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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.
mutungen möglich. In ältester Zeit hat wohl eine dauernde Schei-
dung von Ackerland und Weideland überhaupt nicht stattgefunden,
sondern wurde der Boden durch wilde Feldgraswirtschaft ausgenutzt,
welche von der ganzen Flur nur einzelne Stücke in unregelmässigem
Wechsel bebaute, um sie nach einiger Zeit als Weideland liegen zu
lassen 5. Übrigens ist in dem halben Jahrtausend, welches dem Beginn
unserer Zeitrechnung folgte, der wirtschaftliche Zustand des Volkes
nicht stabil geblieben, sondern hat einen allmählichen Übergang
von loser zu festerer Siedelung, von oberflächlichem zu intensiverem
Ackerbau durchgemacht, eine Wandelung, von welcher zunächst die
westlichen Stämme ergriffen wurden.

Die ältesten Grundbesitzverhältnisse der Germanen sind Gegen-
stand einer lebhaft erörterten Kontroverse, welche sich um die Gegen-
sätze des Sonderrechtes und des Gemeinschaftsrechtes an Grund und
Boden dreht. So vielfach die neueste Litteratur diese brennende
Frage behandelte, so vermochte sie doch nicht zu festen Ergebnissen
oder auch nur zu einer communis opinio zu gelangen. Denn die Be-
richte der Alten reichen nicht völlig aus, und die Bemühungen sie
aus jüngeren Quellen zu ergänzen bewegen sich auf schwankendem
Boden. Nichtsdestoweniger muss es versucht werden, hier in allge-
meinsten Umrissen ein Bild unserer ältesten Agrarverfassung zu ent-
werfen.

Dabei darf nicht der Gegensatz von Gemeinschaftsrecht und Son-
derrecht, sondern muss der Gegensatz von gemeinschaftlicher Nutzung
und Sondernutzung zum Ausgangspunkte der Betrachtung erhoben
werden. Denn wenn es richtig ist, dass in den Anfängen der Kultur
das nutzbare Land nicht durch die in der Isolierung unzureichende
Kraft des Einzelnen, sondern durch die vereinte Arbeit wirtschaftlicher
Verbände verwertet wurde 6, so liegt es auf der Hand, dass das Ur-
eigentum an Grund und Boden nicht ein Sondereigentum, sondern
ein Gemeinschaftseigentum war und dass der Fortschritt sich zunächst
durch den Übergang von der gemeinschaftlichen zur Sondernutzung
vollzog, welche dann nach längerer Dauer das Sondereigentum an
Grund und Boden erzeugte.

5 Die Dreifelderwirtschaft ist erst in karolingischer Zeit nachzuweisen.
Inama-Sternegg I 402; Lamprecht I 545 f.
6 Spuren von Individualwirtschaft, wie sie Dargun, Ursprung und Entwick-
lungsgeschichte des Eigentums, Z f. vgl. RW V 1, bei verschiedenen Naturvölkern
nachweisen will, befinden sich noch unter den Vorstufen aller Kultur und berechti-
gen nicht von einem Grundeigentum zu sprechen.

§ 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit.
mutungen möglich. In ältester Zeit hat wohl eine dauernde Schei-
dung von Ackerland und Weideland überhaupt nicht stattgefunden,
sondern wurde der Boden durch wilde Feldgraswirtschaft ausgenutzt,
welche von der ganzen Flur nur einzelne Stücke in unregelmäſsigem
Wechsel bebaute, um sie nach einiger Zeit als Weideland liegen zu
lassen 5. Übrigens ist in dem halben Jahrtausend, welches dem Beginn
unserer Zeitrechnung folgte, der wirtschaftliche Zustand des Volkes
nicht stabil geblieben, sondern hat einen allmählichen Übergang
von loser zu festerer Siedelung, von oberflächlichem zu intensiverem
Ackerbau durchgemacht, eine Wandelung, von welcher zunächst die
westlichen Stämme ergriffen wurden.

Die ältesten Grundbesitzverhältnisse der Germanen sind Gegen-
stand einer lebhaft erörterten Kontroverse, welche sich um die Gegen-
sätze des Sonderrechtes und des Gemeinschaftsrechtes an Grund und
Boden dreht. So vielfach die neueste Litteratur diese brennende
Frage behandelte, so vermochte sie doch nicht zu festen Ergebnissen
oder auch nur zu einer communis opinio zu gelangen. Denn die Be-
richte der Alten reichen nicht völlig aus, und die Bemühungen sie
aus jüngeren Quellen zu ergänzen bewegen sich auf schwankendem
Boden. Nichtsdestoweniger muſs es versucht werden, hier in allge-
meinsten Umrissen ein Bild unserer ältesten Agrarverfassung zu ent-
werfen.

Dabei darf nicht der Gegensatz von Gemeinschaftsrecht und Son-
derrecht, sondern muſs der Gegensatz von gemeinschaftlicher Nutzung
und Sondernutzung zum Ausgangspunkte der Betrachtung erhoben
werden. Denn wenn es richtig ist, daſs in den Anfängen der Kultur
das nutzbare Land nicht durch die in der Isolierung unzureichende
Kraft des Einzelnen, sondern durch die vereinte Arbeit wirtschaftlicher
Verbände verwertet wurde 6, so liegt es auf der Hand, daſs das Ur-
eigentum an Grund und Boden nicht ein Sondereigentum, sondern
ein Gemeinschaftseigentum war und daſs der Fortschritt sich zunächst
durch den Übergang von der gemeinschaftlichen zur Sondernutzung
vollzog, welche dann nach längerer Dauer das Sondereigentum an
Grund und Boden erzeugte.

5 Die Dreifelderwirtschaft ist erst in karolingischer Zeit nachzuweisen.
Inama-Sternegg I 402; Lamprecht I 545 f.
6 Spuren von Individualwirtschaft, wie sie Dargun, Ursprung und Entwick-
lungsgeschichte des Eigentums, Z f. vgl. RW V 1, bei verschiedenen Naturvölkern
nachweisen will, befinden sich noch unter den Vorstufen aller Kultur und berechti-
gen nicht von einem Grundeigentum zu sprechen.
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[58/0076] § 10. Das Wirtschaftsleben der Urzeit. mutungen möglich. In ältester Zeit hat wohl eine dauernde Schei- dung von Ackerland und Weideland überhaupt nicht stattgefunden, sondern wurde der Boden durch wilde Feldgraswirtschaft ausgenutzt, welche von der ganzen Flur nur einzelne Stücke in unregelmäſsigem Wechsel bebaute, um sie nach einiger Zeit als Weideland liegen zu lassen 5. Übrigens ist in dem halben Jahrtausend, welches dem Beginn unserer Zeitrechnung folgte, der wirtschaftliche Zustand des Volkes nicht stabil geblieben, sondern hat einen allmählichen Übergang von loser zu festerer Siedelung, von oberflächlichem zu intensiverem Ackerbau durchgemacht, eine Wandelung, von welcher zunächst die westlichen Stämme ergriffen wurden. Die ältesten Grundbesitzverhältnisse der Germanen sind Gegen- stand einer lebhaft erörterten Kontroverse, welche sich um die Gegen- sätze des Sonderrechtes und des Gemeinschaftsrechtes an Grund und Boden dreht. So vielfach die neueste Litteratur diese brennende Frage behandelte, so vermochte sie doch nicht zu festen Ergebnissen oder auch nur zu einer communis opinio zu gelangen. Denn die Be- richte der Alten reichen nicht völlig aus, und die Bemühungen sie aus jüngeren Quellen zu ergänzen bewegen sich auf schwankendem Boden. Nichtsdestoweniger muſs es versucht werden, hier in allge- meinsten Umrissen ein Bild unserer ältesten Agrarverfassung zu ent- werfen. Dabei darf nicht der Gegensatz von Gemeinschaftsrecht und Son- derrecht, sondern muſs der Gegensatz von gemeinschaftlicher Nutzung und Sondernutzung zum Ausgangspunkte der Betrachtung erhoben werden. Denn wenn es richtig ist, daſs in den Anfängen der Kultur das nutzbare Land nicht durch die in der Isolierung unzureichende Kraft des Einzelnen, sondern durch die vereinte Arbeit wirtschaftlicher Verbände verwertet wurde 6, so liegt es auf der Hand, daſs das Ur- eigentum an Grund und Boden nicht ein Sondereigentum, sondern ein Gemeinschaftseigentum war und daſs der Fortschritt sich zunächst durch den Übergang von der gemeinschaftlichen zur Sondernutzung vollzog, welche dann nach längerer Dauer das Sondereigentum an Grund und Boden erzeugte. 5 Die Dreifelderwirtschaft ist erst in karolingischer Zeit nachzuweisen. Inama-Sternegg I 402; Lamprecht I 545 f. 6 Spuren von Individualwirtschaft, wie sie Dargun, Ursprung und Entwick- lungsgeschichte des Eigentums, Z f. vgl. RW V 1, bei verschiedenen Naturvölkern nachweisen will, befinden sich noch unter den Vorstufen aller Kultur und berechti- gen nicht von einem Grundeigentum zu sprechen.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/76>, abgerufen am 27.04.2024.