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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 14. Die Stände.
lichen Zusammenhange zwischen Adel und Erlschaft kann nach alledem
nicht gezweifelt werden.

Fasst man die vereinzelten Anhaltspunkte zusammen, welche die
zerstreuten Nachrichten über den Adel für seine älteste Bedeutung
gewähren, so hat unter den vielen darüber geäusserten Ansichten71
diejenige die grösste Wahrscheinlichkeit für sich, welche die Adeligen
der Urzeit als die Mitglieder der thatsächlich herrschenden Geschlechter
betrachtet, nämlich der Geschlechter, aus welchen man die Könige,
die Fürsten, die Priester zu nehmen pflegte. Die Abstammung dieser
Familien galt für vornehmer, unmittelbar an die Götter wurde sie
angeknüpft.

Bestimmte erbliche Vorrechte, wie sie das Wesen des wahren
Standes ausmachen, lassen sich für den Adel der germanischen Zeit
nicht nachweisen. Insbesondere muss es dahingestellt bleiben, ob
schon damals das höhere Wergeld des Adels, wie es nach der Völker-
wanderung bezeugt ist, rechtlich fixiert war. Im Einzelfall mochte
das Sühngeld, durch das die adelige Sippe sich die Rache abkaufen
liess, in Anbetracht ihrer Übermacht immerhin den normalen Wer-
geldsatz des freien Mannes überstiegen haben, ohne dass es rechtlich
höher festgesetzt war. Eine wesentliche Voraussetzung der Königs-
würde und des Fürstentums hat die adelige Abstammung, so schwer
sie dabei ins Gewicht fiel, nicht gebildet, da die Wahl des Volkes
giltig war, auch wenn sie einen Nichtadeligen traf. So erhoben z. B.
die Ostgoten den Witiges zum König, obzwar er nicht adelig war;

[Spaltenumbruch] cyninges geselda; cven mec hveilum
hveitloccedu hond on leged
eorles dohtor, theah hio aedelu sei.
[Spaltenumbruch] Geselle eines Königs, nicht selten legt auch
Eine hellgelockte Frau ihre Hand an mich,
Eines Edelings (Eorls) Tochter, wenn sie
gleich adelig ist.
Die Übersetzung nach Grein, Dichtungen der Angels. II 242. Das Rätsel be-
deutet vermutlich den Jagdfalken, den Habicht. Dietrich in Z f. DA XI 483.
71 Die Adeligen werden als die principes oder aus dem ausschliesslichen Recht
auf Fürstentum oder Beamtentum, als ein Ritterstand, aus erblichem Priestertum,
aus dem Vorrecht ein Gefolge zu halten, aus der Schutzherrschaft über andere
Klassen der Bevölkerung oder aus grösserem Grundbesitz erklärt. Die Litteratur
bei Waitz, VG I 169 ff. Manche leugnen den Adel oder beschränken ihn auf
die Völkerschaften mit Königtum. Waitz sucht die Grundlagen des Adels in vor-
historischer Zeit. In den Anfängen staatlicher Entwicklung habe sich der Einfluss
bestimmter Familien geltend gemacht, unter deren Führung das Volk vielleicht einst
in die neue Heimat einzog. Dann musste schon in der Zeit des Tacitus das Wesen
des Adels in den traditionell überlieferten Stammbäumen depossedierter oder medi-
atisierter Häuptlingsfamilien beruhen und wäre er nicht sowohl ein erst in der
Ausbildung als vielmehr ein im Absterben begriffenes Rechtsinstitut.

§ 14. Die Stände.
lichen Zusammenhange zwischen Adel und Erlschaft kann nach alledem
nicht gezweifelt werden.

Faſst man die vereinzelten Anhaltspunkte zusammen, welche die
zerstreuten Nachrichten über den Adel für seine älteste Bedeutung
gewähren, so hat unter den vielen darüber geäuſserten Ansichten71
diejenige die gröſste Wahrscheinlichkeit für sich, welche die Adeligen
der Urzeit als die Mitglieder der thatsächlich herrschenden Geschlechter
betrachtet, nämlich der Geschlechter, aus welchen man die Könige,
die Fürsten, die Priester zu nehmen pflegte. Die Abstammung dieser
Familien galt für vornehmer, unmittelbar an die Götter wurde sie
angeknüpft.

Bestimmte erbliche Vorrechte, wie sie das Wesen des wahren
Standes ausmachen, lassen sich für den Adel der germanischen Zeit
nicht nachweisen. Insbesondere muſs es dahingestellt bleiben, ob
schon damals das höhere Wergeld des Adels, wie es nach der Völker-
wanderung bezeugt ist, rechtlich fixiert war. Im Einzelfall mochte
das Sühngeld, durch das die adelige Sippe sich die Rache abkaufen
lieſs, in Anbetracht ihrer Übermacht immerhin den normalen Wer-
geldsatz des freien Mannes überstiegen haben, ohne daſs es rechtlich
höher festgesetzt war. Eine wesentliche Voraussetzung der Königs-
würde und des Fürstentums hat die adelige Abstammung, so schwer
sie dabei ins Gewicht fiel, nicht gebildet, da die Wahl des Volkes
giltig war, auch wenn sie einen Nichtadeligen traf. So erhoben z. B.
die Ostgoten den Witiges zum König, obzwar er nicht adelig war;

[Spaltenumbruch] cyninges geselda; cvên mec hvîlum
hvîtloccedu hond on legeđ
eorles dohtor, þeáh hió æđelu sî.
[Spaltenumbruch] Geselle eines Königs, nicht selten legt auch
Eine hellgelockte Frau ihre Hand an mich,
Eines Edelings (Eorls) Tochter, wenn sie
gleich adelig ist.
Die Übersetzung nach Grein, Dichtungen der Angels. II 242. Das Rätsel be-
deutet vermutlich den Jagdfalken, den Habicht. Dietrich in Z f. DA XI 483.
71 Die Adeligen werden als die principes oder aus dem ausschlieſslichen Recht
auf Fürstentum oder Beamtentum, als ein Ritterstand, aus erblichem Priestertum,
aus dem Vorrecht ein Gefolge zu halten, aus der Schutzherrschaft über andere
Klassen der Bevölkerung oder aus gröſserem Grundbesitz erklärt. Die Litteratur
bei Waitz, VG I 169 ff. Manche leugnen den Adel oder beschränken ihn auf
die Völkerschaften mit Königtum. Waitz sucht die Grundlagen des Adels in vor-
historischer Zeit. In den Anfängen staatlicher Entwicklung habe sich der Einfluſs
bestimmter Familien geltend gemacht, unter deren Führung das Volk vielleicht einst
in die neue Heimat einzog. Dann muſste schon in der Zeit des Tacitus das Wesen
des Adels in den traditionell überlieferten Stammbäumen depossedierter oder medi-
atisierter Häuptlingsfamilien beruhen und wäre er nicht sowohl ein erst in der
Ausbildung als vielmehr ein im Absterben begriffenes Rechtsinstitut.
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[107/0125] § 14. Die Stände. lichen Zusammenhange zwischen Adel und Erlschaft kann nach alledem nicht gezweifelt werden. Faſst man die vereinzelten Anhaltspunkte zusammen, welche die zerstreuten Nachrichten über den Adel für seine älteste Bedeutung gewähren, so hat unter den vielen darüber geäuſserten Ansichten 71 diejenige die gröſste Wahrscheinlichkeit für sich, welche die Adeligen der Urzeit als die Mitglieder der thatsächlich herrschenden Geschlechter betrachtet, nämlich der Geschlechter, aus welchen man die Könige, die Fürsten, die Priester zu nehmen pflegte. Die Abstammung dieser Familien galt für vornehmer, unmittelbar an die Götter wurde sie angeknüpft. Bestimmte erbliche Vorrechte, wie sie das Wesen des wahren Standes ausmachen, lassen sich für den Adel der germanischen Zeit nicht nachweisen. Insbesondere muſs es dahingestellt bleiben, ob schon damals das höhere Wergeld des Adels, wie es nach der Völker- wanderung bezeugt ist, rechtlich fixiert war. Im Einzelfall mochte das Sühngeld, durch das die adelige Sippe sich die Rache abkaufen lieſs, in Anbetracht ihrer Übermacht immerhin den normalen Wer- geldsatz des freien Mannes überstiegen haben, ohne daſs es rechtlich höher festgesetzt war. Eine wesentliche Voraussetzung der Königs- würde und des Fürstentums hat die adelige Abstammung, so schwer sie dabei ins Gewicht fiel, nicht gebildet, da die Wahl des Volkes giltig war, auch wenn sie einen Nichtadeligen traf. So erhoben z. B. die Ostgoten den Witiges zum König, obzwar er nicht adelig war; 70 71 Die Adeligen werden als die principes oder aus dem ausschlieſslichen Recht auf Fürstentum oder Beamtentum, als ein Ritterstand, aus erblichem Priestertum, aus dem Vorrecht ein Gefolge zu halten, aus der Schutzherrschaft über andere Klassen der Bevölkerung oder aus gröſserem Grundbesitz erklärt. Die Litteratur bei Waitz, VG I 169 ff. Manche leugnen den Adel oder beschränken ihn auf die Völkerschaften mit Königtum. Waitz sucht die Grundlagen des Adels in vor- historischer Zeit. In den Anfängen staatlicher Entwicklung habe sich der Einfluſs bestimmter Familien geltend gemacht, unter deren Führung das Volk vielleicht einst in die neue Heimat einzog. Dann muſste schon in der Zeit des Tacitus das Wesen des Adels in den traditionell überlieferten Stammbäumen depossedierter oder medi- atisierter Häuptlingsfamilien beruhen und wäre er nicht sowohl ein erst in der Ausbildung als vielmehr ein im Absterben begriffenes Rechtsinstitut. 70 cyninges geselda; cvên mec hvîlum hvîtloccedu hond on legeđ eorles dohtor, þeáh hió æđelu sî. Geselle eines Königs, nicht selten legt auch Eine hellgelockte Frau ihre Hand an mich, Eines Edelings (Eorls) Tochter, wenn sie gleich adelig ist. Die Übersetzung nach Grein, Dichtungen der Angels. II 242. Das Rätsel be- deutet vermutlich den Jagdfalken, den Habicht. Dietrich in Z f. DA XI 483.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/125>, abgerufen am 29.04.2024.