Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
Gesetzen über Eigenthum und Besitz, nicht nach den strafrechtlichen Be-
griffen von Raub und Diebstahl, sondern von dem Standpunkte des Volkes
und des States aus und ihrer Entwicklung zu beurtheilen.

Das aber hat allmählich, nicht ohne Fehlschritte und Mißgriffe, das
moderne Völkerrecht begriffen, indem es den vielfältig durchlöcherten Schnür-
leib der alten Legitimitätsdoctrin abgelegt hat.

Es war ein großer Fortschritt in der Rechtserkenntniß, als man
endlich einsah, daß die Völker lebendige Wesen seien und daß demgemäß
auch das Verfassungs- und Statsrecht, welches als Organisation und
gleichsam als Leib des Volkes sein Leben bedingt und darstellt, diejenigen
Wandlungen vornehmen muß, welche nöthig sind, um die Ent-
wicklung des Volkslebens zu ermöglichen und zu begleiten
. Der
Rechtsbegriff selbst wurde dadurch vergeistigt. Zuvor war er todt und kalt.
Jetzt wurde er voll Leben und Wärme.

Die Wissenschaft ist noch in dieser den Charakter alles öffentlichen
Rechts wandelnden Arbeit begriffen, wie die Welt in der Bewegung begrif-
fen ist, aus dem mittelalterlichen Herren- und Landesrecht die modernen
Volksstaten hervorzubilden.

Aber heute schon dürfen wir getrost als ein Ergebniß der Kämpfe
und Errungenschaften unsers Jahrhunderts folgende moderne von dem
heutigen Völkerrecht wenigstens statsrechtlich gebilligte Rechtssätze aussprechen:

Die Autorität des geschichtlichen und formulirten Rechts verliert in
dem Maße ihre Macht, in dem es offenbar wird, daß dasselbe das Leben
des States gefährde statt demselben zu dienen und die Entwicklung des
öffentlichen Rechts unmöglich macht, statt dieselbe zu reguliren. Alles öf-
fentliche Recht gilt nur, inwiefern es lebenskräftig ist. Neben dem Recht
der statlichen Existenz ist auch das Recht der nationalen Entwicklung
anzuerkennen. Das Völkerrecht ehrt die Ergebnisse der Weltgeschichte und
betrachtet die Verhältnisse, welche sich als nothwendige und fortwir-
kende Grundlagen und Bedingungen des derzeitigen Völkerlebens

manifestiren, nicht bloß als zu duldende Thatsachen, sondern als geschicht-
liche Fortbildung des Rechts
. Das Völkerrecht achtet das Recht der
Völker
, die Form ihres gemeinsamen Verbandes und ihres gemeinsamen
Lebens, d. h. ihre Verfassung selber zu bestimmen.

Bei näherer Erwägung zeigt sich, daß jene Anklage des modernen
Völkerrechts, als sei es rechtlos geworden, völlig eitel ist. Ganz im Ge-
gentheil, es ist der höchste Vorzug und die Ehre der modernen Rechtsansicht,

Einleitung.
Geſetzen über Eigenthum und Beſitz, nicht nach den ſtrafrechtlichen Be-
griffen von Raub und Diebſtahl, ſondern von dem Standpunkte des Volkes
und des States aus und ihrer Entwicklung zu beurtheilen.

Das aber hat allmählich, nicht ohne Fehlſchritte und Mißgriffe, das
moderne Völkerrecht begriffen, indem es den vielfältig durchlöcherten Schnür-
leib der alten Legitimitätsdoctrin abgelegt hat.

Es war ein großer Fortſchritt in der Rechtserkenntniß, als man
endlich einſah, daß die Völker lebendige Weſen ſeien und daß demgemäß
auch das Verfaſſungs- und Statsrecht, welches als Organiſation und
gleichſam als Leib des Volkes ſein Leben bedingt und darſtellt, diejenigen
Wandlungen vornehmen muß, welche nöthig ſind, um die Ent-
wicklung des Volkslebens zu ermöglichen und zu begleiten
. Der
Rechtsbegriff ſelbſt wurde dadurch vergeiſtigt. Zuvor war er todt und kalt.
Jetzt wurde er voll Leben und Wärme.

Die Wiſſenſchaft iſt noch in dieſer den Charakter alles öffentlichen
Rechts wandelnden Arbeit begriffen, wie die Welt in der Bewegung begrif-
fen iſt, aus dem mittelalterlichen Herren- und Landesrecht die modernen
Volksſtaten hervorzubilden.

Aber heute ſchon dürfen wir getroſt als ein Ergebniß der Kämpfe
und Errungenſchaften unſers Jahrhunderts folgende moderne von dem
heutigen Völkerrecht wenigſtens ſtatsrechtlich gebilligte Rechtsſätze ausſprechen:

Die Autorität des geſchichtlichen und formulirten Rechts verliert in
dem Maße ihre Macht, in dem es offenbar wird, daß dasſelbe das Leben
des States gefährde ſtatt demſelben zu dienen und die Entwicklung des
öffentlichen Rechts unmöglich macht, ſtatt dieſelbe zu reguliren. Alles öf-
fentliche Recht gilt nur, inwiefern es lebenskräftig iſt. Neben dem Recht
der ſtatlichen Exiſtenz iſt auch das Recht der nationalen Entwicklung
anzuerkennen. Das Völkerrecht ehrt die Ergebniſſe der Weltgeſchichte und
betrachtet die Verhältniſſe, welche ſich als nothwendige und fortwir-
kende Grundlagen und Bedingungen des derzeitigen Völkerlebens

manifeſtiren, nicht bloß als zu duldende Thatſachen, ſondern als geſchicht-
liche Fortbildung des Rechts
. Das Völkerrecht achtet das Recht der
Völker
, die Form ihres gemeinſamen Verbandes und ihres gemeinſamen
Lebens, d. h. ihre Verfaſſung ſelber zu beſtimmen.

Bei näherer Erwägung zeigt ſich, daß jene Anklage des modernen
Völkerrechts, als ſei es rechtlos geworden, völlig eitel iſt. Ganz im Ge-
gentheil, es iſt der höchſte Vorzug und die Ehre der modernen Rechtsanſicht,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0070" n="48"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/>
Ge&#x017F;etzen über Eigenthum und Be&#x017F;itz, nicht nach den &#x017F;trafrechtlichen Be-<lb/>
griffen von Raub und Dieb&#x017F;tahl, &#x017F;ondern von dem Standpunkte des Volkes<lb/>
und des States aus und ihrer Entwicklung zu beurtheilen.</p><lb/>
          <p>Das aber hat allmählich, nicht ohne Fehl&#x017F;chritte und Mißgriffe, das<lb/>
moderne Völkerrecht begriffen, indem es den vielfältig durchlöcherten Schnür-<lb/>
leib der alten Legitimitätsdoctrin abgelegt hat.</p><lb/>
          <p>Es war ein großer Fort&#x017F;chritt in der Rechtserkenntniß, als man<lb/>
endlich ein&#x017F;ah, daß die Völker <hi rendition="#g">lebendige We&#x017F;en</hi> &#x017F;eien und daß demgemäß<lb/>
auch das Verfa&#x017F;&#x017F;ungs- und Statsrecht, welches als Organi&#x017F;ation und<lb/>
gleich&#x017F;am als Leib des Volkes &#x017F;ein Leben bedingt und dar&#x017F;tellt, <hi rendition="#g">diejenigen<lb/>
Wandlungen vornehmen muß, welche nöthig &#x017F;ind, um die Ent-<lb/>
wicklung des Volkslebens zu ermöglichen und zu begleiten</hi>. Der<lb/>
Rechtsbegriff &#x017F;elb&#x017F;t wurde dadurch vergei&#x017F;tigt. Zuvor war er todt und kalt.<lb/>
Jetzt wurde er voll Leben und Wärme.</p><lb/>
          <p>Die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft i&#x017F;t noch in die&#x017F;er den Charakter alles öffentlichen<lb/>
Rechts wandelnden Arbeit begriffen, wie die Welt in der Bewegung begrif-<lb/>
fen i&#x017F;t, aus dem mittelalterlichen Herren- und Landesrecht die modernen<lb/>
Volks&#x017F;taten hervorzubilden.</p><lb/>
          <p>Aber heute &#x017F;chon dürfen wir getro&#x017F;t als ein Ergebniß der Kämpfe<lb/>
und Errungen&#x017F;chaften un&#x017F;ers Jahrhunderts folgende moderne von dem<lb/>
heutigen Völkerrecht wenig&#x017F;tens &#x017F;tatsrechtlich gebilligte Rechts&#x017F;ätze aus&#x017F;prechen:</p><lb/>
          <p>Die Autorität des ge&#x017F;chichtlichen und formulirten Rechts verliert in<lb/>
dem Maße ihre Macht, in dem es offenbar wird, daß das&#x017F;elbe das Leben<lb/>
des States gefährde &#x017F;tatt dem&#x017F;elben zu dienen und die Entwicklung des<lb/>
öffentlichen Rechts unmöglich macht, &#x017F;tatt die&#x017F;elbe zu reguliren. Alles öf-<lb/>
fentliche Recht gilt nur, inwiefern es lebenskräftig i&#x017F;t. Neben dem Recht<lb/>
der &#x017F;tatlichen Exi&#x017F;tenz i&#x017F;t auch das <hi rendition="#g">Recht der nationalen Entwicklung</hi><lb/>
anzuerkennen. Das Völkerrecht ehrt die Ergebni&#x017F;&#x017F;e der Weltge&#x017F;chichte und<lb/>
betrachtet die Verhältni&#x017F;&#x017F;e, welche &#x017F;ich als <hi rendition="#g">nothwendige</hi> und <hi rendition="#g">fortwir-<lb/>
kende Grundlagen und Bedingungen des derzeitigen Völkerlebens</hi><lb/>
manife&#x017F;tiren, nicht bloß als zu duldende That&#x017F;achen, &#x017F;ondern als <hi rendition="#g">ge&#x017F;chicht-<lb/>
liche Fortbildung des Rechts</hi>. Das Völkerrecht achtet das <hi rendition="#g">Recht der<lb/>
Völker</hi>, die Form ihres gemein&#x017F;amen Verbandes und ihres gemein&#x017F;amen<lb/>
Lebens, d. h. <hi rendition="#g">ihre Verfa&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;elber zu be&#x017F;timmen</hi>.</p><lb/>
          <p>Bei näherer Erwägung zeigt &#x017F;ich, daß jene Anklage des modernen<lb/>
Völkerrechts, als &#x017F;ei es rechtlos geworden, völlig eitel i&#x017F;t. Ganz im Ge-<lb/>
gentheil, es i&#x017F;t der höch&#x017F;te Vorzug und die Ehre der modernen Rechtsan&#x017F;icht,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[48/0070] Einleitung. Geſetzen über Eigenthum und Beſitz, nicht nach den ſtrafrechtlichen Be- griffen von Raub und Diebſtahl, ſondern von dem Standpunkte des Volkes und des States aus und ihrer Entwicklung zu beurtheilen. Das aber hat allmählich, nicht ohne Fehlſchritte und Mißgriffe, das moderne Völkerrecht begriffen, indem es den vielfältig durchlöcherten Schnür- leib der alten Legitimitätsdoctrin abgelegt hat. Es war ein großer Fortſchritt in der Rechtserkenntniß, als man endlich einſah, daß die Völker lebendige Weſen ſeien und daß demgemäß auch das Verfaſſungs- und Statsrecht, welches als Organiſation und gleichſam als Leib des Volkes ſein Leben bedingt und darſtellt, diejenigen Wandlungen vornehmen muß, welche nöthig ſind, um die Ent- wicklung des Volkslebens zu ermöglichen und zu begleiten. Der Rechtsbegriff ſelbſt wurde dadurch vergeiſtigt. Zuvor war er todt und kalt. Jetzt wurde er voll Leben und Wärme. Die Wiſſenſchaft iſt noch in dieſer den Charakter alles öffentlichen Rechts wandelnden Arbeit begriffen, wie die Welt in der Bewegung begrif- fen iſt, aus dem mittelalterlichen Herren- und Landesrecht die modernen Volksſtaten hervorzubilden. Aber heute ſchon dürfen wir getroſt als ein Ergebniß der Kämpfe und Errungenſchaften unſers Jahrhunderts folgende moderne von dem heutigen Völkerrecht wenigſtens ſtatsrechtlich gebilligte Rechtsſätze ausſprechen: Die Autorität des geſchichtlichen und formulirten Rechts verliert in dem Maße ihre Macht, in dem es offenbar wird, daß dasſelbe das Leben des States gefährde ſtatt demſelben zu dienen und die Entwicklung des öffentlichen Rechts unmöglich macht, ſtatt dieſelbe zu reguliren. Alles öf- fentliche Recht gilt nur, inwiefern es lebenskräftig iſt. Neben dem Recht der ſtatlichen Exiſtenz iſt auch das Recht der nationalen Entwicklung anzuerkennen. Das Völkerrecht ehrt die Ergebniſſe der Weltgeſchichte und betrachtet die Verhältniſſe, welche ſich als nothwendige und fortwir- kende Grundlagen und Bedingungen des derzeitigen Völkerlebens manifeſtiren, nicht bloß als zu duldende Thatſachen, ſondern als geſchicht- liche Fortbildung des Rechts. Das Völkerrecht achtet das Recht der Völker, die Form ihres gemeinſamen Verbandes und ihres gemeinſamen Lebens, d. h. ihre Verfaſſung ſelber zu beſtimmen. Bei näherer Erwägung zeigt ſich, daß jene Anklage des modernen Völkerrechts, als ſei es rechtlos geworden, völlig eitel iſt. Ganz im Ge- gentheil, es iſt der höchſte Vorzug und die Ehre der modernen Rechtsanſicht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/70
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/70>, abgerufen am 28.04.2024.