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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 13. Die Sippe.
bezüglich des übrigen Vermögens in der Entwicklungsgeschichte des
germanischen Erbrechtes völlig vereinzelt dastehen. Eine rechts-
geschichtliche Erklärung jener Stelle wird daher davon ausgehen
müssen, dass es sich in ihr nicht um einen Grundsatz des Erbrechtes
handelt, sondern um eine Abtretung des Vermögens, welche der Vater
bereits bei Lebzeiten vornahm, oder um eine Aufteilung, durch welche
die Verwandten sich über den Nachlass auseinandersetzten63.

§ 13. Die Sippe.

Konrad Maurer, Über angelsächsische Rechtsverhältnisse, KrÜ I 52 ff.: Das
Geschlecht; III 26 ff.: Das Fehde- und Wergeldwesen. Reinhold Schmid im
Hermes Bd 32 1829 S 247 ff. und Gesetze der Angelsachsen S 627 ff. Konrad
Maurer
, Island von seiner ersten Entdeckung bis zum Untergang des Freistaats,
1874, S 322. Vilh. Finsen, Fremstilling af den islandske Familieret efter Gragas,
Annaler for Nordisk Oldkyndighed og Historie 1849. 1850. Brunner, Sippe und
Wergeld, in der Z2 f. RG III 1 ff. Lamprecht, Wirtschaftsleben I 19 ff. F. Schu-
pfer
, La famiglia presso i Langobardi, Archivio giuridico 1868. v. Sybel, Ent-
stehung des deutschen Königtums, 2. Aufl., S 35 ff. Waitz, VG I 67 ff. Gierke,
Genossenschaftsrecht I 15. Henry Sumner Maine, Dissertations on early law
and custom, 1883.

Die gesellschaftliche und die rechtliche Stellung des einzelnen
Volksgenossen hatte in germanischer Zeit ihre Wurzeln in dem Ge-
schlechte, dem er durch seine Geburt angehörte. Der Geschlechts-
verband griff so tief in das Volks- und Rechtsleben ein, dass der
verwandtenlose Mann sich wenig vom rechtlosen unterschieden haben
mag.

Das Geschlecht heisst Sippe1 (got. sibja, ahd. sibba, sippja,
ags. sib, syb), ein Wort, dessen Nebenbedeutung Friede und
Freundschaft ist2. Innerhalb des Geschlechtes herrscht ein besonderer
Friede, der unter den Sippegenossen jede Fehde ausschliesst. Die
Zugehörigkeit zur Sippe beruht auf der Blutsverwandtschaft, deren
Wirkungen in der ältesten Zeit nur eine thatsächliche Beschränkung
erleiden, sofern ihr Nachweis nicht mehr möglich ist. Rechtliche

63 Das Wort traduntur schliesst den Gedanken an eine Delation der Erbschaft
aus. Auch v. Amira, Erbenfolge S 219 bezweifelt, dass in c. 32 von einer Indi-
vidualsuccession die Rede sei. Der Erstgeborene habe vielmehr die Sachen an sich
genommen (excipit), weil er von den Miterben als der Älteste zum Vertreter des
gemeinsamen Rechtes bestellt worden sei.
1 Grimm, RA S 467. Daneben slahta, gislahti, fara, ahta, chunni. Noch
jetzt sagt man in Pommern Kind un Künne. Grimm, WB V 2664. Gotisch auch
knoths, althochd. u. alts. knosal, ags. cnosl, altnord. aet und kyn. Über nord. sif
und sifjar s. Grimm, Mythologie I S 286.
2 Vgl. Dahn, Könige VI2 21.
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 6

§ 13. Die Sippe.
bezüglich des übrigen Vermögens in der Entwicklungsgeschichte des
germanischen Erbrechtes völlig vereinzelt dastehen. Eine rechts-
geschichtliche Erklärung jener Stelle wird daher davon ausgehen
müssen, daſs es sich in ihr nicht um einen Grundsatz des Erbrechtes
handelt, sondern um eine Abtretung des Vermögens, welche der Vater
bereits bei Lebzeiten vornahm, oder um eine Aufteilung, durch welche
die Verwandten sich über den Nachlaſs auseinandersetzten63.

§ 13. Die Sippe.

Konrad Maurer, Über angelsächsische Rechtsverhältnisse, KrÜ I 52 ff.: Das
Geschlecht; III 26 ff.: Das Fehde- und Wergeldwesen. Reinhold Schmid im
Hermes Bd 32 1829 S 247 ff. und Gesetze der Angelsachsen S 627 ff. Konrad
Maurer
, Island von seiner ersten Entdeckung bis zum Untergang des Freistaats,
1874, S 322. Vilh. Finsen, Fremstilling af den islandske Familieret efter Grágás,
Annaler for Nordisk Oldkyndighed og Historie 1849. 1850. Brunner, Sippe und
Wergeld, in der Z2 f. RG III 1 ff. Lamprecht, Wirtschaftsleben I 19 ff. F. Schu-
pfer
, La famiglia presso i Langobardi, Archivio giuridico 1868. v. Sybel, Ent-
stehung des deutschen Königtums, 2. Aufl., S 35 ff. Waitz, VG I 67 ff. Gierke,
Genossenschaftsrecht I 15. Henry Sumner Maine, Dissertations on early law
and custom, 1883.

Die gesellschaftliche und die rechtliche Stellung des einzelnen
Volksgenossen hatte in germanischer Zeit ihre Wurzeln in dem Ge-
schlechte, dem er durch seine Geburt angehörte. Der Geschlechts-
verband griff so tief in das Volks- und Rechtsleben ein, daſs der
verwandtenlose Mann sich wenig vom rechtlosen unterschieden haben
mag.

Das Geschlecht heiſst Sippe1 (got. sibja, ahd. sibba, sippja,
ags. sib, syb), ein Wort, dessen Nebenbedeutung Friede und
Freundschaft ist2. Innerhalb des Geschlechtes herrscht ein besonderer
Friede, der unter den Sippegenossen jede Fehde ausschlieſst. Die
Zugehörigkeit zur Sippe beruht auf der Blutsverwandtschaft, deren
Wirkungen in der ältesten Zeit nur eine thatsächliche Beschränkung
erleiden, sofern ihr Nachweis nicht mehr möglich ist. Rechtliche

63 Das Wort traduntur schlieſst den Gedanken an eine Delation der Erbschaft
aus. Auch v. Amira, Erbenfolge S 219 bezweifelt, daſs in c. 32 von einer Indi-
vidualsuccession die Rede sei. Der Erstgeborene habe vielmehr die Sachen an sich
genommen (excipit), weil er von den Miterben als der Älteste zum Vertreter des
gemeinsamen Rechtes bestellt worden sei.
1 Grimm, RA S 467. Daneben slahta, gislahti, fara, ahta, chunni. Noch
jetzt sagt man in Pommern Kind un Künne. Grimm, WB V 2664. Gotisch auch
knoþs, althochd. u. alts. knôsal, ags. cnôsl, altnord. æt und kyn. Über nord. sif
und sifjar s. Grimm, Mythologie I S 286.
2 Vgl. Dahn, Könige VI2 21.
Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 6
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[81/0099] § 13. Die Sippe. bezüglich des übrigen Vermögens in der Entwicklungsgeschichte des germanischen Erbrechtes völlig vereinzelt dastehen. Eine rechts- geschichtliche Erklärung jener Stelle wird daher davon ausgehen müssen, daſs es sich in ihr nicht um einen Grundsatz des Erbrechtes handelt, sondern um eine Abtretung des Vermögens, welche der Vater bereits bei Lebzeiten vornahm, oder um eine Aufteilung, durch welche die Verwandten sich über den Nachlaſs auseinandersetzten 63. § 13. Die Sippe. Konrad Maurer, Über angelsächsische Rechtsverhältnisse, KrÜ I 52 ff.: Das Geschlecht; III 26 ff.: Das Fehde- und Wergeldwesen. Reinhold Schmid im Hermes Bd 32 1829 S 247 ff. und Gesetze der Angelsachsen S 627 ff. Konrad Maurer, Island von seiner ersten Entdeckung bis zum Untergang des Freistaats, 1874, S 322. Vilh. Finsen, Fremstilling af den islandske Familieret efter Grágás, Annaler for Nordisk Oldkyndighed og Historie 1849. 1850. Brunner, Sippe und Wergeld, in der Z2 f. RG III 1 ff. Lamprecht, Wirtschaftsleben I 19 ff. F. Schu- pfer, La famiglia presso i Langobardi, Archivio giuridico 1868. v. Sybel, Ent- stehung des deutschen Königtums, 2. Aufl., S 35 ff. Waitz, VG I 67 ff. Gierke, Genossenschaftsrecht I 15. Henry Sumner Maine, Dissertations on early law and custom, 1883. Die gesellschaftliche und die rechtliche Stellung des einzelnen Volksgenossen hatte in germanischer Zeit ihre Wurzeln in dem Ge- schlechte, dem er durch seine Geburt angehörte. Der Geschlechts- verband griff so tief in das Volks- und Rechtsleben ein, daſs der verwandtenlose Mann sich wenig vom rechtlosen unterschieden haben mag. Das Geschlecht heiſst Sippe 1 (got. sibja, ahd. sibba, sippja, ags. sib, syb), ein Wort, dessen Nebenbedeutung Friede und Freundschaft ist 2. Innerhalb des Geschlechtes herrscht ein besonderer Friede, der unter den Sippegenossen jede Fehde ausschlieſst. Die Zugehörigkeit zur Sippe beruht auf der Blutsverwandtschaft, deren Wirkungen in der ältesten Zeit nur eine thatsächliche Beschränkung erleiden, sofern ihr Nachweis nicht mehr möglich ist. Rechtliche 63 Das Wort traduntur schlieſst den Gedanken an eine Delation der Erbschaft aus. Auch v. Amira, Erbenfolge S 219 bezweifelt, daſs in c. 32 von einer Indi- vidualsuccession die Rede sei. Der Erstgeborene habe vielmehr die Sachen an sich genommen (excipit), weil er von den Miterben als der Älteste zum Vertreter des gemeinsamen Rechtes bestellt worden sei. 1 Grimm, RA S 467. Daneben slahta, gislahti, fara, ahta, chunni. Noch jetzt sagt man in Pommern Kind un Künne. Grimm, WB V 2664. Gotisch auch knoþs, althochd. u. alts. knôsal, ags. cnôsl, altnord. æt und kyn. Über nord. sif und sifjar s. Grimm, Mythologie I S 286. 2 Vgl. Dahn, Könige VI2 21. Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 6

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/99>, abgerufen am 28.03.2024.