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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 12. Das Haus.
Brüder, die Vaterbrüder und die Mutterbrüder59. Dass Eltern,
Schwestern und Schwestersöhne nicht genannt werden, ist bemerkens-
wert. So selbstverständlich uns die Thatsache erscheint, dass der
Vater von seinen Kindern beerbt wird, so fällt sie doch bedeutungs-
voll ins Gewicht gegen die Herrschaft des sogen. Mutterrechtes,
welches die vergleichende Rechtsgeschichte als älteste familienrecht-
liche Phase in der Entwicklung roher Naturvölker nachgewiesen hat60.

Das Mutterrecht kennt keine wahre Ehe, vielmehr bleibt die Frau
vollständig an ihre ursprüngliche Familie gebunden. Die Kinder folgen
nicht dem Vater, sondern der Familie der Mutter. Das Mutterrecht lässt
nur die durch das mütterliche Blut vermittelte Verwandtschaft gelten.
Wie die Vaterschaft wird die durch den Vater vermittelte Verwandt-
schaft im Erbrechte ignoriert, so dass die Kinder von dem Erbe des
Vaters beispielsweise durch die Schwestersöhne ausgeschlossen werden.

Die Germanen hatten zur Zeit, da die Römer sie kennen lernten,
jenes rohe Vorstadium der Kultur in ihrem Familien- und Erbrechte
bereits überwunden. Der deutlichste Beweis für die Gliederung des
Volkes nach agnatischen Verbänden ist jene uralte Stammsage, welche
die drei Söhne des Mannus zu Stammvätern der Ingväonen, Istväonen
und Herminonen macht. Wie die Ehe auf der eheherrlichen, die
Kindschaft auf der väterlichen Gewalt basiert, so ist auch das Erb-
recht in erster Linie ein Recht der in der Ehe gezeugten Kinder.
Während man noch aus einem Titel der Lex Salica wenigstens in
Bezug auf entferntere Verwandte Spuren des Mutterrechtes glaubt
herauslesen zu können61, schliesst Tacitus durch die Erwähnung des
patruus das Mutterrecht schlechtweg aus.

Eine merkwürdige Sitte erwähnt Tacitus von der Völkerschaft
der Tenkterer, welche durch ihre ausgezeichnete Reiterei berühmt war.
Die Pferde empfange nicht wie das übrige der älteste, sondern der
kriegstüchtigste Sohn62. Liesse sich eine Sondernachfolge in die Streit-
rosse allenfalls als eine älteste Spur des später sogenannten Heer-
geräte deuten, so würde doch andrerseits ein Vorrecht des Erstgebornen

59 Germ. c. 20: heredes tamen successoresque sui cuique liberi et nullum
testamentum. si liberi non sunt, proximus gradus in possessione fratres patrui
avunculi.
60 Bachofen, Das Mutterrecht, eine Untersuchung über die Gynaikokratie
der alten Welt, 1861. Dargun a. O. Kohler a. O. und Z f. vgl. RW VI 321.
Starke Konzessionen macht an das Mutterrecht Heusler, Institutionen II 521.
61 Aus Lex Sal. 59. Mit Unrecht, wie weiter unten dargethan werden soll.
62 Germ. c. 32: Inter familiam et penates et iura successionum equi traduntur;
excipit filius non ut cetera maximus natu sed prout ferox bello et melior.

§ 12. Das Haus.
Brüder, die Vaterbrüder und die Mutterbrüder59. Daſs Eltern,
Schwestern und Schwestersöhne nicht genannt werden, ist bemerkens-
wert. So selbstverständlich uns die Thatsache erscheint, daſs der
Vater von seinen Kindern beerbt wird, so fällt sie doch bedeutungs-
voll ins Gewicht gegen die Herrschaft des sogen. Mutterrechtes,
welches die vergleichende Rechtsgeschichte als älteste familienrecht-
liche Phase in der Entwicklung roher Naturvölker nachgewiesen hat60.

Das Mutterrecht kennt keine wahre Ehe, vielmehr bleibt die Frau
vollständig an ihre ursprüngliche Familie gebunden. Die Kinder folgen
nicht dem Vater, sondern der Familie der Mutter. Das Mutterrecht läſst
nur die durch das mütterliche Blut vermittelte Verwandtschaft gelten.
Wie die Vaterschaft wird die durch den Vater vermittelte Verwandt-
schaft im Erbrechte ignoriert, so daſs die Kinder von dem Erbe des
Vaters beispielsweise durch die Schwestersöhne ausgeschlossen werden.

Die Germanen hatten zur Zeit, da die Römer sie kennen lernten,
jenes rohe Vorstadium der Kultur in ihrem Familien- und Erbrechte
bereits überwunden. Der deutlichste Beweis für die Gliederung des
Volkes nach agnatischen Verbänden ist jene uralte Stammsage, welche
die drei Söhne des Mannus zu Stammvätern der Ingväonen, Istväonen
und Herminonen macht. Wie die Ehe auf der eheherrlichen, die
Kindschaft auf der väterlichen Gewalt basiert, so ist auch das Erb-
recht in erster Linie ein Recht der in der Ehe gezeugten Kinder.
Während man noch aus einem Titel der Lex Salica wenigstens in
Bezug auf entferntere Verwandte Spuren des Mutterrechtes glaubt
herauslesen zu können61, schlieſst Tacitus durch die Erwähnung des
patruus das Mutterrecht schlechtweg aus.

Eine merkwürdige Sitte erwähnt Tacitus von der Völkerschaft
der Tenkterer, welche durch ihre ausgezeichnete Reiterei berühmt war.
Die Pferde empfange nicht wie das übrige der älteste, sondern der
kriegstüchtigste Sohn62. Lieſse sich eine Sondernachfolge in die Streit-
rosse allenfalls als eine älteste Spur des später sogenannten Heer-
geräte deuten, so würde doch andrerseits ein Vorrecht des Erstgebornen

59 Germ. c. 20: heredes tamen successoresque sui cuique liberi et nullum
testamentum. si liberi non sunt, proximus gradus in possessione fratres patrui
avunculi.
60 Bachofen, Das Mutterrecht, eine Untersuchung über die Gynaikokratie
der alten Welt, 1861. Dargun a. O. Kohler a. O. und Z f. vgl. RW VI 321.
Starke Konzessionen macht an das Mutterrecht Heusler, Institutionen II 521.
61 Aus Lex Sal. 59. Mit Unrecht, wie weiter unten dargethan werden soll.
62 Germ. c. 32: Inter familiam et penates et iura successionum equi traduntur;
excipit filius non ut cetera maximus natu sed prout ferox bello et melior.
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[80/0098] § 12. Das Haus. Brüder, die Vaterbrüder und die Mutterbrüder 59. Daſs Eltern, Schwestern und Schwestersöhne nicht genannt werden, ist bemerkens- wert. So selbstverständlich uns die Thatsache erscheint, daſs der Vater von seinen Kindern beerbt wird, so fällt sie doch bedeutungs- voll ins Gewicht gegen die Herrschaft des sogen. Mutterrechtes, welches die vergleichende Rechtsgeschichte als älteste familienrecht- liche Phase in der Entwicklung roher Naturvölker nachgewiesen hat 60. Das Mutterrecht kennt keine wahre Ehe, vielmehr bleibt die Frau vollständig an ihre ursprüngliche Familie gebunden. Die Kinder folgen nicht dem Vater, sondern der Familie der Mutter. Das Mutterrecht läſst nur die durch das mütterliche Blut vermittelte Verwandtschaft gelten. Wie die Vaterschaft wird die durch den Vater vermittelte Verwandt- schaft im Erbrechte ignoriert, so daſs die Kinder von dem Erbe des Vaters beispielsweise durch die Schwestersöhne ausgeschlossen werden. Die Germanen hatten zur Zeit, da die Römer sie kennen lernten, jenes rohe Vorstadium der Kultur in ihrem Familien- und Erbrechte bereits überwunden. Der deutlichste Beweis für die Gliederung des Volkes nach agnatischen Verbänden ist jene uralte Stammsage, welche die drei Söhne des Mannus zu Stammvätern der Ingväonen, Istväonen und Herminonen macht. Wie die Ehe auf der eheherrlichen, die Kindschaft auf der väterlichen Gewalt basiert, so ist auch das Erb- recht in erster Linie ein Recht der in der Ehe gezeugten Kinder. Während man noch aus einem Titel der Lex Salica wenigstens in Bezug auf entferntere Verwandte Spuren des Mutterrechtes glaubt herauslesen zu können 61, schlieſst Tacitus durch die Erwähnung des patruus das Mutterrecht schlechtweg aus. Eine merkwürdige Sitte erwähnt Tacitus von der Völkerschaft der Tenkterer, welche durch ihre ausgezeichnete Reiterei berühmt war. Die Pferde empfange nicht wie das übrige der älteste, sondern der kriegstüchtigste Sohn 62. Lieſse sich eine Sondernachfolge in die Streit- rosse allenfalls als eine älteste Spur des später sogenannten Heer- geräte deuten, so würde doch andrerseits ein Vorrecht des Erstgebornen 59 Germ. c. 20: heredes tamen successoresque sui cuique liberi et nullum testamentum. si liberi non sunt, proximus gradus in possessione fratres patrui avunculi. 60 Bachofen, Das Mutterrecht, eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt, 1861. Dargun a. O. Kohler a. O. und Z f. vgl. RW VI 321. Starke Konzessionen macht an das Mutterrecht Heusler, Institutionen II 521. 61 Aus Lex Sal. 59. Mit Unrecht, wie weiter unten dargethan werden soll. 62 Germ. c. 32: Inter familiam et penates et iura successionum equi traduntur; excipit filius non ut cetera maximus natu sed prout ferox bello et melior.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/98>, abgerufen am 29.03.2024.