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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 55. Die Kapitulariensammlungen.
2) eine in Prosa abgefasste "praefatio", nach welcher der Verfasser
aus Liebe zu Gott und zum Frommen der Kirche, ihrer Diener und
des ganzen Volkes die Sammlung des Ansegisus durch drei weitere
Bücher ergänzt habe auf Grund von Vorlagen, die er an verschiedenen
Orten, namentlich in dem Archiv der Mainzer Kirche fand; 3) ein
lateinisches Gedicht auf die Karolinger von Pippin und Karlmann bis
zu den Söhnen Ludwigs I., Lothar, Ludwig und Karl. Der metrische
Prolog verweist auf die praefatio 9, diese auf das Lobgedicht 10. Die
praefatio ist wohl erheblich später wie die Sammlung entstanden.
Denn in den Akten der Synode von Kiersy von 858, welche die erste
sichere Spur ihrer Benutzung enthalten, werden über die Synode von
Lestines irrtümliche Angaben gemacht, die der praefatio widersprechen,
so dass diese damals mit der Sammlung noch nicht verbunden gewesen
sein kann 11. Dasselbe muss von dem metrischen Prologe gelten, da
dieser auf die praefatio verweist.

Die Beziehungen der Sammlung zum Erzbistum Mainz sind er-
dichtet. Sie ist nicht in Mainz entstanden. Eine Reihe von Indizien
verrät westfränkischen Ursprung. So die feindselige Stellung, welche
Benedictus zu den Chorbischöfen einnimmt, die in Westfrancien leb-
haft bekämpft wurden, dagegen in Mainz unangefochtenes Ansehen
genossen, ferner die Benutzung und Verbreitung der Sammlung im
westfränkischen Reiche, während Rabanus, Otgars Nachfolger in Mainz,
dieselbe nicht kennt. Man hat diese Thatsachen mit den Angaben
des Prologs und der Vorrede durch die Annahme zu vereinigen ge-
sucht, dass die Sammlung zwar in Mainz begonnen, aber im west-
fränkischen Reiche zum Abschluss gebracht worden sei 12. Allein der
Prolog und die Vorrede teilen den Charakter der Sammlung, sie sind
auf Täuschung berechnet und verweisen auf Mainz, um von der Spur
des Fälschers abzulenken. Den Dolus verrät ein Passus des Lob-
gedichtes. Es sagt von Ludwig dem Deutschen: fluvii cis litora Reni
imperat. Ludwigs Herrschaft lag bekanntlich in der Hauptsache rechts
des Rheins, links des Rheins hatte er nur einige Gaue 13, darunter
den von Mainz. Ein in Mainz lebender Verfasser konnte unmöglich

9 Die oben Anm 8 angeführte Stelle fährt fort:
quos patet inventos, praefatio pandit ut ipsa, ...
10 Primo igitur in loco posuimus nonnullos versiculos in laudem praedictorum
principum metrice compositos.
11 Hervorgehoben und näher begründet von Roth, Z f. RG V 17 f.
12 Hinschius a. O. S CLXXXVI. Richter-Dove, KR § 36.
13 Hier sind die "gentes ferae", die Ludwig regiert, sicher nicht zu suchen.
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 25

§ 55. Die Kapitulariensammlungen.
2) eine in Prosa abgefaſste „praefatio“, nach welcher der Verfasser
aus Liebe zu Gott und zum Frommen der Kirche, ihrer Diener und
des ganzen Volkes die Sammlung des Ansegisus durch drei weitere
Bücher ergänzt habe auf Grund von Vorlagen, die er an verschiedenen
Orten, namentlich in dem Archiv der Mainzer Kirche fand; 3) ein
lateinisches Gedicht auf die Karolinger von Pippin und Karlmann bis
zu den Söhnen Ludwigs I., Lothar, Ludwig und Karl. Der metrische
Prolog verweist auf die praefatio 9, diese auf das Lobgedicht 10. Die
praefatio ist wohl erheblich später wie die Sammlung entstanden.
Denn in den Akten der Synode von Kiersy von 858, welche die erste
sichere Spur ihrer Benutzung enthalten, werden über die Synode von
Lestines irrtümliche Angaben gemacht, die der praefatio widersprechen,
so daſs diese damals mit der Sammlung noch nicht verbunden gewesen
sein kann 11. Dasselbe muſs von dem metrischen Prologe gelten, da
dieser auf die praefatio verweist.

Die Beziehungen der Sammlung zum Erzbistum Mainz sind er-
dichtet. Sie ist nicht in Mainz entstanden. Eine Reihe von Indizien
verrät westfränkischen Ursprung. So die feindselige Stellung, welche
Benedictus zu den Chorbischöfen einnimmt, die in Westfrancien leb-
haft bekämpft wurden, dagegen in Mainz unangefochtenes Ansehen
genossen, ferner die Benutzung und Verbreitung der Sammlung im
westfränkischen Reiche, während Rabanus, Otgars Nachfolger in Mainz,
dieselbe nicht kennt. Man hat diese Thatsachen mit den Angaben
des Prologs und der Vorrede durch die Annahme zu vereinigen ge-
sucht, daſs die Sammlung zwar in Mainz begonnen, aber im west-
fränkischen Reiche zum Abschluſs gebracht worden sei 12. Allein der
Prolog und die Vorrede teilen den Charakter der Sammlung, sie sind
auf Täuschung berechnet und verweisen auf Mainz, um von der Spur
des Fälschers abzulenken. Den Dolus verrät ein Passus des Lob-
gedichtes. Es sagt von Ludwig dem Deutschen: fluvii cis litora Reni
imperat. Ludwigs Herrschaft lag bekanntlich in der Hauptsache rechts
des Rheins, links des Rheins hatte er nur einige Gaue 13, darunter
den von Mainz. Ein in Mainz lebender Verfasser konnte unmöglich

9 Die oben Anm 8 angeführte Stelle fährt fort:
quos patet inventos, praefatio pandit ut ipsa, …
10 Primo igitur in loco posuimus nonnullos versiculos in laudem praedictorum
principum metrice compositos.
11 Hervorgehoben und näher begründet von Roth, Z f. RG V 17 f.
12 Hinschius a. O. S CLXXXVI. Richter-Dove, KR § 36.
13 Hier sind die „gentes ferae“, die Ludwig regiert, sicher nicht zu suchen.
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 25
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[385/0403] § 55. Die Kapitulariensammlungen. 2) eine in Prosa abgefaſste „praefatio“, nach welcher der Verfasser aus Liebe zu Gott und zum Frommen der Kirche, ihrer Diener und des ganzen Volkes die Sammlung des Ansegisus durch drei weitere Bücher ergänzt habe auf Grund von Vorlagen, die er an verschiedenen Orten, namentlich in dem Archiv der Mainzer Kirche fand; 3) ein lateinisches Gedicht auf die Karolinger von Pippin und Karlmann bis zu den Söhnen Ludwigs I., Lothar, Ludwig und Karl. Der metrische Prolog verweist auf die praefatio 9, diese auf das Lobgedicht 10. Die praefatio ist wohl erheblich später wie die Sammlung entstanden. Denn in den Akten der Synode von Kiersy von 858, welche die erste sichere Spur ihrer Benutzung enthalten, werden über die Synode von Lestines irrtümliche Angaben gemacht, die der praefatio widersprechen, so daſs diese damals mit der Sammlung noch nicht verbunden gewesen sein kann 11. Dasselbe muſs von dem metrischen Prologe gelten, da dieser auf die praefatio verweist. Die Beziehungen der Sammlung zum Erzbistum Mainz sind er- dichtet. Sie ist nicht in Mainz entstanden. Eine Reihe von Indizien verrät westfränkischen Ursprung. So die feindselige Stellung, welche Benedictus zu den Chorbischöfen einnimmt, die in Westfrancien leb- haft bekämpft wurden, dagegen in Mainz unangefochtenes Ansehen genossen, ferner die Benutzung und Verbreitung der Sammlung im westfränkischen Reiche, während Rabanus, Otgars Nachfolger in Mainz, dieselbe nicht kennt. Man hat diese Thatsachen mit den Angaben des Prologs und der Vorrede durch die Annahme zu vereinigen ge- sucht, daſs die Sammlung zwar in Mainz begonnen, aber im west- fränkischen Reiche zum Abschluſs gebracht worden sei 12. Allein der Prolog und die Vorrede teilen den Charakter der Sammlung, sie sind auf Täuschung berechnet und verweisen auf Mainz, um von der Spur des Fälschers abzulenken. Den Dolus verrät ein Passus des Lob- gedichtes. Es sagt von Ludwig dem Deutschen: fluvii cis litora Reni imperat. Ludwigs Herrschaft lag bekanntlich in der Hauptsache rechts des Rheins, links des Rheins hatte er nur einige Gaue 13, darunter den von Mainz. Ein in Mainz lebender Verfasser konnte unmöglich 9 Die oben Anm 8 angeführte Stelle fährt fort: quos patet inventos, praefatio pandit ut ipsa, … 10 Primo igitur in loco posuimus nonnullos versiculos in laudem praedictorum principum metrice compositos. 11 Hervorgehoben und näher begründet von Roth, Z f. RG V 17 f. 12 Hinschius a. O. S CLXXXVI. Richter-Dove, KR § 36. 13 Hier sind die „gentes ferae“, die Ludwig regiert, sicher nicht zu suchen. Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 25

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/403>, abgerufen am 27.04.2024.