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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 86. Reste der römischen Städteverfassung.
gundischen und im fränkischen Gallien. In der westgotischen Inter-
pretatio erscheint er als einer der mediocres iudices18 und gehört er zu
den iudices, quibus civitates vel loca commissa sunt19. Im westgoti-
schen und im burgundischen Reiche fungiert er als Richter bei der
restitutio in integrum20. Abgesehen von den Formeln und Urkunden
über gesta municipalia wird er in den fränkischen Quellen der mero-
wingischen Zeit mehrfach genannt21. Dagegen lassen die karolin-
gischen Quellen eine von den gesta unabhängige Erwähnung des De-
fensor civitatis vermissen22, während die Lex Romana Curiensis den
Defensor civitatis ihrer Vorlage durch iudex ersetzt23.

Die Jurisdiktion, die der Defensor civitatis in Gallien hatte,
scheint er zunächst behalten zu haben. Auffallend ist aber, dass die
ihm zukommende Gerichtsbarkeit schon nach den Formeln von Angers
Namens einer Kirche durch einen Abt oder kirchlichen agens aus-
geübt wurde. Fast scheint es, als ob in manchen Städten der Defensor
infolge des Einflusses, welchen Bischof und Klerus auf seine Be-
stellung ausübten, zum Beamten der Kirche herabgedrückt worden
sei, auf welche die gerichtliche Kompetenz des Amtes überging. So-
fern das der Fall gewesen sein sollte, fiel sie schliesslich unter den
Rahmen der Immunitätsgerichtsbarkeit und wurde sie in karolingi-
scher Zeit wohl regelmässig auf die Kompetenz des Centenars und Vi-
kars beschränkt. Anderwärts muss es dem Grafen gelungen sein, den
Defensor zu seinem Unterbeamten, etwa zum Vikar oder Centenar.
umzuwandeln24. Jedenfalls ist ein Teil der Funktionen des Defensors
auf ihn übergegangen. Die öffentliche Gewalt in Sachen des Markt-
wesens fiel dem Grafen zu. Vereinzelt begegnet uns unter Karl dem
Kahlen ein iudex fori, ein Richter in Marktstreitigkeiten25.


18 Interpr. zu Brev. Alar. C. Theod. II 1, 8.
19 Interpr. zu Brev. Alar. C. Theod. III 11, 1: si aliquis de his iudicibus,
qui provincias administrant, vel etiam his, quibus civitates vel loca commissa sunt ...
20 Lex Rom. Burg. 36. Interpr. zu Brev. Alar. Paulus I 7, 2, wo unter den
iudices civitatum, wie die Vergleichung mit Lex Rom. Burg. 36 zeigt, der Defen-
sor jedenfalls inbegriffen ist.
21 Greg. Tur. Vitae patrum VI 6. Fortunat X 18. 19. Ep. Desiderii Ca-
durc. c. 7. Siehe noch die Stellen bei Waitz, VG II 2, S. 12, Anm. 1, und bei
Chenon a. O. S. 525.
22 Benedictus Levita V 387 geht auf Juliani Ep. 69, 7 zurück, scheint aber
unter dem defensor den kirchlichen Vogt, den defensor ecclesiae, zu verstehen.
23 Lex Rom. Cur. I 10.
24 Schon Klimrath a. O. I 443 sagt: le defenseur etait vraisemblablement
assimile au centenier.
25 Auf ihn hat Sohm, Entstehung des deutschen Städtewesens S. 54, Anm. 75,
aufmerksam gemacht. Es handelt sich dabei um Adrevaldi Miracula S. Benedicti
c. 35, MG SS XV 496.

§ 86. Reste der römischen Städteverfassung.
gundischen und im fränkischen Gallien. In der westgotischen Inter-
pretatio erscheint er als einer der mediocres iudices18 und gehört er zu
den iudices, quibus civitates vel loca commissa sunt19. Im westgoti-
schen und im burgundischen Reiche fungiert er als Richter bei der
restitutio in integrum20. Abgesehen von den Formeln und Urkunden
über gesta municipalia wird er in den fränkischen Quellen der mero-
wingischen Zeit mehrfach genannt21. Dagegen lassen die karolin-
gischen Quellen eine von den gesta unabhängige Erwähnung des De-
fensor civitatis vermissen22, während die Lex Romana Curiensis den
Defensor civitatis ihrer Vorlage durch iudex ersetzt23.

Die Jurisdiktion, die der Defensor civitatis in Gallien hatte,
scheint er zunächst behalten zu haben. Auffallend ist aber, daſs die
ihm zukommende Gerichtsbarkeit schon nach den Formeln von Angers
Namens einer Kirche durch einen Abt oder kirchlichen agens aus-
geübt wurde. Fast scheint es, als ob in manchen Städten der Defensor
infolge des Einflusses, welchen Bischof und Klerus auf seine Be-
stellung ausübten, zum Beamten der Kirche herabgedrückt worden
sei, auf welche die gerichtliche Kompetenz des Amtes überging. So-
fern das der Fall gewesen sein sollte, fiel sie schlieſslich unter den
Rahmen der Immunitätsgerichtsbarkeit und wurde sie in karolingi-
scher Zeit wohl regelmäſsig auf die Kompetenz des Centenars und Vi-
kars beschränkt. Anderwärts muſs es dem Grafen gelungen sein, den
Defensor zu seinem Unterbeamten, etwa zum Vikar oder Centenar.
umzuwandeln24. Jedenfalls ist ein Teil der Funktionen des Defensors
auf ihn übergegangen. Die öffentliche Gewalt in Sachen des Markt-
wesens fiel dem Grafen zu. Vereinzelt begegnet uns unter Karl dem
Kahlen ein iudex fori, ein Richter in Marktstreitigkeiten25.


18 Interpr. zu Brev. Alar. C. Theod. II 1, 8.
19 Interpr. zu Brev. Alar. C. Theod. III 11, 1: si aliquis de his iudicibus,
qui provincias administrant, vel etiam his, quibus civitates vel loca commissa sunt …
20 Lex Rom. Burg. 36. Interpr. zu Brev. Alar. Paulus I 7, 2, wo unter den
iudices civitatum, wie die Vergleichung mit Lex Rom. Burg. 36 zeigt, der Defen-
sor jedenfalls inbegriffen ist.
21 Greg. Tur. Vitae patrum VI 6. Fortunat X 18. 19. Ep. Desiderii Ca-
durc. c. 7. Siehe noch die Stellen bei Waitz, VG II 2, S. 12, Anm. 1, und bei
Chénon a. O. S. 525.
22 Benedictus Levita V 387 geht auf Juliani Ep. 69, 7 zurück, scheint aber
unter dem defensor den kirchlichen Vogt, den defensor ecclesiae, zu verstehen.
23 Lex Rom. Cur. I 10.
24 Schon Klimrath a. O. I 443 sagt: le défenseur était vraisemblablement
assimilé au centenier.
25 Auf ihn hat Sohm, Entstehung des deutschen Städtewesens S. 54, Anm. 75,
aufmerksam gemacht. Es handelt sich dabei um Adrevaldi Miracula S. Benedicti
c. 35, MG SS XV 496.
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[201/0219] § 86. Reste der römischen Städteverfassung. gundischen und im fränkischen Gallien. In der westgotischen Inter- pretatio erscheint er als einer der mediocres iudices 18 und gehört er zu den iudices, quibus civitates vel loca commissa sunt 19. Im westgoti- schen und im burgundischen Reiche fungiert er als Richter bei der restitutio in integrum 20. Abgesehen von den Formeln und Urkunden über gesta municipalia wird er in den fränkischen Quellen der mero- wingischen Zeit mehrfach genannt 21. Dagegen lassen die karolin- gischen Quellen eine von den gesta unabhängige Erwähnung des De- fensor civitatis vermissen 22, während die Lex Romana Curiensis den Defensor civitatis ihrer Vorlage durch iudex ersetzt 23. Die Jurisdiktion, die der Defensor civitatis in Gallien hatte, scheint er zunächst behalten zu haben. Auffallend ist aber, daſs die ihm zukommende Gerichtsbarkeit schon nach den Formeln von Angers Namens einer Kirche durch einen Abt oder kirchlichen agens aus- geübt wurde. Fast scheint es, als ob in manchen Städten der Defensor infolge des Einflusses, welchen Bischof und Klerus auf seine Be- stellung ausübten, zum Beamten der Kirche herabgedrückt worden sei, auf welche die gerichtliche Kompetenz des Amtes überging. So- fern das der Fall gewesen sein sollte, fiel sie schlieſslich unter den Rahmen der Immunitätsgerichtsbarkeit und wurde sie in karolingi- scher Zeit wohl regelmäſsig auf die Kompetenz des Centenars und Vi- kars beschränkt. Anderwärts muſs es dem Grafen gelungen sein, den Defensor zu seinem Unterbeamten, etwa zum Vikar oder Centenar. umzuwandeln 24. Jedenfalls ist ein Teil der Funktionen des Defensors auf ihn übergegangen. Die öffentliche Gewalt in Sachen des Markt- wesens fiel dem Grafen zu. Vereinzelt begegnet uns unter Karl dem Kahlen ein iudex fori, ein Richter in Marktstreitigkeiten 25. 18 Interpr. zu Brev. Alar. C. Theod. II 1, 8. 19 Interpr. zu Brev. Alar. C. Theod. III 11, 1: si aliquis de his iudicibus, qui provincias administrant, vel etiam his, quibus civitates vel loca commissa sunt … 20 Lex Rom. Burg. 36. Interpr. zu Brev. Alar. Paulus I 7, 2, wo unter den iudices civitatum, wie die Vergleichung mit Lex Rom. Burg. 36 zeigt, der Defen- sor jedenfalls inbegriffen ist. 21 Greg. Tur. Vitae patrum VI 6. Fortunat X 18. 19. Ep. Desiderii Ca- durc. c. 7. Siehe noch die Stellen bei Waitz, VG II 2, S. 12, Anm. 1, und bei Chénon a. O. S. 525. 22 Benedictus Levita V 387 geht auf Juliani Ep. 69, 7 zurück, scheint aber unter dem defensor den kirchlichen Vogt, den defensor ecclesiae, zu verstehen. 23 Lex Rom. Cur. I 10. 24 Schon Klimrath a. O. I 443 sagt: le défenseur était vraisemblablement assimilé au centenier. 25 Auf ihn hat Sohm, Entstehung des deutschen Städtewesens S. 54, Anm. 75, aufmerksam gemacht. Es handelt sich dabei um Adrevaldi Miracula S. Benedicti c. 35, MG SS XV 496.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/219>, abgerufen am 28.04.2024.