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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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kaum gesagt zu werden, daß ihm aus solchen Studien nicht
Trost zukam, sondern doppelte Trostlosigkeit. Die Philo-
sophie, die er als Retterin gerufen, machte ihn vollends elend.
"Warum leiden wir?" -- sie gab ihm keine Antwort auf
die Frage, sie ließ ihn dies Leiden nur noch schärfer em-
pfinden . . .

Und nicht anders erging es ihm, als er sich zu gleichem
Zweck in gleicher Weise mit der Geschichte beschäftigte. Seit
seiner Knabenzeit bis in die Straßburger Tage hinein war
ihm die französische Revolution als eine Epoche erschienen,
in der sich die bewußte Kraft des Menschengeistes, der sicht-
liche Fortschritt, die planvolle Entwicklung der Menschheit
am Glänzendsten offenbarte. Kein Wunder, daß er sich
jetzt in das Studium der Epoche stürzte, um da Trost und
Halt zu finden. Er fand sie nicht -- im Gegentheil! "Ich
studirte", schreibt er der Braut "die Geschichte der Revo-
lution. Ich fühlte mich wie zernichtet, unter dem gräßlichen
Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschen-
natur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhält-
nissen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem ver-
liehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die
Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein
Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz,
es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich.
Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eck-
stehern der Geschichte mich zu bücken." So zerfloß ihm auch
der letzte Glaube, den er noch gehegt. Nur nebenbei sei
schon hier darauf hingewiesen, daß die gleiche Geschichtsauf-
fassung auch in "Danton's Tod" waltet, daß er sich erst
dann von ihr befreit, nachdem er sie in diesem Drama abge-

G. Büchners Werke. e

kaum geſagt zu werden, daß ihm aus ſolchen Studien nicht
Troſt zukam, ſondern doppelte Troſtloſigkeit. Die Philo-
ſophie, die er als Retterin gerufen, machte ihn vollends elend.
"Warum leiden wir?" — ſie gab ihm keine Antwort auf
die Frage, ſie ließ ihn dies Leiden nur noch ſchärfer em-
pfinden . . .

Und nicht anders erging es ihm, als er ſich zu gleichem
Zweck in gleicher Weiſe mit der Geſchichte beſchäftigte. Seit
ſeiner Knabenzeit bis in die Straßburger Tage hinein war
ihm die franzöſiſche Revolution als eine Epoche erſchienen,
in der ſich die bewußte Kraft des Menſchengeiſtes, der ſicht-
liche Fortſchritt, die planvolle Entwicklung der Menſchheit
am Glänzendſten offenbarte. Kein Wunder, daß er ſich
jetzt in das Studium der Epoche ſtürzte, um da Troſt und
Halt zu finden. Er fand ſie nicht — im Gegentheil! "Ich
ſtudirte", ſchreibt er der Braut "die Geſchichte der Revo-
lution. Ich fühlte mich wie zernichtet, unter dem gräßlichen
Fatalismus der Geſchichte. Ich finde in der Menſchen-
natur eine entſetzliche Gleichheit, in den menſchlichen Verhält-
niſſen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem ver-
liehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die
Größe ein bloßer Zufall, die Herrſchaft des Genies ein
Puppenſpiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Geſetz,
es zu erkennen das Höchſte, es zu beherrſchen unmöglich.
Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eck-
ſtehern der Geſchichte mich zu bücken." So zerfloß ihm auch
der letzte Glaube, den er noch gehegt. Nur nebenbei ſei
ſchon hier darauf hingewieſen, daß die gleiche Geſchichtsauf-
faſſung auch in "Danton's Tod" waltet, daß er ſich erſt
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[LXV/0081] kaum geſagt zu werden, daß ihm aus ſolchen Studien nicht Troſt zukam, ſondern doppelte Troſtloſigkeit. Die Philo- ſophie, die er als Retterin gerufen, machte ihn vollends elend. "Warum leiden wir?" — ſie gab ihm keine Antwort auf die Frage, ſie ließ ihn dies Leiden nur noch ſchärfer em- pfinden . . . Und nicht anders erging es ihm, als er ſich zu gleichem Zweck in gleicher Weiſe mit der Geſchichte beſchäftigte. Seit ſeiner Knabenzeit bis in die Straßburger Tage hinein war ihm die franzöſiſche Revolution als eine Epoche erſchienen, in der ſich die bewußte Kraft des Menſchengeiſtes, der ſicht- liche Fortſchritt, die planvolle Entwicklung der Menſchheit am Glänzendſten offenbarte. Kein Wunder, daß er ſich jetzt in das Studium der Epoche ſtürzte, um da Troſt und Halt zu finden. Er fand ſie nicht — im Gegentheil! "Ich ſtudirte", ſchreibt er der Braut "die Geſchichte der Revo- lution. Ich fühlte mich wie zernichtet, unter dem gräßlichen Fatalismus der Geſchichte. Ich finde in der Menſchen- natur eine entſetzliche Gleichheit, in den menſchlichen Verhält- niſſen eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem ver- liehen. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrſchaft des Genies ein Puppenſpiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Geſetz, es zu erkennen das Höchſte, es zu beherrſchen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eck- ſtehern der Geſchichte mich zu bücken." So zerfloß ihm auch der letzte Glaube, den er noch gehegt. Nur nebenbei ſei ſchon hier darauf hingewieſen, daß die gleiche Geſchichtsauf- faſſung auch in "Danton's Tod" waltet, daß er ſich erſt dann von ihr befreit, nachdem er ſie in dieſem Drama abge- G. Büchners Werke. e

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/81>, abgerufen am 30.04.2024.