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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 55. Die Kapitulariensammlungen.
Ludwig dem Deutschen im Gegensatz zu seinen Brüdern die Herr-
schaft cis litora Reni zuschreiben. Dagegen ist bei einem west-
fränkischen Fälscher, der den Glauben erwecken will, dass die Sammlung
in Mainz entstanden sei, sehr wohl der Irrtum denkbar, dass Mainz
rechts des Rheins liege. Vermutlich haben die irreführenden Angaben
des Prologs und der praefatio mit der Thatsache gerechnet, dass
von Mainz aus die unter Teilnahme des Bonifazius abgehaltenen
Synoden Karlmanns bekannt geworden sind und diese Ergänzung des
Ansegisus in kirchlichen Kreisen des fränkischen Reiches einiges Auf-
sehen erregt hatte. Das auf Mainz hinweisende Material war an die
Spitze der Fälschung gestellt worden. Die angeblichen Originale der
falsa in möglichst weite Ferne zu verlegen, lag im Interesse der-
jenigen, welche eine Entlarvung des Betrugs zu besorgen hatten.

Eine bewusste Fälschung beging der Verfasser der Sammlung,
insofern er Rechtssätze erdichtete, die er in keiner der benutzten
Quellen vorfand 14, und insofern er Rechtssätze, die im weltlichen
Rechte keine oder doch nur örtlich beschränkte Geltung hatten, für
Rechtssätze des fränkischen Reiches ausgab. Die Tendenz des Werkes
ging dahin, die kirchlichen Gewalten durch Erhebung über die welt-
liche Macht von der letzteren unabhängig zu machen. Die Pseudo-
kapitularien haben ein Seitenstück in den um dieselbe Zeit, vermutlich
bald nach ihnen entstandenen Pseudodekretalen, einer gleichfalls in
Westfrancien entstandenen Fälschung, welche verwandte Zwecke ver-
folgt. Das treibende Motiv der damals in den kirchlichen Kreisen
auftretenden Fälschungsepidemie lag in den politischen Verhältnissen
der Zeit. Durch Pippin und Karl war die fränkische Kirche in engere
Beziehung zum Papsttum gesetzt worden. Seit der Wiederherstellung
des Kaisertums trat sie mit Rücksicht auf die religiösen Grundlagen
der Kaiseridee für die Einheit des Reiches ein. Aber schon unter
Ludwig I. sehen wir auf Synoden und Reichstagen die Bischöfe eine
Fülle von Forderungen erheben, welchen sich die weltliche Amts-
aristokratie entgegenstemmte. Als die Reichseinheit in Trümmer ge-
gangen war, stieg der Einfluss des Laienadels und war keine Hoffnung
mehr vorhanden, die steigenden kirchlichen Ansprüche auf dem Wege
der weltlichen Gesetzgebung durchzusetzen. Man griff daher zu dem
Auskunftsmittel, die kirchlichen Wünsche auf dem Wege der Fälschung
zur Geltung zu bringen, indem man die entsprechenden Rechtssätze
als Kapitularien einschmuggelte. Hand in Hand ging damit das Be-
streben, den Halt, welchen die Kirche bei der Auflösung der Universal-

14 Vgl. die Konkordanzen bei Hinschius a. O. S CLXX ff.

§ 55. Die Kapitulariensammlungen.
Ludwig dem Deutschen im Gegensatz zu seinen Brüdern die Herr-
schaft cis litora Reni zuschreiben. Dagegen ist bei einem west-
fränkischen Fälscher, der den Glauben erwecken will, daſs die Sammlung
in Mainz entstanden sei, sehr wohl der Irrtum denkbar, daſs Mainz
rechts des Rheins liege. Vermutlich haben die irreführenden Angaben
des Prologs und der praefatio mit der Thatsache gerechnet, daſs
von Mainz aus die unter Teilnahme des Bonifazius abgehaltenen
Synoden Karlmanns bekannt geworden sind und diese Ergänzung des
Ansegisus in kirchlichen Kreisen des fränkischen Reiches einiges Auf-
sehen erregt hatte. Das auf Mainz hinweisende Material war an die
Spitze der Fälschung gestellt worden. Die angeblichen Originale der
falsa in möglichst weite Ferne zu verlegen, lag im Interesse der-
jenigen, welche eine Entlarvung des Betrugs zu besorgen hatten.

Eine bewuſste Fälschung beging der Verfasser der Sammlung,
insofern er Rechtssätze erdichtete, die er in keiner der benutzten
Quellen vorfand 14, und insofern er Rechtssätze, die im weltlichen
Rechte keine oder doch nur örtlich beschränkte Geltung hatten, für
Rechtssätze des fränkischen Reiches ausgab. Die Tendenz des Werkes
ging dahin, die kirchlichen Gewalten durch Erhebung über die welt-
liche Macht von der letzteren unabhängig zu machen. Die Pseudo-
kapitularien haben ein Seitenstück in den um dieselbe Zeit, vermutlich
bald nach ihnen entstandenen Pseudodekretalen, einer gleichfalls in
Westfrancien entstandenen Fälschung, welche verwandte Zwecke ver-
folgt. Das treibende Motiv der damals in den kirchlichen Kreisen
auftretenden Fälschungsepidemie lag in den politischen Verhältnissen
der Zeit. Durch Pippin und Karl war die fränkische Kirche in engere
Beziehung zum Papsttum gesetzt worden. Seit der Wiederherstellung
des Kaisertums trat sie mit Rücksicht auf die religiösen Grundlagen
der Kaiseridee für die Einheit des Reiches ein. Aber schon unter
Ludwig I. sehen wir auf Synoden und Reichstagen die Bischöfe eine
Fülle von Forderungen erheben, welchen sich die weltliche Amts-
aristokratie entgegenstemmte. Als die Reichseinheit in Trümmer ge-
gangen war, stieg der Einfluſs des Laienadels und war keine Hoffnung
mehr vorhanden, die steigenden kirchlichen Ansprüche auf dem Wege
der weltlichen Gesetzgebung durchzusetzen. Man griff daher zu dem
Auskunftsmittel, die kirchlichen Wünsche auf dem Wege der Fälschung
zur Geltung zu bringen, indem man die entsprechenden Rechtssätze
als Kapitularien einschmuggelte. Hand in Hand ging damit das Be-
streben, den Halt, welchen die Kirche bei der Auflösung der Universal-

14 Vgl. die Konkordanzen bei Hinschius a. O. S CLXX ff.
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[386/0404] § 55. Die Kapitulariensammlungen. Ludwig dem Deutschen im Gegensatz zu seinen Brüdern die Herr- schaft cis litora Reni zuschreiben. Dagegen ist bei einem west- fränkischen Fälscher, der den Glauben erwecken will, daſs die Sammlung in Mainz entstanden sei, sehr wohl der Irrtum denkbar, daſs Mainz rechts des Rheins liege. Vermutlich haben die irreführenden Angaben des Prologs und der praefatio mit der Thatsache gerechnet, daſs von Mainz aus die unter Teilnahme des Bonifazius abgehaltenen Synoden Karlmanns bekannt geworden sind und diese Ergänzung des Ansegisus in kirchlichen Kreisen des fränkischen Reiches einiges Auf- sehen erregt hatte. Das auf Mainz hinweisende Material war an die Spitze der Fälschung gestellt worden. Die angeblichen Originale der falsa in möglichst weite Ferne zu verlegen, lag im Interesse der- jenigen, welche eine Entlarvung des Betrugs zu besorgen hatten. Eine bewuſste Fälschung beging der Verfasser der Sammlung, insofern er Rechtssätze erdichtete, die er in keiner der benutzten Quellen vorfand 14, und insofern er Rechtssätze, die im weltlichen Rechte keine oder doch nur örtlich beschränkte Geltung hatten, für Rechtssätze des fränkischen Reiches ausgab. Die Tendenz des Werkes ging dahin, die kirchlichen Gewalten durch Erhebung über die welt- liche Macht von der letzteren unabhängig zu machen. Die Pseudo- kapitularien haben ein Seitenstück in den um dieselbe Zeit, vermutlich bald nach ihnen entstandenen Pseudodekretalen, einer gleichfalls in Westfrancien entstandenen Fälschung, welche verwandte Zwecke ver- folgt. Das treibende Motiv der damals in den kirchlichen Kreisen auftretenden Fälschungsepidemie lag in den politischen Verhältnissen der Zeit. Durch Pippin und Karl war die fränkische Kirche in engere Beziehung zum Papsttum gesetzt worden. Seit der Wiederherstellung des Kaisertums trat sie mit Rücksicht auf die religiösen Grundlagen der Kaiseridee für die Einheit des Reiches ein. Aber schon unter Ludwig I. sehen wir auf Synoden und Reichstagen die Bischöfe eine Fülle von Forderungen erheben, welchen sich die weltliche Amts- aristokratie entgegenstemmte. Als die Reichseinheit in Trümmer ge- gangen war, stieg der Einfluſs des Laienadels und war keine Hoffnung mehr vorhanden, die steigenden kirchlichen Ansprüche auf dem Wege der weltlichen Gesetzgebung durchzusetzen. Man griff daher zu dem Auskunftsmittel, die kirchlichen Wünsche auf dem Wege der Fälschung zur Geltung zu bringen, indem man die entsprechenden Rechtssätze als Kapitularien einschmuggelte. Hand in Hand ging damit das Be- streben, den Halt, welchen die Kirche bei der Auflösung der Universal- 14 Vgl. die Konkordanzen bei Hinschius a. O. S CLXX ff.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/404>, abgerufen am 29.03.2024.