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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832.

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Wilde, die doch nur das Fleisch ihrer Feinde verzeh¬
ren; aber wenn die ganze Gegenwart, mit Leib und
Seele, mit Freude und Glück, mit allen ihren Wün¬
schen und Hoffnungen, gemartert, geschlachtet und
zerfetzt wird, um damit die Zukunft zu mästen --
diese Menschenfresserei ertragen wir! was ist Hoff¬
nung, was Glaube? durch die Augen wird kein Hun¬
ger gestillt, gemalte Früchte haben noch Keinen satt
gemacht ... Ich las etwas in den englischen Blät¬
tern -- es ist sich todt darüber zu schämen wenn
man ein Deutscher ist; es ist sich die Hände im
Dunkeln vor die Augen zu halten. Der Londoner
Courier sagte: "Wenn Polen wird besiegt seyn,
"wenn, was die Schlacht verschont, auf dem Scha¬
"fotte bluten wird, dann werden die deutschen Zei¬
"tungen
die weise Gerechtigkeit des russischen Kai¬
"sers rühmen, und wenn der Tyrann nur einem ein¬
"zigen Besiegten das armselige Leben schenkt, werden
"die deutschen Blätter die Milde des hochherzi¬
gen Nikolaus bis in die Wolken erheben." Unter
allen Völkern der Erde, erwartet man solche feige
hündische Kriecherei nur von uns! Ja, es schwebt
schon vor meinen Augen, ich lese es und höre es,
wie das viehische Federvieh in Berlin von jedem Mist¬
haufen, von jedem Dache herab, den großen erhabe¬
nen Nikolaus ankräht. Wie hat dieser Despot in
seinen Proklamationen gesprochen! Vielleicht glaubt

Wilde, die doch nur das Fleiſch ihrer Feinde verzeh¬
ren; aber wenn die ganze Gegenwart, mit Leib und
Seele, mit Freude und Glück, mit allen ihren Wün¬
ſchen und Hoffnungen, gemartert, geſchlachtet und
zerfetzt wird, um damit die Zukunft zu mäſten —
dieſe Menſchenfreſſerei ertragen wir! was iſt Hoff¬
nung, was Glaube? durch die Augen wird kein Hun¬
ger geſtillt, gemalte Früchte haben noch Keinen ſatt
gemacht ... Ich las etwas in den engliſchen Blät¬
tern — es iſt ſich todt darüber zu ſchämen wenn
man ein Deutſcher iſt; es iſt ſich die Hände im
Dunkeln vor die Augen zu halten. Der Londoner
Courier ſagte: „Wenn Polen wird beſiegt ſeyn,
„wenn, was die Schlacht verſchont, auf dem Scha¬
„fotte bluten wird, dann werden die deutſchen Zei¬
„tungen
die weiſe Gerechtigkeit des ruſſiſchen Kai¬
„ſers rühmen, und wenn der Tyrann nur einem ein¬
„zigen Beſiegten das armſelige Leben ſchenkt, werden
„die deutſchen Blätter die Milde des hochherzi¬
gen Nikolaus bis in die Wolken erheben.“ Unter
allen Völkern der Erde, erwartet man ſolche feige
hündiſche Kriecherei nur von uns! Ja, es ſchwebt
ſchon vor meinen Augen, ich leſe es und höre es,
wie das viehiſche Federvieh in Berlin von jedem Miſt¬
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nen Nikolaus ankräht. Wie hat dieſer Despot in
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[119/0133] Wilde, die doch nur das Fleiſch ihrer Feinde verzeh¬ ren; aber wenn die ganze Gegenwart, mit Leib und Seele, mit Freude und Glück, mit allen ihren Wün¬ ſchen und Hoffnungen, gemartert, geſchlachtet und zerfetzt wird, um damit die Zukunft zu mäſten — dieſe Menſchenfreſſerei ertragen wir! was iſt Hoff¬ nung, was Glaube? durch die Augen wird kein Hun¬ ger geſtillt, gemalte Früchte haben noch Keinen ſatt gemacht ... Ich las etwas in den engliſchen Blät¬ tern — es iſt ſich todt darüber zu ſchämen wenn man ein Deutſcher iſt; es iſt ſich die Hände im Dunkeln vor die Augen zu halten. Der Londoner Courier ſagte: „Wenn Polen wird beſiegt ſeyn, „wenn, was die Schlacht verſchont, auf dem Scha¬ „fotte bluten wird, dann werden die deutſchen Zei¬ „tungen die weiſe Gerechtigkeit des ruſſiſchen Kai¬ „ſers rühmen, und wenn der Tyrann nur einem ein¬ „zigen Beſiegten das armſelige Leben ſchenkt, werden „die deutſchen Blätter die Milde des hochherzi¬ gen Nikolaus bis in die Wolken erheben.“ Unter allen Völkern der Erde, erwartet man ſolche feige hündiſche Kriecherei nur von uns! Ja, es ſchwebt ſchon vor meinen Augen, ich leſe es und höre es, wie das viehiſche Federvieh in Berlin von jedem Miſt¬ haufen, von jedem Dache herab, den großen erhabe¬ nen Nikolaus ankräht. Wie hat dieſer Despot in ſeinen Proklamationen geſprochen! Vielleicht glaubt

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 2. Hamburg, 1832, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris02_1832/133>, abgerufen am 29.04.2024.