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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 86. Reste der römischen Städteverfassung.

Das Amt des Defensors war im Jahre 364 von Valentinian I.
eingeführt worden, um die Plebs gegen die Mächtigen zu schützen.
Noch in römischer Zeit machte es Abwandlungen durch, auf welche
einzugehen hier nicht der Ort ist. In Gallien hatte der Defensor
nicht nur Anteil an der freiwilligen, sondern auch an der streitigen
Gerichtsbarkeit; er übte nämlich die Civil- und Kriminaljurisdiktion,
soweit sie nicht dem Provinzialstatthalter als dem iudex ordinarius
vorbehalten war 13. Bei schweren Verbrechen konnte er den Schul-
digen verhaften, musste ihn aber sofort dem Provinzialstatthalter aus-
liefern. Im ostgotischen Reiche hatte der Defensor u. a. die Regelung
des Marktverkehrs und die Sorge für Einhaltung der Preistaxen 14. Nach
kaiserlichen Konstitutionen von 387, 409 und 458 wurden die Defen-
soren gewählt unter Vorbehalt der Bestätigung von Seite des Prä-
fekten oder des Kaisers 15. Laut eines Erlasses vom Jahre 409 ge-
schah die Wahl durch Bischof, Klerus und Volk 16, ein Wahlmodus,
welcher bei dem notorischen Einfluss der Bischöfe die Bestellung des
Defensors thatsächlich in ihre Hände legte und im westgotischen
Reiche in nachweislicher Übung blieb 17.

Das Amt des Defensors erhielt sich bei den Westgoten, im bur-

nahme des Verhandlungsprotokolls in die öffentlichen Akten oder in das Archiv
ausdrücklich erwähnen, fällt in den jüngeren die betreffende Klausel aus. Die
Formeln schliessen mit der Aushändigung des über Vorlegung der Urkunde auf-
genommenen Protokolls. Die ganze Procedur scheint keinen anderen Zweck ge-
habt zu haben, als wie die in Italien übliche Inserierung vor Gericht produzierter
Urkunden in eine dem Produzenten ausgehändigte Gerichtsurkunde, nur dass in Neu-
strien die gesta eine selbständige (vielleicht auf die Rückseite des produzierten
Stückes geschriebene) Urkunde bildeten, während in Italien die gerichtliche Notitia
die produzierte Urkunde in ihren Kontext aufnahm.
13 Paulus, Dig. L 1, 28. Cod. Theod. I 29, 2; II 1, 8 und interpr. Cod. Iust.
I 55. Siehe oben S. 178.
14 Konkurrierend mit dem curator. Cassiod. Var. VII 11. Vgl. VII 12.
15 Cod. Theod. I 29, 6 v. J. 387. Dazu die Interpretatio: hi instituantur
civitatum defensores, quos consensus civium et subscriptio universorum elegisse
cognoscitur. Cod. Iust. I 55, 8 v. J. 409. Nov. Maioriani III 1 v. J. 458.
16 Cod. Iust. I 55, 8: episcoporum nec non clericorum et honoratorum ac
possessorum et curialium decreto constituantur. Wiederholt in Cod. Iust. I 55, 11
v. J. 511. Die Verordnung Majorians fordert die Statthalter auf, zur Wahl des
Defensors vorzuladen municipes honoratos plebemque. Chenon huldigt einem über-
treibenden Schematismus, wenn er ausführt, dass der Wahlkörper seit 387 das
Volk, seit 409 die städtische Aristokratie, seit 458 wieder das Volk gewesen sei.
Vielmehr hatte die Plebs auch nach 409 das Recht der Teilnahme an der Wahl
behalten. Doch wurde das Wahldekret, das zur Bestätigung eingesendet werden
musste, wie dies in der Natur der Sache lag, nur von den Angeseheneren und
nicht von allen Wählern unterschrieben.
17 Lex Wisig. XII 1, 2: defensor, qui electus ab episcopis vel populis fuerit ..
§ 86. Reste der römischen Städteverfassung.

Das Amt des Defensors war im Jahre 364 von Valentinian I.
eingeführt worden, um die Plebs gegen die Mächtigen zu schützen.
Noch in römischer Zeit machte es Abwandlungen durch, auf welche
einzugehen hier nicht der Ort ist. In Gallien hatte der Defensor
nicht nur Anteil an der freiwilligen, sondern auch an der streitigen
Gerichtsbarkeit; er übte nämlich die Civil- und Kriminaljurisdiktion,
soweit sie nicht dem Provinzialstatthalter als dem iudex ordinarius
vorbehalten war 13. Bei schweren Verbrechen konnte er den Schul-
digen verhaften, muſste ihn aber sofort dem Provinzialstatthalter aus-
liefern. Im ostgotischen Reiche hatte der Defensor u. a. die Regelung
des Marktverkehrs und die Sorge für Einhaltung der Preistaxen 14. Nach
kaiserlichen Konstitutionen von 387, 409 und 458 wurden die Defen-
soren gewählt unter Vorbehalt der Bestätigung von Seite des Prä-
fekten oder des Kaisers 15. Laut eines Erlasses vom Jahre 409 ge-
schah die Wahl durch Bischof, Klerus und Volk 16, ein Wahlmodus,
welcher bei dem notorischen Einfluſs der Bischöfe die Bestellung des
Defensors thatsächlich in ihre Hände legte und im westgotischen
Reiche in nachweislicher Übung blieb 17.

Das Amt des Defensors erhielt sich bei den Westgoten, im bur-

nahme des Verhandlungsprotokolls in die öffentlichen Akten oder in das Archiv
ausdrücklich erwähnen, fällt in den jüngeren die betreffende Klausel aus. Die
Formeln schlieſsen mit der Aushändigung des über Vorlegung der Urkunde auf-
genommenen Protokolls. Die ganze Procedur scheint keinen anderen Zweck ge-
habt zu haben, als wie die in Italien übliche Inserierung vor Gericht produzierter
Urkunden in eine dem Produzenten ausgehändigte Gerichtsurkunde, nur daſs in Neu-
strien die gesta eine selbständige (vielleicht auf die Rückseite des produzierten
Stückes geschriebene) Urkunde bildeten, während in Italien die gerichtliche Notitia
die produzierte Urkunde in ihren Kontext aufnahm.
13 Paulus, Dig. L 1, 28. Cod. Theod. I 29, 2; II 1, 8 und interpr. Cod. Iust.
I 55. Siehe oben S. 178.
14 Konkurrierend mit dem curator. Cassiod. Var. VII 11. Vgl. VII 12.
15 Cod. Theod. I 29, 6 v. J. 387. Dazu die Interpretatio: hi instituantur
civitatum defensores, quos consensus civium et subscriptio universorum elegisse
cognoscitur. Cod. Iust. I 55, 8 v. J. 409. Nov. Maioriani III 1 v. J. 458.
16 Cod. Iust. I 55, 8: episcoporum nec non clericorum et honoratorum ac
possessorum et curialium decreto constituantur. Wiederholt in Cod. Iust. I 55, 11
v. J. 511. Die Verordnung Majorians fordert die Statthalter auf, zur Wahl des
Defensors vorzuladen municipes honoratos plebemque. Chénon huldigt einem über-
treibenden Schematismus, wenn er ausführt, daſs der Wahlkörper seit 387 das
Volk, seit 409 die städtische Aristokratie, seit 458 wieder das Volk gewesen sei.
Vielmehr hatte die Plebs auch nach 409 das Recht der Teilnahme an der Wahl
behalten. Doch wurde das Wahldekret, das zur Bestätigung eingesendet werden
muſste, wie dies in der Natur der Sache lag, nur von den Angeseheneren und
nicht von allen Wählern unterschrieben.
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[200/0218] § 86. Reste der römischen Städteverfassung. Das Amt des Defensors war im Jahre 364 von Valentinian I. eingeführt worden, um die Plebs gegen die Mächtigen zu schützen. Noch in römischer Zeit machte es Abwandlungen durch, auf welche einzugehen hier nicht der Ort ist. In Gallien hatte der Defensor nicht nur Anteil an der freiwilligen, sondern auch an der streitigen Gerichtsbarkeit; er übte nämlich die Civil- und Kriminaljurisdiktion, soweit sie nicht dem Provinzialstatthalter als dem iudex ordinarius vorbehalten war 13. Bei schweren Verbrechen konnte er den Schul- digen verhaften, muſste ihn aber sofort dem Provinzialstatthalter aus- liefern. Im ostgotischen Reiche hatte der Defensor u. a. die Regelung des Marktverkehrs und die Sorge für Einhaltung der Preistaxen 14. Nach kaiserlichen Konstitutionen von 387, 409 und 458 wurden die Defen- soren gewählt unter Vorbehalt der Bestätigung von Seite des Prä- fekten oder des Kaisers 15. Laut eines Erlasses vom Jahre 409 ge- schah die Wahl durch Bischof, Klerus und Volk 16, ein Wahlmodus, welcher bei dem notorischen Einfluſs der Bischöfe die Bestellung des Defensors thatsächlich in ihre Hände legte und im westgotischen Reiche in nachweislicher Übung blieb 17. Das Amt des Defensors erhielt sich bei den Westgoten, im bur- 12 13 Paulus, Dig. L 1, 28. Cod. Theod. I 29, 2; II 1, 8 und interpr. Cod. Iust. I 55. Siehe oben S. 178. 14 Konkurrierend mit dem curator. Cassiod. Var. VII 11. Vgl. VII 12. 15 Cod. Theod. I 29, 6 v. J. 387. Dazu die Interpretatio: hi instituantur civitatum defensores, quos consensus civium et subscriptio universorum elegisse cognoscitur. Cod. Iust. I 55, 8 v. J. 409. Nov. Maioriani III 1 v. J. 458. 16 Cod. Iust. I 55, 8: episcoporum nec non clericorum et honoratorum ac possessorum et curialium decreto constituantur. Wiederholt in Cod. Iust. I 55, 11 v. J. 511. Die Verordnung Majorians fordert die Statthalter auf, zur Wahl des Defensors vorzuladen municipes honoratos plebemque. Chénon huldigt einem über- treibenden Schematismus, wenn er ausführt, daſs der Wahlkörper seit 387 das Volk, seit 409 die städtische Aristokratie, seit 458 wieder das Volk gewesen sei. Vielmehr hatte die Plebs auch nach 409 das Recht der Teilnahme an der Wahl behalten. Doch wurde das Wahldekret, das zur Bestätigung eingesendet werden muſste, wie dies in der Natur der Sache lag, nur von den Angeseheneren und nicht von allen Wählern unterschrieben. 17 Lex Wisig. XII 1, 2: defensor, qui electus ab episcopis vel populis fuerit .. 12 nahme des Verhandlungsprotokolls in die öffentlichen Akten oder in das Archiv ausdrücklich erwähnen, fällt in den jüngeren die betreffende Klausel aus. Die Formeln schlieſsen mit der Aushändigung des über Vorlegung der Urkunde auf- genommenen Protokolls. Die ganze Procedur scheint keinen anderen Zweck ge- habt zu haben, als wie die in Italien übliche Inserierung vor Gericht produzierter Urkunden in eine dem Produzenten ausgehändigte Gerichtsurkunde, nur daſs in Neu- strien die gesta eine selbständige (vielleicht auf die Rückseite des produzierten Stückes geschriebene) Urkunde bildeten, während in Italien die gerichtliche Notitia die produzierte Urkunde in ihren Kontext aufnahm.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/218>, abgerufen am 30.04.2024.