Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
got. afdomjan, ahd. farwazan, alts. forwatan 33 werden einerseits für
verurteilen, andrerseits für verfluchen gebraucht 34.

Die Friedlosigkeit schliesst in ältester Zeit die Tötung und die
Verbannung, die Strafknechtschaft, die Vermögenseinziehung und den
Hausbrand in sich, die sich später als selbständige Strafen von ihr
abgespalten haben. In engem geschichtlichen Zusammenhange steht
die Friedlosigkeit mit den Todesstrafen. Man darf die Friedloslegung
geradezu als das Todesurteil einer Rechtsgenossenschaft bezeichnen 35,
welche die Verfolgung und Tötung des Verbrechers nicht bestimmten
Polizeiorganen, etwa beamteten Schergen, sondern sämtlichen Rechts-
genossen überlässt. Nach den nordischen Rechten sollte das Todes-
urteil, welches die Friedloslegung enthielt, erst binnen einer gewissen
Frist wirksam werden. In der Regel gönnte man dem Verurteilten
die Zeit zur Flucht. Er sollte erst getötet werden dürfen, wenn das
Gericht beendigt war, welches die Friedlosigkeit ausgesprochen hatte.
Offenbar sollte die Situation des Angeklagten nicht dadurch ver-
schlimmert werden, dass er sich freiwillig vor Gericht stellte. Andern-
falls hätte man auf das Fernbleiben des Schuldigen eine Prämie
gesetzt. Wurde die Frist zur Flucht versagt 36 oder wurde der Misse-
thäter auf handhafter That ertappt, so setzte sich die Friedlosigkeit
thatsächlich sofort in die Todesstrafe um. Gegen den flüchtigen Ver-
brecher war -- wenn wir uns in ein Gemeinwesen ohne Polizei
hineindenken -- ein Todesurteil nur in der Form der Friedloslegung
wirksam, weil erst durch diese der einzelne Volksgenosse die Erlaubnis
erhielt, den Missethäter zu verfolgen, sich seiner zu bemächtigen, ihn
zu töten. Eine Beschränkung der allgemeinen Tötungsbefugnis, wie sie
mit der Friedlosigkeit ursprünglich regelmässig gegeben war, hebt an
sich den Begriff der Friedlosigkeit nicht auf. Jüngere Quellen kennen
eine Friedlosigkeit, die sich nur in dem allgemeinen Rechte der Fest-
nahme des Verurteilten äussert 37 oder die Tötung dem Verletzten

33 Farwazanei, altniederd. farwatanussei = anathema, exsecratio. Verdoemen
ende verwaten in Reinaert 853. Ebenda 2734: met enen verwatenen ballinghe. Die
althochd. Glosse Steinmeyer u. Sievers I 275, 38 übersetzt condemnabitur mit
fartribaner wirdit.
34 Fluchen ist nach Grimm, WB III 1829 seiner Grundbedeutung nach so
viel wie verstossen, nach Kluge, WB S 85 beklagen.
35 Mit dem Vorbehalte, dass die Vollstreckung der Friedlosigkeit kein wahres
Rechtsverfahren ist. Vgl. unten S 183, Anm 21.
36 So nach norwegischem Rechte wegen des im Ding verübten Totschlags.
Wilda, Strafr. S 285.
37 Diesen Charakter hat die Verfestung des Ssp und der verwandten Rechts-
quellen. Sie ist Friedloslegung, denn sie nimmt innerhalb des Bezirks des ver-

§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.
got. afdomjan, ahd. farwâzan, alts. forwâtan 33 werden einerseits für
verurteilen, andrerseits für verfluchen gebraucht 34.

Die Friedlosigkeit schlieſst in ältester Zeit die Tötung und die
Verbannung, die Strafknechtschaft, die Vermögenseinziehung und den
Hausbrand in sich, die sich später als selbständige Strafen von ihr
abgespalten haben. In engem geschichtlichen Zusammenhange steht
die Friedlosigkeit mit den Todesstrafen. Man darf die Friedloslegung
geradezu als das Todesurteil einer Rechtsgenossenschaft bezeichnen 35,
welche die Verfolgung und Tötung des Verbrechers nicht bestimmten
Polizeiorganen, etwa beamteten Schergen, sondern sämtlichen Rechts-
genossen überläſst. Nach den nordischen Rechten sollte das Todes-
urteil, welches die Friedloslegung enthielt, erst binnen einer gewissen
Frist wirksam werden. In der Regel gönnte man dem Verurteilten
die Zeit zur Flucht. Er sollte erst getötet werden dürfen, wenn das
Gericht beendigt war, welches die Friedlosigkeit ausgesprochen hatte.
Offenbar sollte die Situation des Angeklagten nicht dadurch ver-
schlimmert werden, daſs er sich freiwillig vor Gericht stellte. Andern-
falls hätte man auf das Fernbleiben des Schuldigen eine Prämie
gesetzt. Wurde die Frist zur Flucht versagt 36 oder wurde der Misse-
thäter auf handhafter That ertappt, so setzte sich die Friedlosigkeit
thatsächlich sofort in die Todesstrafe um. Gegen den flüchtigen Ver-
brecher war — wenn wir uns in ein Gemeinwesen ohne Polizei
hineindenken — ein Todesurteil nur in der Form der Friedloslegung
wirksam, weil erst durch diese der einzelne Volksgenosse die Erlaubnis
erhielt, den Missethäter zu verfolgen, sich seiner zu bemächtigen, ihn
zu töten. Eine Beschränkung der allgemeinen Tötungsbefugnis, wie sie
mit der Friedlosigkeit ursprünglich regelmäſsig gegeben war, hebt an
sich den Begriff der Friedlosigkeit nicht auf. Jüngere Quellen kennen
eine Friedlosigkeit, die sich nur in dem allgemeinen Rechte der Fest-
nahme des Verurteilten äuſsert 37 oder die Tötung dem Verletzten

33 Farwâzanî, altniederd. farwâtanussî = anathema, exsecratio. Verdoemen
ende verwaten in Reinaert 853. Ebenda 2734: met enen verwatenen ballinghe. Die
althochd. Glosse Steinmeyer u. Sievers I 275, 38 übersetzt condemnabitur mit
fartribaner wirdit.
34 Fluchen ist nach Grimm, WB III 1829 seiner Grundbedeutung nach so
viel wie verstoſsen, nach Kluge, WB S 85 beklagen.
35 Mit dem Vorbehalte, daſs die Vollstreckung der Friedlosigkeit kein wahres
Rechtsverfahren ist. Vgl. unten S 183, Anm 21.
36 So nach norwegischem Rechte wegen des im Ding verübten Totschlags.
Wilda, Strafr. S 285.
37 Diesen Charakter hat die Verfestung des Ssp und der verwandten Rechts-
quellen. Sie ist Friedloslegung, denn sie nimmt innerhalb des Bezirks des ver-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0191" n="173"/><fw place="top" type="header">§ 22. Friedlosigkeit und Opfertod.</fw><lb/>
got. afdomjan, ahd. farwâzan, alts. forwâtan <note place="foot" n="33">Farwâzanî, altniederd. farwâtanussî = anathema, exsecratio. Verdoemen<lb/>
ende verwaten in Reinaert 853. Ebenda 2734: met enen verwatenen ballinghe. Die<lb/>
althochd. Glosse <hi rendition="#g">Steinmeyer u. Sievers</hi> I 275, 38 übersetzt condemnabitur mit<lb/>
fartribaner wirdit.</note> werden einerseits für<lb/>
verurteilen, andrerseits für verfluchen gebraucht <note place="foot" n="34">Fluchen ist nach <hi rendition="#g">Grimm</hi>, WB III 1829 seiner Grundbedeutung nach so<lb/>
viel wie versto&#x017F;sen, nach <hi rendition="#g">Kluge</hi>, WB S 85 beklagen.</note>.</p><lb/>
          <p>Die Friedlosigkeit schlie&#x017F;st in ältester Zeit die Tötung und die<lb/>
Verbannung, die Strafknechtschaft, die Vermögenseinziehung und den<lb/>
Hausbrand in sich, die sich später als selbständige Strafen von ihr<lb/>
abgespalten haben. In engem geschichtlichen Zusammenhange steht<lb/>
die Friedlosigkeit mit den Todesstrafen. Man darf die Friedloslegung<lb/>
geradezu als das Todesurteil einer Rechtsgenossenschaft bezeichnen <note place="foot" n="35">Mit dem Vorbehalte, da&#x017F;s die Vollstreckung der Friedlosigkeit kein wahres<lb/>
Rechtsverfahren ist. Vgl. unten S 183, Anm 21.</note>,<lb/>
welche die Verfolgung und Tötung des Verbrechers nicht bestimmten<lb/>
Polizeiorganen, etwa beamteten Schergen, sondern sämtlichen Rechts-<lb/>
genossen überlä&#x017F;st. Nach den nordischen Rechten sollte das Todes-<lb/>
urteil, welches die Friedloslegung enthielt, erst binnen einer gewissen<lb/>
Frist wirksam werden. In der Regel gönnte man dem Verurteilten<lb/>
die Zeit zur Flucht. Er sollte erst getötet werden dürfen, wenn das<lb/>
Gericht beendigt war, welches die Friedlosigkeit ausgesprochen hatte.<lb/>
Offenbar sollte die Situation des Angeklagten nicht dadurch ver-<lb/>
schlimmert werden, da&#x017F;s er sich freiwillig vor Gericht stellte. Andern-<lb/>
falls hätte man auf das Fernbleiben des Schuldigen eine Prämie<lb/>
gesetzt. Wurde die Frist zur Flucht versagt <note place="foot" n="36">So nach norwegischem Rechte wegen des im Ding verübten Totschlags.<lb/><hi rendition="#g">Wilda</hi>, Strafr. S 285.</note> oder wurde der Misse-<lb/>
thäter auf handhafter That ertappt, so setzte sich die Friedlosigkeit<lb/>
thatsächlich sofort in die Todesstrafe um. Gegen den flüchtigen Ver-<lb/>
brecher war &#x2014; wenn wir uns in ein Gemeinwesen ohne Polizei<lb/>
hineindenken &#x2014; ein Todesurteil nur in der Form der Friedloslegung<lb/>
wirksam, weil erst durch diese der einzelne Volksgenosse die Erlaubnis<lb/>
erhielt, den Missethäter zu verfolgen, sich seiner zu bemächtigen, ihn<lb/>
zu töten. Eine Beschränkung der allgemeinen Tötungsbefugnis, wie sie<lb/>
mit der Friedlosigkeit ursprünglich regelmä&#x017F;sig gegeben war, hebt an<lb/>
sich den Begriff der Friedlosigkeit nicht auf. Jüngere Quellen kennen<lb/>
eine Friedlosigkeit, die sich nur in dem allgemeinen Rechte der Fest-<lb/>
nahme des Verurteilten äu&#x017F;sert <note xml:id="note-0191" next="#note-0192" place="foot" n="37">Diesen Charakter hat die Verfestung des Ssp und der verwandten Rechts-<lb/>
quellen. Sie ist Friedloslegung, denn sie nimmt innerhalb des Bezirks des ver-</note> oder die Tötung dem Verletzten<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0191] § 22. Friedlosigkeit und Opfertod. got. afdomjan, ahd. farwâzan, alts. forwâtan 33 werden einerseits für verurteilen, andrerseits für verfluchen gebraucht 34. Die Friedlosigkeit schlieſst in ältester Zeit die Tötung und die Verbannung, die Strafknechtschaft, die Vermögenseinziehung und den Hausbrand in sich, die sich später als selbständige Strafen von ihr abgespalten haben. In engem geschichtlichen Zusammenhange steht die Friedlosigkeit mit den Todesstrafen. Man darf die Friedloslegung geradezu als das Todesurteil einer Rechtsgenossenschaft bezeichnen 35, welche die Verfolgung und Tötung des Verbrechers nicht bestimmten Polizeiorganen, etwa beamteten Schergen, sondern sämtlichen Rechts- genossen überläſst. Nach den nordischen Rechten sollte das Todes- urteil, welches die Friedloslegung enthielt, erst binnen einer gewissen Frist wirksam werden. In der Regel gönnte man dem Verurteilten die Zeit zur Flucht. Er sollte erst getötet werden dürfen, wenn das Gericht beendigt war, welches die Friedlosigkeit ausgesprochen hatte. Offenbar sollte die Situation des Angeklagten nicht dadurch ver- schlimmert werden, daſs er sich freiwillig vor Gericht stellte. Andern- falls hätte man auf das Fernbleiben des Schuldigen eine Prämie gesetzt. Wurde die Frist zur Flucht versagt 36 oder wurde der Misse- thäter auf handhafter That ertappt, so setzte sich die Friedlosigkeit thatsächlich sofort in die Todesstrafe um. Gegen den flüchtigen Ver- brecher war — wenn wir uns in ein Gemeinwesen ohne Polizei hineindenken — ein Todesurteil nur in der Form der Friedloslegung wirksam, weil erst durch diese der einzelne Volksgenosse die Erlaubnis erhielt, den Missethäter zu verfolgen, sich seiner zu bemächtigen, ihn zu töten. Eine Beschränkung der allgemeinen Tötungsbefugnis, wie sie mit der Friedlosigkeit ursprünglich regelmäſsig gegeben war, hebt an sich den Begriff der Friedlosigkeit nicht auf. Jüngere Quellen kennen eine Friedlosigkeit, die sich nur in dem allgemeinen Rechte der Fest- nahme des Verurteilten äuſsert 37 oder die Tötung dem Verletzten 33 Farwâzanî, altniederd. farwâtanussî = anathema, exsecratio. Verdoemen ende verwaten in Reinaert 853. Ebenda 2734: met enen verwatenen ballinghe. Die althochd. Glosse Steinmeyer u. Sievers I 275, 38 übersetzt condemnabitur mit fartribaner wirdit. 34 Fluchen ist nach Grimm, WB III 1829 seiner Grundbedeutung nach so viel wie verstoſsen, nach Kluge, WB S 85 beklagen. 35 Mit dem Vorbehalte, daſs die Vollstreckung der Friedlosigkeit kein wahres Rechtsverfahren ist. Vgl. unten S 183, Anm 21. 36 So nach norwegischem Rechte wegen des im Ding verübten Totschlags. Wilda, Strafr. S 285. 37 Diesen Charakter hat die Verfestung des Ssp und der verwandten Rechts- quellen. Sie ist Friedloslegung, denn sie nimmt innerhalb des Bezirks des ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/191
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/191>, abgerufen am 27.04.2024.