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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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freiheit des Willens, über die Berechtigung des Hasses u. s. w.
sagt -- sind werthvoller als der Kern: mit dummen Jungen
wolle er nicht verkehren. Das war nicht blos ungereimt und
hochmüthig, sondern auch ungerecht; dieselben Menschen schienen
ihm ja einige Zeit darauf seines rückhaltlosen Vertrauens
werth, und wenn er sie damals mied, so geschah es nicht
"um sich Langeweile zu sparen", sondern weil er in seiner
tiefen Verstimmung jene Duldsamkeit, jenes Interesse an
Anderer Eigenart verloren hatte, ohne welche ein intimer
Verkehr nicht möglich ist. Viel richtiger schreibt er an seine
Braut: "Meine Freunde verlassen mich, wir schreien uns
einander wie Taube in die Ohren!" Sein Trübsinn hatte
die Brücke zwischen ihm und seinen gleichalterigen Mitstre-
benden zerrissen, sein Trübsinn hatte ihn einsam gemacht und
nun ward ihm diese Vereinsamung ein neuer Quell des
Trübsinns! Das Alltagswort, daß ein Unglück selten allein
komme, spricht eben nicht zufällige Erfahrungen aus, sondern
eine tiefe, psychologische Wahrheit ...

Vielleicht wäre schon das bisherige Leidensregister ge-
nügend, Büchner's innere Wandlung zu rechtfertigen -- es
ist aber leider noch nicht vollständig. Der Jüngling war
in jenen düsteren Wintertagen auch körperlich krank, er litt
an heftigem Fieber und fast unerträglichem Kopfschmerz.
Welcher Causalnexus zwischen diesem körperlichen und dem
seelischen Leiden bestand, ob ihn jene peinlichen Verhältnisse
nur deßhalb so tief herabstimmten, weil er nervenkrank war,
ob er im Gegentheil erkrankte, weil seine Nerven diesen
widrigen Eindrücken nicht Stand zu halten vermochten, muß
freilich unaufgeklärt bleiben. Doch wird man jedenfalls
diese Krankheit berücksichtigen müssen, wenn man seine Klage

freiheit des Willens, über die Berechtigung des Haſſes u. ſ. w.
ſagt — ſind werthvoller als der Kern: mit dummen Jungen
wolle er nicht verkehren. Das war nicht blos ungereimt und
hochmüthig, ſondern auch ungerecht; dieſelben Menſchen ſchienen
ihm ja einige Zeit darauf ſeines rückhaltloſen Vertrauens
werth, und wenn er ſie damals mied, ſo geſchah es nicht
"um ſich Langeweile zu ſparen", ſondern weil er in ſeiner
tiefen Verſtimmung jene Duldſamkeit, jenes Intereſſe an
Anderer Eigenart verloren hatte, ohne welche ein intimer
Verkehr nicht möglich iſt. Viel richtiger ſchreibt er an ſeine
Braut: "Meine Freunde verlaſſen mich, wir ſchreien uns
einander wie Taube in die Ohren!" Sein Trübſinn hatte
die Brücke zwiſchen ihm und ſeinen gleichalterigen Mitſtre-
benden zerriſſen, ſein Trübſinn hatte ihn einſam gemacht und
nun ward ihm dieſe Vereinſamung ein neuer Quell des
Trübſinns! Das Alltagswort, daß ein Unglück ſelten allein
komme, ſpricht eben nicht zufällige Erfahrungen aus, ſondern
eine tiefe, pſychologiſche Wahrheit ...

Vielleicht wäre ſchon das bisherige Leidensregiſter ge-
nügend, Büchner's innere Wandlung zu rechtfertigen — es
iſt aber leider noch nicht vollſtändig. Der Jüngling war
in jenen düſteren Wintertagen auch körperlich krank, er litt
an heftigem Fieber und faſt unerträglichem Kopfſchmerz.
Welcher Cauſalnexus zwiſchen dieſem körperlichen und dem
ſeeliſchen Leiden beſtand, ob ihn jene peinlichen Verhältniſſe
nur deßhalb ſo tief herabſtimmten, weil er nervenkrank war,
ob er im Gegentheil erkrankte, weil ſeine Nerven dieſen
widrigen Eindrücken nicht Stand zu halten vermochten, muß
freilich unaufgeklärt bleiben. Doch wird man jedenfalls
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[LXX/0086] freiheit des Willens, über die Berechtigung des Haſſes u. ſ. w. ſagt — ſind werthvoller als der Kern: mit dummen Jungen wolle er nicht verkehren. Das war nicht blos ungereimt und hochmüthig, ſondern auch ungerecht; dieſelben Menſchen ſchienen ihm ja einige Zeit darauf ſeines rückhaltloſen Vertrauens werth, und wenn er ſie damals mied, ſo geſchah es nicht "um ſich Langeweile zu ſparen", ſondern weil er in ſeiner tiefen Verſtimmung jene Duldſamkeit, jenes Intereſſe an Anderer Eigenart verloren hatte, ohne welche ein intimer Verkehr nicht möglich iſt. Viel richtiger ſchreibt er an ſeine Braut: "Meine Freunde verlaſſen mich, wir ſchreien uns einander wie Taube in die Ohren!" Sein Trübſinn hatte die Brücke zwiſchen ihm und ſeinen gleichalterigen Mitſtre- benden zerriſſen, ſein Trübſinn hatte ihn einſam gemacht und nun ward ihm dieſe Vereinſamung ein neuer Quell des Trübſinns! Das Alltagswort, daß ein Unglück ſelten allein komme, ſpricht eben nicht zufällige Erfahrungen aus, ſondern eine tiefe, pſychologiſche Wahrheit ... Vielleicht wäre ſchon das bisherige Leidensregiſter ge- nügend, Büchner's innere Wandlung zu rechtfertigen — es iſt aber leider noch nicht vollſtändig. Der Jüngling war in jenen düſteren Wintertagen auch körperlich krank, er litt an heftigem Fieber und faſt unerträglichem Kopfſchmerz. Welcher Cauſalnexus zwiſchen dieſem körperlichen und dem ſeeliſchen Leiden beſtand, ob ihn jene peinlichen Verhältniſſe nur deßhalb ſo tief herabſtimmten, weil er nervenkrank war, ob er im Gegentheil erkrankte, weil ſeine Nerven dieſen widrigen Eindrücken nicht Stand zu halten vermochten, muß freilich unaufgeklärt bleiben. Doch wird man jedenfalls dieſe Krankheit berückſichtigen müſſen, wenn man ſeine Klage

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/86>, abgerufen am 30.04.2024.