Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
daß ihr das Recht selbst nicht mehr als ein todtes und als ein Hinderniß
des Lebens, sondern als ein lebendiges und entwicklungsfähiges er-
scheint. Die Selbstvervollkommnung ist die Aufgabe der Menschheit, auf
dem Gebiete des Rechtes nicht minder als in allen andern Richtungen
humaner Cultur.


Die angeführten einzelnen Momente mögen genügen, um die großen
Fortschritte zu veranschaulichen, welche das Völkerrecht in neuerer Zeit
wirklich gemacht hat, wenngleich sie auch darauf hinweisen, daß noch wei-
tere Fortschritte zu machen sind, wenn die civilisatorische Aufgabe des
Völkerrechts erfüllt und eine humane Weltordnung hergestellt werden soll.

Wie die Wissenschaft für die Begründung und Erkenntniß des Völ-
kerrechts entscheidend geworden ist, so hat sie die Pflicht, auch seine Fort-
schritte vorzubereiten, zu beleuchten und zu begleiten. Obwohl nun die
Praxis der Staatsmänner die Leitung übernommen hat, so hängt doch die
Wirksamkeit des Völkerrechts hauptsächlich davon ab, daß seine Grundsätze
und Grundgedanken von der öffentlichen Meinung gekannt und gebilligt
werden und daß das öffentliche Gewissen darüber aufgeklärt werde. Je
allgemeiner die Rechtssätze des Völkerrechts verbreitet und verstanden wer-
den, je bestimmter und entschiedener das Rechtsbewußtsein der civilisirten
Menschheit sich entfaltet, umsomehr ist auch die Wirksamkeit des Völkerrechts
in der Welt gesichert. In dem Völkerrecht voraus bethätigt sich noch der
Erweis des Geistes und der Kraft. Sein flüssiger Stoff ist noch nicht,
wie die andern Rechtsordnungen, zu fester abgeschlossener Form gestaltet,
aber unaufhaltsam wächst es seiner Bestimmung und seinem Ende, dem
humanen Weltrecht entgegen.



Bluntschli, Das Völkerrecht. 4

Einleitung.
daß ihr das Recht ſelbſt nicht mehr als ein todtes und als ein Hinderniß
des Lebens, ſondern als ein lebendiges und entwicklungsfähiges er-
ſcheint. Die Selbſtvervollkommnung iſt die Aufgabe der Menſchheit, auf
dem Gebiete des Rechtes nicht minder als in allen andern Richtungen
humaner Cultur.


Die angeführten einzelnen Momente mögen genügen, um die großen
Fortſchritte zu veranſchaulichen, welche das Völkerrecht in neuerer Zeit
wirklich gemacht hat, wenngleich ſie auch darauf hinweiſen, daß noch wei-
tere Fortſchritte zu machen ſind, wenn die civiliſatoriſche Aufgabe des
Völkerrechts erfüllt und eine humane Weltordnung hergeſtellt werden ſoll.

Wie die Wiſſenſchaft für die Begründung und Erkenntniß des Völ-
kerrechts entſcheidend geworden iſt, ſo hat ſie die Pflicht, auch ſeine Fort-
ſchritte vorzubereiten, zu beleuchten und zu begleiten. Obwohl nun die
Praxis der Staatsmänner die Leitung übernommen hat, ſo hängt doch die
Wirkſamkeit des Völkerrechts hauptſächlich davon ab, daß ſeine Grundſätze
und Grundgedanken von der öffentlichen Meinung gekannt und gebilligt
werden und daß das öffentliche Gewiſſen darüber aufgeklärt werde. Je
allgemeiner die Rechtsſätze des Völkerrechts verbreitet und verſtanden wer-
den, je beſtimmter und entſchiedener das Rechtsbewußtſein der civiliſirten
Menſchheit ſich entfaltet, umſomehr iſt auch die Wirkſamkeit des Völkerrechts
in der Welt geſichert. In dem Völkerrecht voraus bethätigt ſich noch der
Erweis des Geiſtes und der Kraft. Sein flüſſiger Stoff iſt noch nicht,
wie die andern Rechtsordnungen, zu feſter abgeſchloſſener Form geſtaltet,
aber unaufhaltſam wächſt es ſeiner Beſtimmung und ſeinem Ende, dem
humanen Weltrecht entgegen.



Bluntſchli, Das Völkerrecht. 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0071" n="49"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/>
daß ihr das Recht &#x017F;elb&#x017F;t nicht mehr als ein todtes und als ein Hinderniß<lb/>
des Lebens, &#x017F;ondern als <hi rendition="#g">ein lebendiges</hi> und <hi rendition="#g">entwicklungsfähiges</hi> er-<lb/>
&#x017F;cheint. Die Selb&#x017F;tvervollkommnung i&#x017F;t die Aufgabe der Men&#x017F;chheit, auf<lb/>
dem Gebiete des Rechtes nicht minder als in allen andern Richtungen<lb/>
humaner Cultur.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Die angeführten einzelnen Momente mögen genügen, um die großen<lb/>
Fort&#x017F;chritte zu veran&#x017F;chaulichen, welche das Völkerrecht in neuerer Zeit<lb/>
wirklich gemacht hat, wenngleich &#x017F;ie auch darauf hinwei&#x017F;en, daß noch wei-<lb/>
tere Fort&#x017F;chritte zu machen &#x017F;ind, wenn die civili&#x017F;atori&#x017F;che Aufgabe des<lb/>
Völkerrechts erfüllt und eine humane Weltordnung herge&#x017F;tellt werden &#x017F;oll.</p><lb/>
          <p>Wie die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft für die Begründung und Erkenntniß des Völ-<lb/>
kerrechts ent&#x017F;cheidend geworden i&#x017F;t, &#x017F;o hat &#x017F;ie die Pflicht, auch &#x017F;eine Fort-<lb/>
&#x017F;chritte vorzubereiten, zu beleuchten und zu begleiten. Obwohl nun die<lb/>
Praxis der Staatsmänner die Leitung übernommen hat, &#x017F;o hängt doch die<lb/>
Wirk&#x017F;amkeit des Völkerrechts haupt&#x017F;ächlich davon ab, daß &#x017F;eine Grund&#x017F;ätze<lb/>
und Grundgedanken von der öffentlichen Meinung gekannt und gebilligt<lb/>
werden und daß das öffentliche Gewi&#x017F;&#x017F;en darüber aufgeklärt werde. Je<lb/>
allgemeiner die Rechts&#x017F;ätze des Völkerrechts verbreitet und ver&#x017F;tanden wer-<lb/>
den, je be&#x017F;timmter und ent&#x017F;chiedener das Rechtsbewußt&#x017F;ein der civili&#x017F;irten<lb/>
Men&#x017F;chheit &#x017F;ich entfaltet, um&#x017F;omehr i&#x017F;t auch die Wirk&#x017F;amkeit des Völkerrechts<lb/>
in der Welt ge&#x017F;ichert. In dem Völkerrecht voraus bethätigt &#x017F;ich noch der<lb/>
Erweis des Gei&#x017F;tes und der Kraft. Sein flü&#x017F;&#x017F;iger Stoff i&#x017F;t noch nicht,<lb/>
wie die andern Rechtsordnungen, zu fe&#x017F;ter abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ener Form ge&#x017F;taltet,<lb/>
aber unaufhalt&#x017F;am wäch&#x017F;t es &#x017F;einer Be&#x017F;timmung und &#x017F;einem Ende, dem<lb/><hi rendition="#g">humanen Weltrecht</hi> entgegen.</p>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Blunt&#x017F;chli</hi>, Das Völkerrecht. 4</fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0071] Einleitung. daß ihr das Recht ſelbſt nicht mehr als ein todtes und als ein Hinderniß des Lebens, ſondern als ein lebendiges und entwicklungsfähiges er- ſcheint. Die Selbſtvervollkommnung iſt die Aufgabe der Menſchheit, auf dem Gebiete des Rechtes nicht minder als in allen andern Richtungen humaner Cultur. Die angeführten einzelnen Momente mögen genügen, um die großen Fortſchritte zu veranſchaulichen, welche das Völkerrecht in neuerer Zeit wirklich gemacht hat, wenngleich ſie auch darauf hinweiſen, daß noch wei- tere Fortſchritte zu machen ſind, wenn die civiliſatoriſche Aufgabe des Völkerrechts erfüllt und eine humane Weltordnung hergeſtellt werden ſoll. Wie die Wiſſenſchaft für die Begründung und Erkenntniß des Völ- kerrechts entſcheidend geworden iſt, ſo hat ſie die Pflicht, auch ſeine Fort- ſchritte vorzubereiten, zu beleuchten und zu begleiten. Obwohl nun die Praxis der Staatsmänner die Leitung übernommen hat, ſo hängt doch die Wirkſamkeit des Völkerrechts hauptſächlich davon ab, daß ſeine Grundſätze und Grundgedanken von der öffentlichen Meinung gekannt und gebilligt werden und daß das öffentliche Gewiſſen darüber aufgeklärt werde. Je allgemeiner die Rechtsſätze des Völkerrechts verbreitet und verſtanden wer- den, je beſtimmter und entſchiedener das Rechtsbewußtſein der civiliſirten Menſchheit ſich entfaltet, umſomehr iſt auch die Wirkſamkeit des Völkerrechts in der Welt geſichert. In dem Völkerrecht voraus bethätigt ſich noch der Erweis des Geiſtes und der Kraft. Sein flüſſiger Stoff iſt noch nicht, wie die andern Rechtsordnungen, zu feſter abgeſchloſſener Form geſtaltet, aber unaufhaltſam wächſt es ſeiner Beſtimmung und ſeinem Ende, dem humanen Weltrecht entgegen. Bluntſchli, Das Völkerrecht. 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/71
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/71>, abgerufen am 30.04.2024.