Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

die moralische Selbstverantwortung. Es wachen plötzlich die
Augen jenes anderen Wahlmenschen mit, -- die eifersüchtigen
Augen, denen jeder zweite Mensch ein Feind wird, sobald auch er
erotische Gedanken vor diesem Manne, diesem Weibe zeigt, und
die diesen Mann, dieses Weib als treulos zerfleischen möchten wie
man ein eigenes krankes Leibesglied abschneidet, wenn sie selbst
einen anderen Menschen als ihn erotisch empfangen wollten.

An dieser Stelle ist die Idee aufgetaucht, aus dem Scham¬
verschluß ein wirkliches Sicherheitsschloß der Geschlechtsteile
zu machen, ein Sicherheitsschloß für den Andern!

Auf der Höhe der Kultur noch findest du die wunder¬
samen Mären vom Keuschheitsgürtel der Frauen. Der Ritter
zieht auf den Kreuzzug, seine Ehefrau daheim aber muß so
lange einen Gürtel aus Eisenblech oder Silber tragen, der die
Pforte bis auf eine winzige Öffnung fest verschließt und zu
dessen Schloß der kreuzfahrende Gemahl allein den Schlüssel
besitzt. Manch Stück Legende mag sich auf den Flügeln williger
Phantasie in diese Geschichtchen verflattert haben. Von früh
auf aber zieht als feste Wahrheit durch die Völker eine
Strömung in der Auffassung des Jungfernhäutchens, die eben¬
falls von hier her kommt.

Da wird dieses Häutchen, dieses rudimentäre Natur¬
riegelchen, mit hineingerissen in den vom Menschen gewollten
Verschlußzweck vor dem "Unberechtigten". Aus dem Gedanken,
daß das Weib nur einem Manne erotisch angehören solle,
entwickelt sich der rückwirkende: daß es vom Tage seiner Ge¬
burt an auch nur einem bestimmt sei. Aber wenn er sie nun
erst in ihrer Reife kennen lernt, wer giebt ihm die Gewähr
einer unberührten Vergangenheit? Hier hat die Eifersucht
das winzige Sperrsegelchen, das der einfache Sinn bloß als
Hemmniß, als überflüssige Komplikation auffaßte, plötzlich als
ein Zeugnis, ein unschätzbares Dokument zu erkennen geglaubt.
Blutete es nicht mehr beim ersten Eindringen in die Pforte,
so war diese Vergangenheit nicht mehr rein.

die moraliſche Selbſtverantwortung. Es wachen plötzlich die
Augen jenes anderen Wahlmenſchen mit, — die eiferſüchtigen
Augen, denen jeder zweite Menſch ein Feind wird, ſobald auch er
erotiſche Gedanken vor dieſem Manne, dieſem Weibe zeigt, und
die dieſen Mann, dieſes Weib als treulos zerfleiſchen möchten wie
man ein eigenes krankes Leibesglied abſchneidet, wenn ſie ſelbſt
einen anderen Menſchen als ihn erotiſch empfangen wollten.

An dieſer Stelle iſt die Idee aufgetaucht, aus dem Scham¬
verſchluß ein wirkliches Sicherheitsſchloß der Geſchlechtsteile
zu machen, ein Sicherheitsſchloß für den Andern!

Auf der Höhe der Kultur noch findeſt du die wunder¬
ſamen Mären vom Keuſchheitsgürtel der Frauen. Der Ritter
zieht auf den Kreuzzug, ſeine Ehefrau daheim aber muß ſo
lange einen Gürtel aus Eiſenblech oder Silber tragen, der die
Pforte bis auf eine winzige Öffnung feſt verſchließt und zu
deſſen Schloß der kreuzfahrende Gemahl allein den Schlüſſel
beſitzt. Manch Stück Legende mag ſich auf den Flügeln williger
Phantaſie in dieſe Geſchichtchen verflattert haben. Von früh
auf aber zieht als feſte Wahrheit durch die Völker eine
Strömung in der Auffaſſung des Jungfernhäutchens, die eben¬
falls von hier her kommt.

Da wird dieſes Häutchen, dieſes rudimentäre Natur¬
riegelchen, mit hineingeriſſen in den vom Menſchen gewollten
Verſchlußzweck vor dem „Unberechtigten“. Aus dem Gedanken,
daß das Weib nur einem Manne erotiſch angehören ſolle,
entwickelt ſich der rückwirkende: daß es vom Tage ſeiner Ge¬
burt an auch nur einem beſtimmt ſei. Aber wenn er ſie nun
erſt in ihrer Reife kennen lernt, wer giebt ihm die Gewähr
einer unberührten Vergangenheit? Hier hat die Eiferſucht
das winzige Sperrſegelchen, das der einfache Sinn bloß als
Hemmniß, als überflüſſige Komplikation auffaßte, plötzlich als
ein Zeugnis, ein unſchätzbares Dokument zu erkennen geglaubt.
Blutete es nicht mehr beim erſten Eindringen in die Pforte,
ſo war dieſe Vergangenheit nicht mehr rein.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0163" n="149"/>
die morali&#x017F;che Selb&#x017F;tverantwortung. Es wachen plötzlich die<lb/>
Augen jenes anderen Wahlmen&#x017F;chen mit, &#x2014; die eifer&#x017F;üchtigen<lb/>
Augen, denen jeder zweite Men&#x017F;ch ein Feind wird, &#x017F;obald auch er<lb/>
eroti&#x017F;che Gedanken vor die&#x017F;em Manne, die&#x017F;em Weibe zeigt, und<lb/>
die die&#x017F;en Mann, die&#x017F;es Weib als treulos zerflei&#x017F;chen möchten wie<lb/>
man ein eigenes krankes Leibesglied ab&#x017F;chneidet, wenn &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
einen anderen Men&#x017F;chen als ihn eroti&#x017F;ch empfangen wollten.</p><lb/>
        <p>An die&#x017F;er Stelle i&#x017F;t die Idee aufgetaucht, aus dem Scham¬<lb/>
ver&#x017F;chluß ein wirkliches Sicherheits&#x017F;chloß der Ge&#x017F;chlechtsteile<lb/>
zu machen, ein Sicherheits&#x017F;chloß für den Andern!</p><lb/>
        <p>Auf der Höhe der Kultur noch finde&#x017F;t du die wunder¬<lb/>
&#x017F;amen Mären vom Keu&#x017F;chheitsgürtel der Frauen. Der Ritter<lb/>
zieht auf den Kreuzzug, &#x017F;eine Ehefrau daheim aber muß &#x017F;o<lb/>
lange einen Gürtel aus Ei&#x017F;enblech oder Silber tragen, der die<lb/>
Pforte bis auf eine winzige Öffnung fe&#x017F;t ver&#x017F;chließt und zu<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Schloß der kreuzfahrende Gemahl allein den Schlü&#x017F;&#x017F;el<lb/>
be&#x017F;itzt. Manch Stück Legende mag &#x017F;ich auf den Flügeln williger<lb/>
Phanta&#x017F;ie in die&#x017F;e Ge&#x017F;chichtchen verflattert haben. Von früh<lb/>
auf aber zieht als fe&#x017F;te Wahrheit durch die Völker eine<lb/>
Strömung in der Auffa&#x017F;&#x017F;ung des Jungfernhäutchens, die eben¬<lb/>
falls von hier her kommt.</p><lb/>
        <p>Da wird die&#x017F;es Häutchen, die&#x017F;es rudimentäre Natur¬<lb/>
riegelchen, mit hineingeri&#x017F;&#x017F;en in den vom Men&#x017F;chen gewollten<lb/>
Ver&#x017F;chlußzweck vor dem &#x201E;Unberechtigten&#x201C;. Aus dem Gedanken,<lb/>
daß das Weib nur <hi rendition="#g">einem</hi> Manne eroti&#x017F;ch angehören &#x017F;olle,<lb/>
entwickelt &#x017F;ich der rückwirkende: daß es vom Tage &#x017F;einer Ge¬<lb/>
burt an auch nur einem be&#x017F;timmt &#x017F;ei. Aber wenn er &#x017F;ie nun<lb/>
er&#x017F;t in ihrer Reife kennen lernt, wer giebt ihm die Gewähr<lb/>
einer unberührten Vergangenheit? Hier hat die Eifer&#x017F;ucht<lb/>
das winzige Sperr&#x017F;egelchen, das der einfache Sinn bloß als<lb/>
Hemmniß, als überflü&#x017F;&#x017F;ige Komplikation auffaßte, plötzlich als<lb/>
ein Zeugnis, ein un&#x017F;chätzbares Dokument zu erkennen geglaubt.<lb/>
Blutete es nicht mehr beim er&#x017F;ten Eindringen in die Pforte,<lb/>
&#x017F;o war die&#x017F;e Vergangenheit nicht mehr rein.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[149/0163] die moraliſche Selbſtverantwortung. Es wachen plötzlich die Augen jenes anderen Wahlmenſchen mit, — die eiferſüchtigen Augen, denen jeder zweite Menſch ein Feind wird, ſobald auch er erotiſche Gedanken vor dieſem Manne, dieſem Weibe zeigt, und die dieſen Mann, dieſes Weib als treulos zerfleiſchen möchten wie man ein eigenes krankes Leibesglied abſchneidet, wenn ſie ſelbſt einen anderen Menſchen als ihn erotiſch empfangen wollten. An dieſer Stelle iſt die Idee aufgetaucht, aus dem Scham¬ verſchluß ein wirkliches Sicherheitsſchloß der Geſchlechtsteile zu machen, ein Sicherheitsſchloß für den Andern! Auf der Höhe der Kultur noch findeſt du die wunder¬ ſamen Mären vom Keuſchheitsgürtel der Frauen. Der Ritter zieht auf den Kreuzzug, ſeine Ehefrau daheim aber muß ſo lange einen Gürtel aus Eiſenblech oder Silber tragen, der die Pforte bis auf eine winzige Öffnung feſt verſchließt und zu deſſen Schloß der kreuzfahrende Gemahl allein den Schlüſſel beſitzt. Manch Stück Legende mag ſich auf den Flügeln williger Phantaſie in dieſe Geſchichtchen verflattert haben. Von früh auf aber zieht als feſte Wahrheit durch die Völker eine Strömung in der Auffaſſung des Jungfernhäutchens, die eben¬ falls von hier her kommt. Da wird dieſes Häutchen, dieſes rudimentäre Natur¬ riegelchen, mit hineingeriſſen in den vom Menſchen gewollten Verſchlußzweck vor dem „Unberechtigten“. Aus dem Gedanken, daß das Weib nur einem Manne erotiſch angehören ſolle, entwickelt ſich der rückwirkende: daß es vom Tage ſeiner Ge¬ burt an auch nur einem beſtimmt ſei. Aber wenn er ſie nun erſt in ihrer Reife kennen lernt, wer giebt ihm die Gewähr einer unberührten Vergangenheit? Hier hat die Eiferſucht das winzige Sperrſegelchen, das der einfache Sinn bloß als Hemmniß, als überflüſſige Komplikation auffaßte, plötzlich als ein Zeugnis, ein unſchätzbares Dokument zu erkennen geglaubt. Blutete es nicht mehr beim erſten Eindringen in die Pforte, ſo war dieſe Vergangenheit nicht mehr rein.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/163
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/163>, abgerufen am 07.05.2024.