräth, wichtige Regierungs-
handlungen vollzieht und indem sie über die höchsten
Strafen entscheidet, auch richterliche Functionen ausübt.
Die Archonten übten die Verwaltung aus und leiteten zugleich
die Gerichte.

Der römische Stat ist reicher an ausgebildeten und
mit einem bedeutenden Machtkreise ausgerüsteten Organen.
In ihm ist auch die auf die Gesetzgebung bezügliche Thätig-
keit der Comitien bereits schärfer gesondert von den Func-
tionen des Senats und der Magistrate. Indessen auch

Sechstes Capitel. Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen.

Er bezieht die erste auf die groszen allgemeinen Stats-
angelegenheiten, die politische Gesammtleitung, rechnet dahin
die Entscheidung über Krieg und Frieden, über Schlieszung
oder Auflösung von Bündniszen, über die Gesetze, über die
Todesstrafe, die Verbannung, die Confiscation und über die
Rechenschaft der Finanzverwaltung. Man sieht, es sind sehr
verschiedenartige Dinge gemischt, auswärtige Politik und Ge-
setzgebung, aber auch höchste Strafgerichtsbarkeit und Con-
trole der Regierung, aber sie sind alle ausgezeichnet durch
ihre grosze politische Bedeutung für das ganze Statswesen
und für die Sicherheit der Bürger. Aristoteles nennt das,
nicht wie wir heute, Gesetzgebung sondern „Berathung“, viel-
leicht weil die eigentliche Gesetzgebung erst später von den
Volksversammlungen geübt, und selbst da nur mittelbar geübt
wurde, dagegen die vorherige Berathung in der Volksver-
sammlung auf die wichtigsten Dinge maszgebend wirkte.

Die zweite Gattung von Functionen entspricht einiger-
maszen dem, was die heutigen Verfassungen „vollziehende Ge-
walt“ nennen, ist aber richtiger durch die Hinweisung auf
die obrigkeitlichen Aemter bezeichnet.

Die dritte Classe entspricht unsrer Gerichtsgewalt.

Aber während so objectiv die verschiedenen Functionen
aus einander gehalten werden, so sind sie noch subjectiv oft
verbunden. Wir haben schon bemerkt, dasz die athenische
Ekklesie zugleich über Gesetze beräth, wichtige Regierungs-
handlungen vollzieht und indem sie über die höchsten
Strafen entscheidet, auch richterliche Functionen ausübt.
Die Archonten übten die Verwaltung aus und leiteten zugleich
die Gerichte.

Der römische Stat ist reicher an ausgebildeten und
mit einem bedeutenden Machtkreise ausgerüsteten Organen.
In ihm ist auch die auf die Gesetzgebung bezügliche Thätig-
keit der Comitien bereits schärfer gesondert von den Func-
tionen des Senats und der Magistrate. Indessen auch

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[585/0603] Sechstes Capitel. Aeltere Unterscheidung der statlichen Functionen. Er bezieht die erste auf die groszen allgemeinen Stats- angelegenheiten, die politische Gesammtleitung, rechnet dahin die Entscheidung über Krieg und Frieden, über Schlieszung oder Auflösung von Bündniszen, über die Gesetze, über die Todesstrafe, die Verbannung, die Confiscation und über die Rechenschaft der Finanzverwaltung. Man sieht, es sind sehr verschiedenartige Dinge gemischt, auswärtige Politik und Ge- setzgebung, aber auch höchste Strafgerichtsbarkeit und Con- trole der Regierung, aber sie sind alle ausgezeichnet durch ihre grosze politische Bedeutung für das ganze Statswesen und für die Sicherheit der Bürger. Aristoteles nennt das, nicht wie wir heute, Gesetzgebung sondern „Berathung“, viel- leicht weil die eigentliche Gesetzgebung erst später von den Volksversammlungen geübt, und selbst da nur mittelbar geübt wurde, dagegen die vorherige Berathung in der Volksver- sammlung auf die wichtigsten Dinge maszgebend wirkte. Die zweite Gattung von Functionen entspricht einiger- maszen dem, was die heutigen Verfassungen „vollziehende Ge- walt“ nennen, ist aber richtiger durch die Hinweisung auf die obrigkeitlichen Aemter bezeichnet. Die dritte Classe entspricht unsrer Gerichtsgewalt. Aber während so objectiv die verschiedenen Functionen aus einander gehalten werden, so sind sie noch subjectiv oft verbunden. Wir haben schon bemerkt, dasz die athenische Ekklesie zugleich über Gesetze beräth, wichtige Regierungs- handlungen vollzieht und indem sie über die höchsten Strafen entscheidet, auch richterliche Functionen ausübt. Die Archonten übten die Verwaltung aus und leiteten zugleich die Gerichte. Der römische Stat ist reicher an ausgebildeten und mit einem bedeutenden Machtkreise ausgerüsteten Organen. In ihm ist auch die auf die Gesetzgebung bezügliche Thätig- keit der Comitien bereits schärfer gesondert von den Func- tionen des Senats und der Magistrate. Indessen auch

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/603>, abgerufen am 26.04.2024.