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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 81. Die Grafen.
entlehnt. Erst Karl der Grosse beseitigte die Verschiedenheit 20.
Den Comestitel haben wohl auch altfränkische Grafen frühzeitig
geführt. Vermutlich wurde er in einzelnen Grafschaften dauernd
mit dem Grafenamte verbunden. Grundsätzliche Gleichstellung von
comes und grafio muss schon im achten Jahrhundert vorhanden ge-
wesen sein. Denn die oberdeutschen und die karolingischen Volks-
rechte sprechen nur vom comes. Andererseits wird uns berichtet,
dass die Baiern den comes gravio nannten 21.

Der Graf oder comes hat militärische Gewalt. Vermutlich liegt
in ihr der Ausgangspunkt des Amtes 22. Er hebt die Wehrpflichtigen
aus, führt sie dem Heere zu und befehligt sie im Kriege. In karo-
lingischer Zeit übt er die Befugnis, eine bestimmte Zahl von Wehr-
pflichtigen von der Heerpflicht zu dispensieren. Schliesslich erlangte
er auch das Recht, die Beisteuer zu bestimmen und zu erheben,
welche nach den karolingischen Ordnungen unter gewissen Voraus-
setzungen den persönlichen Heerdienst ersetzte 23. Ursprünglich trieb
er die durch Versäumnis des Heerdienstes verwirkten Bannbussen
ein 24. Wohl um den Missbräuchen zu steuern, die sich die Grafen
dabei zu Schulden kommen liessen, entzog ihnen Karl die Eintreibung
der Heerbannbussen, um sie königlichen Missi zu übertragen 25, eine
Neuerung, welche die erste Hälfte des neunten Jahrhunderts sicher-
lich nicht überlebte.

Der Graf hat die Stellung des Richters im Gau und ist als sol-
cher Vorsitzender des echten Dinges. Doch fehlt ihm die ausser-
ordentliche Gerichtsgewalt des Königs und der königlichen Missi, ins-
besondere auch das Recht der Billigkeitsjustiz und die arbiträre
Strafgewalt. Er entbehrt das Recht der Begnadigung 26. Gefangene
Verbrecher freizulassen ist ihm bei schwerer Ahndung untersagt 27.

20 Siehe unten § 82.
21 Paulus, Hist. Lang. V 36: cum comite Baiuwariorum, quem illi gravionem
dicunt. In den bairischen Urkunden heisst er comes.
22 Vgl. Schröder, RG S. 128.
23 Siehe unten § 87.
24 Greg. Tur. Hist. Franc. VII 42, vgl. V 26.
25 Cap. miss. ital. 781--810, c. 13, I 207. Cap. Bonon. v. J. 811, c. 2, I 166.
Von den Bannbussen, die der Missus eintreibt, soll der Graf sein Drittel (suam
tertiam partem) erhalten. Karl beliess also den Grafen, weil er ihre Einkünfte
nicht schmälern wollte oder konnte, das Drittel, welches sie bei Erhebung der
Heerbannbussen herkömmlich bezogen hatten.
26 Cap. Aquisgr. 801--813, c. 13, I 172: postquam scabini eum (latronem)
diiudicaverint, non est licentia comitis vel vicarii ei vitam concedere.
27 Nach Decr. Childeb. II c. 7 hat der iudex in solchem Falle das Leben
verwirkt.

§ 81. Die Grafen.
entlehnt. Erst Karl der Groſse beseitigte die Verschiedenheit 20.
Den Comestitel haben wohl auch altfränkische Grafen frühzeitig
geführt. Vermutlich wurde er in einzelnen Grafschaften dauernd
mit dem Grafenamte verbunden. Grundsätzliche Gleichstellung von
comes und grafio muſs schon im achten Jahrhundert vorhanden ge-
wesen sein. Denn die oberdeutschen und die karolingischen Volks-
rechte sprechen nur vom comes. Andererseits wird uns berichtet,
daſs die Baiern den comes gravio nannten 21.

Der Graf oder comes hat militärische Gewalt. Vermutlich liegt
in ihr der Ausgangspunkt des Amtes 22. Er hebt die Wehrpflichtigen
aus, führt sie dem Heere zu und befehligt sie im Kriege. In karo-
lingischer Zeit übt er die Befugnis, eine bestimmte Zahl von Wehr-
pflichtigen von der Heerpflicht zu dispensieren. Schlieſslich erlangte
er auch das Recht, die Beisteuer zu bestimmen und zu erheben,
welche nach den karolingischen Ordnungen unter gewissen Voraus-
setzungen den persönlichen Heerdienst ersetzte 23. Ursprünglich trieb
er die durch Versäumnis des Heerdienstes verwirkten Bannbuſsen
ein 24. Wohl um den Miſsbräuchen zu steuern, die sich die Grafen
dabei zu Schulden kommen lieſsen, entzog ihnen Karl die Eintreibung
der Heerbannbuſsen, um sie königlichen Missi zu übertragen 25, eine
Neuerung, welche die erste Hälfte des neunten Jahrhunderts sicher-
lich nicht überlebte.

Der Graf hat die Stellung des Richters im Gau und ist als sol-
cher Vorsitzender des echten Dinges. Doch fehlt ihm die auſser-
ordentliche Gerichtsgewalt des Königs und der königlichen Missi, ins-
besondere auch das Recht der Billigkeitsjustiz und die arbiträre
Strafgewalt. Er entbehrt das Recht der Begnadigung 26. Gefangene
Verbrecher freizulassen ist ihm bei schwerer Ahndung untersagt 27.

20 Siehe unten § 82.
21 Paulus, Hist. Lang. V 36: cum comite Baiuwariorum, quem illi gravionem
dicunt. In den bairischen Urkunden heiſst er comes.
22 Vgl. Schröder, RG S. 128.
23 Siehe unten § 87.
24 Greg. Tur. Hist. Franc. VII 42, vgl. V 26.
25 Cap. miss. ital. 781—810, c. 13, I 207. Cap. Bonon. v. J. 811, c. 2, I 166.
Von den Bannbuſsen, die der Missus eintreibt, soll der Graf sein Drittel (suam
tertiam partem) erhalten. Karl belieſs also den Grafen, weil er ihre Einkünfte
nicht schmälern wollte oder konnte, das Drittel, welches sie bei Erhebung der
Heerbannbuſsen herkömmlich bezogen hatten.
26 Cap. Aquisgr. 801—813, c. 13, I 172: postquam scabini eum (latronem)
diiudicaverint, non est licentia comitis vel vicarii ei vitam concedere.
27 Nach Decr. Childeb. II c. 7 hat der iudex in solchem Falle das Leben
verwirkt.
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[165/0183] § 81. Die Grafen. entlehnt. Erst Karl der Groſse beseitigte die Verschiedenheit 20. Den Comestitel haben wohl auch altfränkische Grafen frühzeitig geführt. Vermutlich wurde er in einzelnen Grafschaften dauernd mit dem Grafenamte verbunden. Grundsätzliche Gleichstellung von comes und grafio muſs schon im achten Jahrhundert vorhanden ge- wesen sein. Denn die oberdeutschen und die karolingischen Volks- rechte sprechen nur vom comes. Andererseits wird uns berichtet, daſs die Baiern den comes gravio nannten 21. Der Graf oder comes hat militärische Gewalt. Vermutlich liegt in ihr der Ausgangspunkt des Amtes 22. Er hebt die Wehrpflichtigen aus, führt sie dem Heere zu und befehligt sie im Kriege. In karo- lingischer Zeit übt er die Befugnis, eine bestimmte Zahl von Wehr- pflichtigen von der Heerpflicht zu dispensieren. Schlieſslich erlangte er auch das Recht, die Beisteuer zu bestimmen und zu erheben, welche nach den karolingischen Ordnungen unter gewissen Voraus- setzungen den persönlichen Heerdienst ersetzte 23. Ursprünglich trieb er die durch Versäumnis des Heerdienstes verwirkten Bannbuſsen ein 24. Wohl um den Miſsbräuchen zu steuern, die sich die Grafen dabei zu Schulden kommen lieſsen, entzog ihnen Karl die Eintreibung der Heerbannbuſsen, um sie königlichen Missi zu übertragen 25, eine Neuerung, welche die erste Hälfte des neunten Jahrhunderts sicher- lich nicht überlebte. Der Graf hat die Stellung des Richters im Gau und ist als sol- cher Vorsitzender des echten Dinges. Doch fehlt ihm die auſser- ordentliche Gerichtsgewalt des Königs und der königlichen Missi, ins- besondere auch das Recht der Billigkeitsjustiz und die arbiträre Strafgewalt. Er entbehrt das Recht der Begnadigung 26. Gefangene Verbrecher freizulassen ist ihm bei schwerer Ahndung untersagt 27. 20 Siehe unten § 82. 21 Paulus, Hist. Lang. V 36: cum comite Baiuwariorum, quem illi gravionem dicunt. In den bairischen Urkunden heiſst er comes. 22 Vgl. Schröder, RG S. 128. 23 Siehe unten § 87. 24 Greg. Tur. Hist. Franc. VII 42, vgl. V 26. 25 Cap. miss. ital. 781—810, c. 13, I 207. Cap. Bonon. v. J. 811, c. 2, I 166. Von den Bannbuſsen, die der Missus eintreibt, soll der Graf sein Drittel (suam tertiam partem) erhalten. Karl belieſs also den Grafen, weil er ihre Einkünfte nicht schmälern wollte oder konnte, das Drittel, welches sie bei Erhebung der Heerbannbuſsen herkömmlich bezogen hatten. 26 Cap. Aquisgr. 801—813, c. 13, I 172: postquam scabini eum (latronem) diiudicaverint, non est licentia comitis vel vicarii ei vitam concedere. 27 Nach Decr. Childeb. II c. 7 hat der iudex in solchem Falle das Leben verwirkt.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/183>, abgerufen am 13.05.2024.