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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 38. Die Volksrechte.
tionen glaubte man bis in die neuere Zeit auch für die meisten
deutschen Volksrechte annehmen zu müssen. Doch ist die neueste
Kritik dieser Hypothese gegenüber aus guten Gründen vorsichtig ge-
worden, es gewinnt vielmehr die entgegengesetzte Ansicht festeren
Boden, dass es in der Regel den Abschreibern überlassen blieb, das
neue Recht mit dem alten in Verbindung zu setzen und dass sich auf
dem Wege handschriftlicher Fortbildung eine mehr oder minder tra-
ditionelle Textgestaltung der einzelnen Leges festsetzte.

Die Volksrechte wollen das geltende Recht nicht in erschöpfender
Weise darstellen, sie sind nicht Kodifikationen im Sinne unserer
modernen Gesetzbücher, sondern beschränken sich auf solche Rechts-
sätze, welche zu fixieren eine besondere Veranlassung vorlag. Der
strafrechtliche Inhalt überwiegt namentlich in den älteren Leges, in
welchen erhebliche Abschnitte als Kataloge von Busszahlen erscheinen.
Daneben gelangten insbesondere noch Grundsätze des Rechtsganges
zur Aufzeichnung. Ziemlich stiefmütterlich wurde das Privatrecht
behandelt. Das Staatsrecht hat nur in einzelnen Leges, so im
ribuarischen, im alamannischen und bairischen Volksrechte, nennens-
werte Beachtung gefunden.

Dass die Volksrechte als geschriebenes Recht der Rechtsprechung
zu Grunde zu legen seien, wurde gelegentlich besonders eingeschärft;
ihre thatsächliche Anwendung ist uns mehrfach bezeugt. In dem
Volksrechte der Baiern begegnet uns die ausdrückliche Vorschrift,
dass der Graf im Gerichte den liber legis bei sich haben solle 20.
Den angelsächsischen Richtern schrieb der König Edward vor, die Ur-
teile gemäss dem Satzungsbuche (dombok) zu sprechen 21. In Italien
schärfte Pippin um 790 ein, dass die lex, das geschriebene Volksrecht,
einen entgegenstehenden Brauch ausschliesse 22. Fränkische Kapitu-
larien ermahnen die Richter, die Grafen und ihre Vikare das Recht
kennen zu lernen; nach geschriebenem Rechte, nicht nach eigenem
Ermessen, solle geurteilt werden 23. Mit peinlicher Genauigkeit hielt

20 Lex Baiuw. II 14, 2.
21 Edw. I, praef. Vgl. Edw. II 5, Edg. II 3. 5.
22 Cap. I 201, c. 10: placuit nobis inserere: ubi lex est praecellat consuetu-
dinem et nulla consuetudo superponatur legi.
23 Admon. gen. c. 63, I 58: primo namque iudici diligenter discenda est lex
a sapientibus populo conposita. Cap. v. J. 802 c. 26, I 96: ut iudices secundum
scriptam legem iuste iudicent, non secundum arbitrium suum. Cap. von 801--14
c. 4, I 144: ut comites et vicarii eorum legem sciant, ut ante eos iniuste neminem
quis iudicare possit vel ipsam legem mutare. LL I 528, c. 1: sed tantum secun-
dum scripturam iudicent, ut nullatenus audeant secundum arbitrium suum iudicare;
sed discant pleniter legem scriptam.
19*

§ 38. Die Volksrechte.
tionen glaubte man bis in die neuere Zeit auch für die meisten
deutschen Volksrechte annehmen zu müssen. Doch ist die neueste
Kritik dieser Hypothese gegenüber aus guten Gründen vorsichtig ge-
worden, es gewinnt vielmehr die entgegengesetzte Ansicht festeren
Boden, daſs es in der Regel den Abschreibern überlassen blieb, das
neue Recht mit dem alten in Verbindung zu setzen und daſs sich auf
dem Wege handschriftlicher Fortbildung eine mehr oder minder tra-
ditionelle Textgestaltung der einzelnen Leges festsetzte.

Die Volksrechte wollen das geltende Recht nicht in erschöpfender
Weise darstellen, sie sind nicht Kodifikationen im Sinne unserer
modernen Gesetzbücher, sondern beschränken sich auf solche Rechts-
sätze, welche zu fixieren eine besondere Veranlassung vorlag. Der
strafrechtliche Inhalt überwiegt namentlich in den älteren Leges, in
welchen erhebliche Abschnitte als Kataloge von Buſszahlen erscheinen.
Daneben gelangten insbesondere noch Grundsätze des Rechtsganges
zur Aufzeichnung. Ziemlich stiefmütterlich wurde das Privatrecht
behandelt. Das Staatsrecht hat nur in einzelnen Leges, so im
ribuarischen, im alamannischen und bairischen Volksrechte, nennens-
werte Beachtung gefunden.

Daſs die Volksrechte als geschriebenes Recht der Rechtsprechung
zu Grunde zu legen seien, wurde gelegentlich besonders eingeschärft;
ihre thatsächliche Anwendung ist uns mehrfach bezeugt. In dem
Volksrechte der Baiern begegnet uns die ausdrückliche Vorschrift,
daſs der Graf im Gerichte den liber legis bei sich haben solle 20.
Den angelsächsischen Richtern schrieb der König Edward vor, die Ur-
teile gemäſs dem Satzungsbuche (dômbôk) zu sprechen 21. In Italien
schärfte Pippin um 790 ein, daſs die lex, das geschriebene Volksrecht,
einen entgegenstehenden Brauch ausschlieſse 22. Fränkische Kapitu-
larien ermahnen die Richter, die Grafen und ihre Vikare das Recht
kennen zu lernen; nach geschriebenem Rechte, nicht nach eigenem
Ermessen, solle geurteilt werden 23. Mit peinlicher Genauigkeit hielt

20 Lex Baiuw. II 14, 2.
21 Edw. I, praef. Vgl. Edw. II 5, Edg. II 3. 5.
22 Cap. I 201, c. 10: placuit nobis inserere: ubi lex est praecellat consuetu-
dinem et nulla consuetudo superponatur legi.
23 Admon. gen. c. 63, I 58: primo namque iudici diligenter discenda est lex
a sapientibus populo conposita. Cap. v. J. 802 c. 26, I 96: ut iudices secundum
scriptam legem iuste iudicent, non secundum arbitrium suum. Cap. von 801—14
c. 4, I 144: ut comites et vicarii eorum legem sciant, ut ante eos iniuste neminem
quis iudicare possit vel ipsam legem mutare. LL I 528, c. 1: sed tantum secun-
dum scripturam iudicent, ut nullatenus audeant secundum arbitrium suum iudicare;
sed discant pleniter legem scriptam.
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[291/0309] § 38. Die Volksrechte. tionen glaubte man bis in die neuere Zeit auch für die meisten deutschen Volksrechte annehmen zu müssen. Doch ist die neueste Kritik dieser Hypothese gegenüber aus guten Gründen vorsichtig ge- worden, es gewinnt vielmehr die entgegengesetzte Ansicht festeren Boden, daſs es in der Regel den Abschreibern überlassen blieb, das neue Recht mit dem alten in Verbindung zu setzen und daſs sich auf dem Wege handschriftlicher Fortbildung eine mehr oder minder tra- ditionelle Textgestaltung der einzelnen Leges festsetzte. Die Volksrechte wollen das geltende Recht nicht in erschöpfender Weise darstellen, sie sind nicht Kodifikationen im Sinne unserer modernen Gesetzbücher, sondern beschränken sich auf solche Rechts- sätze, welche zu fixieren eine besondere Veranlassung vorlag. Der strafrechtliche Inhalt überwiegt namentlich in den älteren Leges, in welchen erhebliche Abschnitte als Kataloge von Buſszahlen erscheinen. Daneben gelangten insbesondere noch Grundsätze des Rechtsganges zur Aufzeichnung. Ziemlich stiefmütterlich wurde das Privatrecht behandelt. Das Staatsrecht hat nur in einzelnen Leges, so im ribuarischen, im alamannischen und bairischen Volksrechte, nennens- werte Beachtung gefunden. Daſs die Volksrechte als geschriebenes Recht der Rechtsprechung zu Grunde zu legen seien, wurde gelegentlich besonders eingeschärft; ihre thatsächliche Anwendung ist uns mehrfach bezeugt. In dem Volksrechte der Baiern begegnet uns die ausdrückliche Vorschrift, daſs der Graf im Gerichte den liber legis bei sich haben solle 20. Den angelsächsischen Richtern schrieb der König Edward vor, die Ur- teile gemäſs dem Satzungsbuche (dômbôk) zu sprechen 21. In Italien schärfte Pippin um 790 ein, daſs die lex, das geschriebene Volksrecht, einen entgegenstehenden Brauch ausschlieſse 22. Fränkische Kapitu- larien ermahnen die Richter, die Grafen und ihre Vikare das Recht kennen zu lernen; nach geschriebenem Rechte, nicht nach eigenem Ermessen, solle geurteilt werden 23. Mit peinlicher Genauigkeit hielt 20 Lex Baiuw. II 14, 2. 21 Edw. I, praef. Vgl. Edw. II 5, Edg. II 3. 5. 22 Cap. I 201, c. 10: placuit nobis inserere: ubi lex est praecellat consuetu- dinem et nulla consuetudo superponatur legi. 23 Admon. gen. c. 63, I 58: primo namque iudici diligenter discenda est lex a sapientibus populo conposita. Cap. v. J. 802 c. 26, I 96: ut iudices secundum scriptam legem iuste iudicent, non secundum arbitrium suum. Cap. von 801—14 c. 4, I 144: ut comites et vicarii eorum legem sciant, ut ante eos iniuste neminem quis iudicare possit vel ipsam legem mutare. LL I 528, c. 1: sed tantum secun- dum scripturam iudicent, ut nullatenus audeant secundum arbitrium suum iudicare; sed discant pleniter legem scriptam. 19*

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/309>, abgerufen am 29.03.2024.