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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 81. Die Grafen.
oder pagorum. Doch haben die germanischen comites Galliens eine
andere Stellung und anderen Wirkungskreis als jene römischen, u. a.
schon deshalb, weil das Amt als solches Civil- und Militärgewalt ver-
eint. Das Amt des fränkischen comes ist deutschen Ursprungs; es
ist das des Grafen, hat aber in Gallien zum Teil durch Anschluss an
römische Einrichtungen Umwandlungen erfahren, die es daselbst als
eine Neuschöpfung erscheinen lassen und es notwendig machen, für
die merowingische Zeit den neufränkischen und den altfränkischen
Grafen auseinanderzuhalten.

Der neufränkische Graf führt ausnahmelos den Comestitel und
hat für den Umfang seines Amtssprengels eine richterliche Kompe-
tenz, welche sich mit der des römischen Provinzialstatthalters deckt 15.
Wie dieser, mochte er nun consularis, rector oder praeses provinciae
sein, als iudex, iudex ordinarius bezeichnet wurde 16, so heisst auch
der fränkische comes sehr häufig iudex, gelegentlich auch praeses oder
praefectus 17, und bedeutet iudex schlechtweg in merowingischer Zeit
regelmässig den Grafen 18. Auch die Form der schriftlichen Bestallung
und die befristete Amtsdauer des neufränkischen Grafen hängen mit
den Einrichtungen des spätrömischen Ämterwesens zusammen 19.

Der altfränkische Graf hat die Stellung des ordentlichen Rich-
ters nicht von Anfang an besessen. Die Lex Salica kennt ihn noch
nicht als Vorsitzenden des Mallus. Er fungiert aber als Exekutiv-
beamter, nimmt die Auspfändung vor, treibt den Ansiedler aus, gegen
dessen Niederlassung Widerspruch erhoben wurde. Erst im sechsten
Jahrhundert trat der Graf als ordentlicher Richter an die Stelle des
Thungins, eine Änderung, die in den ältesten Zusätzen zur Lex Salica
und in der Lex Ribuaria als fertiges Ergebnis vorliegt. Damit hängt
es zusammen, dass der Ausdruck iudex oder iudex fiscalis auch auf
den altländischen Grafen Anwendung findet. Die ihm vorbehaltene
richterliche Kompetenz deckt sich jedoch im Verhältnis zu den Unter-
richtern nicht mit der des neufränkischen Grafen. Dieser hat sie
eben dem römischen Provinzialstatthalter, jener dem salischen Thungin

Solche mögen zum Teil die comites sein, welche die praefatio der Lex unter-
schrieben haben. Denn es fällt auf, dass kaum einer der 31 Comesnamen mit
Sicherheit als römischer Name angesehen werden darf, während man doch zahl-
reiche Romani comites civitatum erwarten müsste.
15 Siehe unten § 82.
16 Karlowa, Röm. RG I 858. Mommsen, NA XIV 461.
17 Belege bei Waitz, VG II 2, S. 26; III 383, Anm. 3.
18 Sohm a. O. S. 146.
19 Siehe oben S. 80.

§ 81. Die Grafen.
oder pagorum. Doch haben die germanischen comites Galliens eine
andere Stellung und anderen Wirkungskreis als jene römischen, u. a.
schon deshalb, weil das Amt als solches Civil- und Militärgewalt ver-
eint. Das Amt des fränkischen comes ist deutschen Ursprungs; es
ist das des Grafen, hat aber in Gallien zum Teil durch Anschluſs an
römische Einrichtungen Umwandlungen erfahren, die es daselbst als
eine Neuschöpfung erscheinen lassen und es notwendig machen, für
die merowingische Zeit den neufränkischen und den altfränkischen
Grafen auseinanderzuhalten.

Der neufränkische Graf führt ausnahmelos den Comestitel und
hat für den Umfang seines Amtssprengels eine richterliche Kompe-
tenz, welche sich mit der des römischen Provinzialstatthalters deckt 15.
Wie dieser, mochte er nun consularis, rector oder praeses provinciae
sein, als iudex, iudex ordinarius bezeichnet wurde 16, so heiſst auch
der fränkische comes sehr häufig iudex, gelegentlich auch praeses oder
praefectus 17, und bedeutet iudex schlechtweg in merowingischer Zeit
regelmäſsig den Grafen 18. Auch die Form der schriftlichen Bestallung
und die befristete Amtsdauer des neufränkischen Grafen hängen mit
den Einrichtungen des spätrömischen Ämterwesens zusammen 19.

Der altfränkische Graf hat die Stellung des ordentlichen Rich-
ters nicht von Anfang an besessen. Die Lex Salica kennt ihn noch
nicht als Vorsitzenden des Mallus. Er fungiert aber als Exekutiv-
beamter, nimmt die Auspfändung vor, treibt den Ansiedler aus, gegen
dessen Niederlassung Widerspruch erhoben wurde. Erst im sechsten
Jahrhundert trat der Graf als ordentlicher Richter an die Stelle des
Thungins, eine Änderung, die in den ältesten Zusätzen zur Lex Salica
und in der Lex Ribuaria als fertiges Ergebnis vorliegt. Damit hängt
es zusammen, daſs der Ausdruck iudex oder iudex fiscalis auch auf
den altländischen Grafen Anwendung findet. Die ihm vorbehaltene
richterliche Kompetenz deckt sich jedoch im Verhältnis zu den Unter-
richtern nicht mit der des neufränkischen Grafen. Dieser hat sie
eben dem römischen Provinzialstatthalter, jener dem salischen Thungin

Solche mögen zum Teil die comites sein, welche die praefatio der Lex unter-
schrieben haben. Denn es fällt auf, daſs kaum einer der 31 Comesnamen mit
Sicherheit als römischer Name angesehen werden darf, während man doch zahl-
reiche Romani comites civitatum erwarten müſste.
15 Siehe unten § 82.
16 Karlowa, Röm. RG I 858. Mommsen, NA XIV 461.
17 Belege bei Waitz, VG II 2, S. 26; III 383, Anm. 3.
18 Sohm a. O. S. 146.
19 Siehe oben S. 80.
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[164/0182] § 81. Die Grafen. oder pagorum. Doch haben die germanischen comites Galliens eine andere Stellung und anderen Wirkungskreis als jene römischen, u. a. schon deshalb, weil das Amt als solches Civil- und Militärgewalt ver- eint. Das Amt des fränkischen comes ist deutschen Ursprungs; es ist das des Grafen, hat aber in Gallien zum Teil durch Anschluſs an römische Einrichtungen Umwandlungen erfahren, die es daselbst als eine Neuschöpfung erscheinen lassen und es notwendig machen, für die merowingische Zeit den neufränkischen und den altfränkischen Grafen auseinanderzuhalten. Der neufränkische Graf führt ausnahmelos den Comestitel und hat für den Umfang seines Amtssprengels eine richterliche Kompe- tenz, welche sich mit der des römischen Provinzialstatthalters deckt 15. Wie dieser, mochte er nun consularis, rector oder praeses provinciae sein, als iudex, iudex ordinarius bezeichnet wurde 16, so heiſst auch der fränkische comes sehr häufig iudex, gelegentlich auch praeses oder praefectus 17, und bedeutet iudex schlechtweg in merowingischer Zeit regelmäſsig den Grafen 18. Auch die Form der schriftlichen Bestallung und die befristete Amtsdauer des neufränkischen Grafen hängen mit den Einrichtungen des spätrömischen Ämterwesens zusammen 19. Der altfränkische Graf hat die Stellung des ordentlichen Rich- ters nicht von Anfang an besessen. Die Lex Salica kennt ihn noch nicht als Vorsitzenden des Mallus. Er fungiert aber als Exekutiv- beamter, nimmt die Auspfändung vor, treibt den Ansiedler aus, gegen dessen Niederlassung Widerspruch erhoben wurde. Erst im sechsten Jahrhundert trat der Graf als ordentlicher Richter an die Stelle des Thungins, eine Änderung, die in den ältesten Zusätzen zur Lex Salica und in der Lex Ribuaria als fertiges Ergebnis vorliegt. Damit hängt es zusammen, daſs der Ausdruck iudex oder iudex fiscalis auch auf den altländischen Grafen Anwendung findet. Die ihm vorbehaltene richterliche Kompetenz deckt sich jedoch im Verhältnis zu den Unter- richtern nicht mit der des neufränkischen Grafen. Dieser hat sie eben dem römischen Provinzialstatthalter, jener dem salischen Thungin 14 15 Siehe unten § 82. 16 Karlowa, Röm. RG I 858. Mommsen, NA XIV 461. 17 Belege bei Waitz, VG II 2, S. 26; III 383, Anm. 3. 18 Sohm a. O. S. 146. 19 Siehe oben S. 80. 14 Solche mögen zum Teil die comites sein, welche die praefatio der Lex unter- schrieben haben. Denn es fällt auf, daſs kaum einer der 31 Comesnamen mit Sicherheit als römischer Name angesehen werden darf, während man doch zahl- reiche Romani comites civitatum erwarten müſste.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/182>, abgerufen am 28.04.2024.