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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 20. Die Gerichtsverfassung.
Bann im Sinne von Friedewirken bei der Übereignung von Grund-
stücken eine rechtsgeschichtlich bedeutsame Rolle24.

Als der Gott, unter dessen Schutz die vornehmsten Gerichtsver-
handlungen standen, ist vermutlich der Tius, Ziu anzusehen, der in
dieser Rolle den Beinamen Things geführt haben mag. Auf ihn wird
eine dem Mars Thingsus geweihte Altarschrift gedeutet, welche aus
dem dritten oder vierten Jahrzehnt des dritten Jahrhunderts stammt
und kürzlich im nördlichen England am Hadrianswall aufgefunden
worden ist. Es ist der Gott, nach welchem wir den Dienstag (Tag
des Tius) bezeichnen, der im Niederländischen als Dingstag (Tag des
Dings) erscheint25.

Nach jüngeren Quellen werden in manchen Rechten drei ver-
schiedene Arten von Gerichtsversammlungen unterschieden, das echte
Ding, das gebotene Ding, auch Botding, und das Nachding oder After-
ding. Echte Dinge sind die nach Volksrecht hergebrachten Gerichts-
versammlungen, die an herkömmlicher Dingstätte und zu herkömm-
licher Zeit abgehalten werden, ohne dass der einzelne Dingpflichtige
besonders aufgeboten zu werden braucht26. Die für die echten Dinge
üblichen Gerichtszeiten lassen teilweise (so z. B. die am Walpurgis-
tage vorkommenden) geschichtlichen Anschluss an heidnische Fest-
und Opfertage vermuten. Im Gegensatz dazu erscheinen als gebotene
Dinge diejenigen, für welche die Dingpflicht erst durch den Bann des
Richters begründet wird, der das Ding auslegt. Es ist bei diesen ge-
botenen Dingen nur zu erscheinen verpflichtet, wer dazu aufgeboten
wird. Nachdinge oder Afterdinge sind Gerichtstage, die zur Erledi-
gung der am echten Ding nicht erledigten Angelegenheiten in un-
mittelbarem Anschluss an dasselbe oder kurze Zeit danach abgehalten
werden27. Ob diese Unterscheidungen gemeingermanisch waren, muss
umsomehr dahingestellt bleiben, als sie sich später nicht in allen
Stammesrechten finden.

24 Z2 f. RG IV 238. Fruin in den Versl. en Meded. der kgl. Akad. der
Wissensch. zu Amsterdam, Letterk. 2. Serie XII 1883 S 99.
25 Wilhelm Scherer, Mars Thingsus, in den Sitzungsber. der Berl. Akad.
1884 S 571 ff.; Z2 f. RG V 226.
26 Es ist dadurch nicht ausgeschlossen, dass das echte Ding öffentlich an-
gekündigt, etwa durch Landschrei zusammenberufen wird. Vgl. Schenk zu
Schweinsberg
, Z d. Ver. f. hess. Geschichte u. Landeskunde NF V 215 ff.
27 Für das Afterding hat eine jüngere Quelle den Ausdruck Fimmelding.
Eine Inschrift des Altars von Housesteads nennt neben dem Thingsus die göttlichen
Wesen Beda und Fimmilena. Man glaubt die Beda als Vertreterin des Botdings,
die Fimmilena als Vertreterin des Afterdings deuten zu können. Z2 f. RG V 216
sprach ich die Vermutung aus, dass dem Ziu das echte Ding geweiht war.

§ 20. Die Gerichtsverfassung.
Bann im Sinne von Friedewirken bei der Übereignung von Grund-
stücken eine rechtsgeschichtlich bedeutsame Rolle24.

Als der Gott, unter dessen Schutz die vornehmsten Gerichtsver-
handlungen standen, ist vermutlich der Tius, Ziu anzusehen, der in
dieser Rolle den Beinamen Things geführt haben mag. Auf ihn wird
eine dem Mars Thingsus geweihte Altarschrift gedeutet, welche aus
dem dritten oder vierten Jahrzehnt des dritten Jahrhunderts stammt
und kürzlich im nördlichen England am Hadrianswall aufgefunden
worden ist. Es ist der Gott, nach welchem wir den Dienstag (Tag
des Tius) bezeichnen, der im Niederländischen als Dingstag (Tag des
Dings) erscheint25.

Nach jüngeren Quellen werden in manchen Rechten drei ver-
schiedene Arten von Gerichtsversammlungen unterschieden, das echte
Ding, das gebotene Ding, auch Botding, und das Nachding oder After-
ding. Echte Dinge sind die nach Volksrecht hergebrachten Gerichts-
versammlungen, die an herkömmlicher Dingstätte und zu herkömm-
licher Zeit abgehalten werden, ohne daſs der einzelne Dingpflichtige
besonders aufgeboten zu werden braucht26. Die für die echten Dinge
üblichen Gerichtszeiten lassen teilweise (so z. B. die am Walpurgis-
tage vorkommenden) geschichtlichen Anschluſs an heidnische Fest-
und Opfertage vermuten. Im Gegensatz dazu erscheinen als gebotene
Dinge diejenigen, für welche die Dingpflicht erst durch den Bann des
Richters begründet wird, der das Ding auslegt. Es ist bei diesen ge-
botenen Dingen nur zu erscheinen verpflichtet, wer dazu aufgeboten
wird. Nachdinge oder Afterdinge sind Gerichtstage, die zur Erledi-
gung der am echten Ding nicht erledigten Angelegenheiten in un-
mittelbarem Anschluſs an dasselbe oder kurze Zeit danach abgehalten
werden27. Ob diese Unterscheidungen gemeingermanisch waren, muſs
umsomehr dahingestellt bleiben, als sie sich später nicht in allen
Stammesrechten finden.

24 Z2 f. RG IV 238. Fruin in den Versl. en Meded. der kgl. Akad. der
Wissensch. zu Amsterdam, Letterk. 2. Serie XII 1883 S 99.
25 Wilhelm Scherer, Mars Thingsus, in den Sitzungsber. der Berl. Akad.
1884 S 571 ff.; Z2 f. RG V 226.
26 Es ist dadurch nicht ausgeschlossen, daſs das echte Ding öffentlich an-
gekündigt, etwa durch Landschrei zusammenberufen wird. Vgl. Schenk zu
Schweinsberg
, Z d. Ver. f. hess. Geschichte u. Landeskunde NF V 215 ff.
27 Für das Afterding hat eine jüngere Quelle den Ausdruck Fimmelding.
Eine Inschrift des Altars von Housesteads nennt neben dem Thingsus die göttlichen
Wesen Beda und Fimmilena. Man glaubt die Beda als Vertreterin des Botdings,
die Fimmilena als Vertreterin des Afterdings deuten zu können. Z2 f. RG V 216
sprach ich die Vermutung aus, daſs dem Ziu das echte Ding geweiht war.
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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/166>, abgerufen am 27.04.2024.