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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 1. Aufgabe und Bedeutung

Als Tochterrechte des deutschen Rechtes erscheinen das angel-
sächsische und das englische, das langobardisch-italienische, das
französische Recht und die niederländischen Rechte. Die deutschen
Auswanderer, die man nachmals als Angelsachsen zusammenfasste,
verpflanzten ihr heimisches Recht in das von ihnen eroberte Britannien,
um es hier in selbständiger Weise fortzubilden. Als dann die west-
fränkischen Normannen England eroberten, brachten sie daselbst die
fränkischen Rechtseinrichtungen ihrer Heimat zur Geltung. Haupt-
sächlich auf fränkisch-normannischen, teilweise auf angelsächsischen
Grundlagen beruht die Entwicklung des englischen Rechtes. Die
Langobarden verschwinden mit ihrer Wanderung nach Italien aus dem
eigentlichen Gesichtsfelde der deutschen Rechtsgeschichte, treten aber
durch ihre Unterwerfung unter das fränkische Reich in die gemein-
same Rechtsentwicklung der in diesem vereinigten Stämme ein. Nach
der Auflösung der fränkischen Monarchie geht nicht bloss das lango-
bardische Recht in enger örtlicher Berührung mit dem römischen
Rechte Italiens seine eigenen Wege, sondern es zweigt sich auch das
westfränkische Recht als französisches Recht von dem Strome der
deutschen Rechtsgeschichte ab. Zuletzt haben sich die nieder-
ländischen Rechte dem deutschen Rechte soweit entfremdet, um aus
der Stellung deutscher Partikularrechte in die Rolle deutscher Tochter-
rechte einzurücken.

Anders wie zur Darstellung verhalten sich die Schwester- und
die Tochterrechte zur Erforschung der deutschen Rechtsgeschichte.
Muss auch jene sie ausschliessen, so kann doch diese sie nicht ent-
behren. Denn nur die kritische Vergleichung der Schwester- und
Tochterrechte gestattet uns die Geschichte des deutschen Rechtes bis
in Zeiten zurück zu verfolgen, über welche unsere Rechtsquellen keine
oder keine ausreichende Auskunft gewähren, und nicht selten bieten
uns die Denkmäler der verwandten Rechte die einzige oder die
sicherste Zuflucht zur methodischen Aufklärung dunkler und zweifel-
hafter Fragen unserer heimischen Rechtsentwicklung.

In Deutschland sind seit dem 15. Jahrh. römisches Recht, kanonisches
Recht und langobardisches Lehnrecht rezipiert worden. Diese drei
Rechte hat man im Sinne, wenn man schlechtweg von den in Deutsch-
land rezipierten fremden Rechten spricht. Was als römisches Recht
in Geltung trat, war nicht das reine römische Recht der Rechtsbücher
Justinians, sondern das Recht, welches italienische Rechtswissenschaft
und Rechtspraxis auf Grund jener Rechtsbücher ausgebildet hatten.
Auf die Ausgestaltung desselben und ebenso auf den Entwicklungs-
gang des kanonischen Rechtes übte das langobardische Recht einen

§ 1. Aufgabe und Bedeutung

Als Tochterrechte des deutschen Rechtes erscheinen das angel-
sächsische und das englische, das langobardisch-italienische, das
französische Recht und die niederländischen Rechte. Die deutschen
Auswanderer, die man nachmals als Angelsachsen zusammenfaſste,
verpflanzten ihr heimisches Recht in das von ihnen eroberte Britannien,
um es hier in selbständiger Weise fortzubilden. Als dann die west-
fränkischen Normannen England eroberten, brachten sie daselbst die
fränkischen Rechtseinrichtungen ihrer Heimat zur Geltung. Haupt-
sächlich auf fränkisch-normannischen, teilweise auf angelsächsischen
Grundlagen beruht die Entwicklung des englischen Rechtes. Die
Langobarden verschwinden mit ihrer Wanderung nach Italien aus dem
eigentlichen Gesichtsfelde der deutschen Rechtsgeschichte, treten aber
durch ihre Unterwerfung unter das fränkische Reich in die gemein-
same Rechtsentwicklung der in diesem vereinigten Stämme ein. Nach
der Auflösung der fränkischen Monarchie geht nicht bloſs das lango-
bardische Recht in enger örtlicher Berührung mit dem römischen
Rechte Italiens seine eigenen Wege, sondern es zweigt sich auch das
westfränkische Recht als französisches Recht von dem Strome der
deutschen Rechtsgeschichte ab. Zuletzt haben sich die nieder-
ländischen Rechte dem deutschen Rechte soweit entfremdet, um aus
der Stellung deutscher Partikularrechte in die Rolle deutscher Tochter-
rechte einzurücken.

Anders wie zur Darstellung verhalten sich die Schwester- und
die Tochterrechte zur Erforschung der deutschen Rechtsgeschichte.
Muſs auch jene sie ausschlieſsen, so kann doch diese sie nicht ent-
behren. Denn nur die kritische Vergleichung der Schwester- und
Tochterrechte gestattet uns die Geschichte des deutschen Rechtes bis
in Zeiten zurück zu verfolgen, über welche unsere Rechtsquellen keine
oder keine ausreichende Auskunft gewähren, und nicht selten bieten
uns die Denkmäler der verwandten Rechte die einzige oder die
sicherste Zuflucht zur methodischen Aufklärung dunkler und zweifel-
hafter Fragen unserer heimischen Rechtsentwicklung.

In Deutschland sind seit dem 15. Jahrh. römisches Recht, kanonisches
Recht und langobardisches Lehnrecht rezipiert worden. Diese drei
Rechte hat man im Sinne, wenn man schlechtweg von den in Deutsch-
land rezipierten fremden Rechten spricht. Was als römisches Recht
in Geltung trat, war nicht das reine römische Recht der Rechtsbücher
Justinians, sondern das Recht, welches italienische Rechtswissenschaft
und Rechtspraxis auf Grund jener Rechtsbücher ausgebildet hatten.
Auf die Ausgestaltung desselben und ebenso auf den Entwicklungs-
gang des kanonischen Rechtes übte das langobardische Recht einen

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[2/0020] § 1. Aufgabe und Bedeutung Als Tochterrechte des deutschen Rechtes erscheinen das angel- sächsische und das englische, das langobardisch-italienische, das französische Recht und die niederländischen Rechte. Die deutschen Auswanderer, die man nachmals als Angelsachsen zusammenfaſste, verpflanzten ihr heimisches Recht in das von ihnen eroberte Britannien, um es hier in selbständiger Weise fortzubilden. Als dann die west- fränkischen Normannen England eroberten, brachten sie daselbst die fränkischen Rechtseinrichtungen ihrer Heimat zur Geltung. Haupt- sächlich auf fränkisch-normannischen, teilweise auf angelsächsischen Grundlagen beruht die Entwicklung des englischen Rechtes. Die Langobarden verschwinden mit ihrer Wanderung nach Italien aus dem eigentlichen Gesichtsfelde der deutschen Rechtsgeschichte, treten aber durch ihre Unterwerfung unter das fränkische Reich in die gemein- same Rechtsentwicklung der in diesem vereinigten Stämme ein. Nach der Auflösung der fränkischen Monarchie geht nicht bloſs das lango- bardische Recht in enger örtlicher Berührung mit dem römischen Rechte Italiens seine eigenen Wege, sondern es zweigt sich auch das westfränkische Recht als französisches Recht von dem Strome der deutschen Rechtsgeschichte ab. Zuletzt haben sich die nieder- ländischen Rechte dem deutschen Rechte soweit entfremdet, um aus der Stellung deutscher Partikularrechte in die Rolle deutscher Tochter- rechte einzurücken. Anders wie zur Darstellung verhalten sich die Schwester- und die Tochterrechte zur Erforschung der deutschen Rechtsgeschichte. Muſs auch jene sie ausschlieſsen, so kann doch diese sie nicht ent- behren. Denn nur die kritische Vergleichung der Schwester- und Tochterrechte gestattet uns die Geschichte des deutschen Rechtes bis in Zeiten zurück zu verfolgen, über welche unsere Rechtsquellen keine oder keine ausreichende Auskunft gewähren, und nicht selten bieten uns die Denkmäler der verwandten Rechte die einzige oder die sicherste Zuflucht zur methodischen Aufklärung dunkler und zweifel- hafter Fragen unserer heimischen Rechtsentwicklung. In Deutschland sind seit dem 15. Jahrh. römisches Recht, kanonisches Recht und langobardisches Lehnrecht rezipiert worden. Diese drei Rechte hat man im Sinne, wenn man schlechtweg von den in Deutsch- land rezipierten fremden Rechten spricht. Was als römisches Recht in Geltung trat, war nicht das reine römische Recht der Rechtsbücher Justinians, sondern das Recht, welches italienische Rechtswissenschaft und Rechtspraxis auf Grund jener Rechtsbücher ausgebildet hatten. Auf die Ausgestaltung desselben und ebenso auf den Entwicklungs- gang des kanonischen Rechtes übte das langobardische Recht einen

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/20>, abgerufen am 28.03.2024.