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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830.

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ßen, gestatten. Wenn man sich das Bestehen irgend eines be-
stimmten Körpers in seiner einmal stattfindenden Beschaffenheit,
als in dem Gleichgewichte zwischen anziehender und abstoßender
Kraft seiner Theilchen begründet, denkt, so müßte man hier sagen,
indem man die Theilchen aus der natürlichen Lage bringt, so tritt
gleichwohl in der neuen Lage wieder ein Zustand des Gleichgewichts
ein; beide Kräfte müssen also wohl in ziemlich gleichem Maaße,
bei vergrößertem Abstande der Theilchen ihre Wirkung ändern, statt
daß spröde Körper die Eigenschaft besitzen, daß die Attraction, die
zusammenhaltende Kraft der Theilchen, bei der geringsten Vergrö-
ßerung der Entfernung schnell abnimmt, und daher, wenn die
Repulsivkraft nicht in eben dem Grade vermindert wird, ein Auf-
hören des Zusammenhanges eintreten muß. Doch ich breche diese
minder nützlichen Speculationen ab, um bei dem zu verweilen,
was sich in der Erfahrung als merkwürdig, in Beziehung auf diese
Eigenschaften, zeigt. Die dehnbaren Körper, die sich in die Länge
ausdehnen lassen, ohne zu zerreißen, bieten darin etwas Auffallen-
des dar, daß sie bei vermindertem Querschnitte eine größere Last
tragen. Die Metallsaite zum Beispiel verlängert sich erheblich, und
folglich nimmt ihr Querschnitt erheblich ab, wenn man ein Ge-
wicht an sie anhängt; man sollte nun glauben, die Last, welche
zu schwer war, um von der Saite vor der Dehnung getragen
zu werden, müsse jetzt um so mehr zu schwer sein, die Dehnung
müsse sich sogleich bis zum Zerreißen vermehren; aber das ist be-
kanntlich nicht der Fall.

Als Beispiel großer Härte und großer Sprödigkeit pflegt man
immer die schnell gekühlten Glastropfen (Fig. 1.) und Glasfläsch-
chen anzuführen. Beide Arten von Glasmasse sind fest genug,
um recht bedeutenden Stößen zu widerstehen, und bleiben auch
beim Reiben an harten Körpern in ihrem festen Zusammenhange;
aber bricht man an den Glastropfen den feinen Faden ab, so zer-
springt der ganze dicke Glaskörper in Pulver, und läßt man auf
den Boden des Glasfläschchens (diese Fläschchen sind unter dem
Namen Bologneser-Fläschchen bekannt) auch nur ein kleines Stück-
chen Feuerstein fallen, so zerspringt das Gefäßchen. Die schnelle
Kühlung muß hier den Theilchen nicht erlaubt haben, die regelmä-
ßige und feste Stellung anzunehmen, die sonst beim Glase statt

ßen, geſtatten. Wenn man ſich das Beſtehen irgend eines be-
ſtimmten Koͤrpers in ſeiner einmal ſtattfindenden Beſchaffenheit,
als in dem Gleichgewichte zwiſchen anziehender und abſtoßender
Kraft ſeiner Theilchen begruͤndet, denkt, ſo muͤßte man hier ſagen,
indem man die Theilchen aus der natuͤrlichen Lage bringt, ſo tritt
gleichwohl in der neuen Lage wieder ein Zuſtand des Gleichgewichts
ein; beide Kraͤfte muͤſſen alſo wohl in ziemlich gleichem Maaße,
bei vergroͤßertem Abſtande der Theilchen ihre Wirkung aͤndern, ſtatt
daß ſproͤde Koͤrper die Eigenſchaft beſitzen, daß die Attraction, die
zuſammenhaltende Kraft der Theilchen, bei der geringſten Vergroͤ-
ßerung der Entfernung ſchnell abnimmt, und daher, wenn die
Repulſivkraft nicht in eben dem Grade vermindert wird, ein Auf-
hoͤren des Zuſammenhanges eintreten muß. Doch ich breche dieſe
minder nuͤtzlichen Speculationen ab, um bei dem zu verweilen,
was ſich in der Erfahrung als merkwuͤrdig, in Beziehung auf dieſe
Eigenſchaften, zeigt. Die dehnbaren Koͤrper, die ſich in die Laͤnge
ausdehnen laſſen, ohne zu zerreißen, bieten darin etwas Auffallen-
des dar, daß ſie bei vermindertem Querſchnitte eine groͤßere Laſt
tragen. Die Metallſaite zum Beiſpiel verlaͤngert ſich erheblich, und
folglich nimmt ihr Querſchnitt erheblich ab, wenn man ein Ge-
wicht an ſie anhaͤngt; man ſollte nun glauben, die Laſt, welche
zu ſchwer war, um von der Saite vor der Dehnung getragen
zu werden, muͤſſe jetzt um ſo mehr zu ſchwer ſein, die Dehnung
muͤſſe ſich ſogleich bis zum Zerreißen vermehren; aber das iſt be-
kanntlich nicht der Fall.

Als Beiſpiel großer Haͤrte und großer Sproͤdigkeit pflegt man
immer die ſchnell gekuͤhlten Glastropfen (Fig. 1.) und Glasflaͤſch-
chen anzufuͤhren. Beide Arten von Glasmaſſe ſind feſt genug,
um recht bedeutenden Stoͤßen zu widerſtehen, und bleiben auch
beim Reiben an harten Koͤrpern in ihrem feſten Zuſammenhange;
aber bricht man an den Glastropfen den feinen Faden ab, ſo zer-
ſpringt der ganze dicke Glaskoͤrper in Pulver, und laͤßt man auf
den Boden des Glasflaͤſchchens (dieſe Flaͤſchchen ſind unter dem
Namen Bologneſer-Flaͤſchchen bekannt) auch nur ein kleines Stuͤck-
chen Feuerſtein fallen, ſo zerſpringt das Gefaͤßchen. Die ſchnelle
Kuͤhlung muß hier den Theilchen nicht erlaubt haben, die regelmaͤ-
ßige und feſte Stellung anzunehmen, die ſonſt beim Glaſe ſtatt

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[22/0044] ßen, geſtatten. Wenn man ſich das Beſtehen irgend eines be- ſtimmten Koͤrpers in ſeiner einmal ſtattfindenden Beſchaffenheit, als in dem Gleichgewichte zwiſchen anziehender und abſtoßender Kraft ſeiner Theilchen begruͤndet, denkt, ſo muͤßte man hier ſagen, indem man die Theilchen aus der natuͤrlichen Lage bringt, ſo tritt gleichwohl in der neuen Lage wieder ein Zuſtand des Gleichgewichts ein; beide Kraͤfte muͤſſen alſo wohl in ziemlich gleichem Maaße, bei vergroͤßertem Abſtande der Theilchen ihre Wirkung aͤndern, ſtatt daß ſproͤde Koͤrper die Eigenſchaft beſitzen, daß die Attraction, die zuſammenhaltende Kraft der Theilchen, bei der geringſten Vergroͤ- ßerung der Entfernung ſchnell abnimmt, und daher, wenn die Repulſivkraft nicht in eben dem Grade vermindert wird, ein Auf- hoͤren des Zuſammenhanges eintreten muß. Doch ich breche dieſe minder nuͤtzlichen Speculationen ab, um bei dem zu verweilen, was ſich in der Erfahrung als merkwuͤrdig, in Beziehung auf dieſe Eigenſchaften, zeigt. Die dehnbaren Koͤrper, die ſich in die Laͤnge ausdehnen laſſen, ohne zu zerreißen, bieten darin etwas Auffallen- des dar, daß ſie bei vermindertem Querſchnitte eine groͤßere Laſt tragen. Die Metallſaite zum Beiſpiel verlaͤngert ſich erheblich, und folglich nimmt ihr Querſchnitt erheblich ab, wenn man ein Ge- wicht an ſie anhaͤngt; man ſollte nun glauben, die Laſt, welche zu ſchwer war, um von der Saite vor der Dehnung getragen zu werden, muͤſſe jetzt um ſo mehr zu ſchwer ſein, die Dehnung muͤſſe ſich ſogleich bis zum Zerreißen vermehren; aber das iſt be- kanntlich nicht der Fall. Als Beiſpiel großer Haͤrte und großer Sproͤdigkeit pflegt man immer die ſchnell gekuͤhlten Glastropfen (Fig. 1.) und Glasflaͤſch- chen anzufuͤhren. Beide Arten von Glasmaſſe ſind feſt genug, um recht bedeutenden Stoͤßen zu widerſtehen, und bleiben auch beim Reiben an harten Koͤrpern in ihrem feſten Zuſammenhange; aber bricht man an den Glastropfen den feinen Faden ab, ſo zer- ſpringt der ganze dicke Glaskoͤrper in Pulver, und laͤßt man auf den Boden des Glasflaͤſchchens (dieſe Flaͤſchchen ſind unter dem Namen Bologneſer-Flaͤſchchen bekannt) auch nur ein kleines Stuͤck- chen Feuerſtein fallen, ſo zerſpringt das Gefaͤßchen. Die ſchnelle Kuͤhlung muß hier den Theilchen nicht erlaubt haben, die regelmaͤ- ßige und feſte Stellung anzunehmen, die ſonſt beim Glaſe ſtatt

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Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1830, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre01_1830/44>, abgerufen am 29.04.2024.