Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

auf ihre Berechtigung prüft: "Meine geistigen Kräfte sind
gänzlich zerrüttet. Arbeiten ist mir unmöglich, ein dumpfes
Brüten hat sich meiner bemeistert, in dem mir kaum ein
Gedanke noch hell ist. Alles verzehrt sich in mir selbst ..."
So an die Braut. Den Eltern aber offenbart er noch
einen anderen Grund seiner Betrübniß, mit dessen Erwäh-
nung wir endlich dies traurige Register schließen können:
"In Gießen war ich ... in tiefe Schwermuth verfallen;
ich schämte mich ein Knecht mit Knechten zu sein, einem
vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden Staats-
diener-Aristokratismus zu Gefallen".

Schon hierdurch sind wir gezwungen, die damaligen
politischen Verhältnisse Süddeutschlands und speziell des
hessischen Landes näher in's Auge zu fassen. Diese Noth-
wendigkeit ergibt sich jedoch auch noch aus wichtigeren Gründen:
in demselben verhängnißvollen Winter von 1833 auf 34
sehen wir Georg Büchner plötzlich activ als Verschwörer, als
Geheimbündler in jene politischen Wirren eingreifen. So
muß uns die folgende historische Uebersicht nicht blos als
Vorgeschichte seines Wirkens gelten, sondern auch darüber
Aufschluß geben, was Büchner bewogen, seiner in Straßburg
gehegten Ueberzeugung von der Nutzlosigkeit solcher Stre-
bungen in Gießen plötzlich in That und Wort untreu zu
werden.

Kaum vier Jahrzehnte trennen uns von dem Tage des
Frankfurter Attentats und der Arministischen Bewegung, der
"Gesellschaft der Menschenrechte" und der süddeutschen Ge-
heimbündelei, und schon vermögen wir Söhne einer rasch-
lebigen Zeit kaum noch die Brücke des Verständnisses zu
jener Epoche zu schlagen. Ein seltsames, rührendes Drängen

auf ihre Berechtigung prüft: "Meine geiſtigen Kräfte ſind
gänzlich zerrüttet. Arbeiten iſt mir unmöglich, ein dumpfes
Brüten hat ſich meiner bemeiſtert, in dem mir kaum ein
Gedanke noch hell iſt. Alles verzehrt ſich in mir ſelbſt ..."
So an die Braut. Den Eltern aber offenbart er noch
einen anderen Grund ſeiner Betrübniß, mit deſſen Erwäh-
nung wir endlich dies traurige Regiſter ſchließen können:
"In Gießen war ich ... in tiefe Schwermuth verfallen;
ich ſchämte mich ein Knecht mit Knechten zu ſein, einem
vermoderten Fürſtengeſchlecht und einem kriechenden Staats-
diener-Ariſtokratismus zu Gefallen".

Schon hierdurch ſind wir gezwungen, die damaligen
politiſchen Verhältniſſe Süddeutſchlands und ſpeziell des
heſſiſchen Landes näher in's Auge zu faſſen. Dieſe Noth-
wendigkeit ergibt ſich jedoch auch noch aus wichtigeren Gründen:
in demſelben verhängnißvollen Winter von 1833 auf 34
ſehen wir Georg Büchner plötzlich activ als Verſchwörer, als
Geheimbündler in jene politiſchen Wirren eingreifen. So
muß uns die folgende hiſtoriſche Ueberſicht nicht blos als
Vorgeſchichte ſeines Wirkens gelten, ſondern auch darüber
Aufſchluß geben, was Büchner bewogen, ſeiner in Straßburg
gehegten Ueberzeugung von der Nutzloſigkeit ſolcher Stre-
bungen in Gießen plötzlich in That und Wort untreu zu
werden.

Kaum vier Jahrzehnte trennen uns von dem Tage des
Frankfurter Attentats und der Arminiſtiſchen Bewegung, der
"Geſellſchaft der Menſchenrechte" und der ſüddeutſchen Ge-
heimbündelei, und ſchon vermögen wir Söhne einer raſch-
lebigen Zeit kaum noch die Brücke des Verſtändniſſes zu
jener Epoche zu ſchlagen. Ein ſeltſames, rührendes Drängen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0087" n="LXXI"/>
auf ihre Berechtigung prüft: "Meine gei&#x017F;tigen Kräfte &#x017F;ind<lb/>
gänzlich zerrüttet. Arbeiten i&#x017F;t mir unmöglich, ein dumpfes<lb/>
Brüten hat &#x017F;ich meiner bemei&#x017F;tert, in dem mir kaum ein<lb/>
Gedanke noch hell i&#x017F;t. Alles verzehrt &#x017F;ich in mir &#x017F;elb&#x017F;t ..."<lb/>
So an die Braut. Den Eltern aber offenbart er noch<lb/>
einen anderen Grund &#x017F;einer Betrübniß, mit de&#x017F;&#x017F;en Erwäh-<lb/>
nung wir endlich dies traurige Regi&#x017F;ter &#x017F;chließen können:<lb/>
"In Gießen war ich ... in tiefe Schwermuth verfallen;<lb/>
ich &#x017F;chämte mich ein Knecht mit Knechten zu &#x017F;ein, einem<lb/>
vermoderten Für&#x017F;tenge&#x017F;chlecht und einem kriechenden Staats-<lb/>
diener-Ari&#x017F;tokratismus zu Gefallen".</p><lb/>
        <p>Schon hierdurch &#x017F;ind wir gezwungen, die damaligen<lb/>
politi&#x017F;chen Verhältni&#x017F;&#x017F;e Süddeut&#x017F;chlands und &#x017F;peziell des<lb/>
he&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Landes näher in's Auge zu fa&#x017F;&#x017F;en. Die&#x017F;e Noth-<lb/>
wendigkeit ergibt &#x017F;ich jedoch auch noch aus wichtigeren Gründen:<lb/>
in dem&#x017F;elben verhängnißvollen Winter von 1833 auf 34<lb/>
&#x017F;ehen wir Georg Büchner plötzlich activ als Ver&#x017F;chwörer, als<lb/>
Geheimbündler in jene politi&#x017F;chen Wirren eingreifen. So<lb/>
muß uns die folgende hi&#x017F;tori&#x017F;che Ueber&#x017F;icht nicht blos als<lb/>
Vorge&#x017F;chichte &#x017F;eines Wirkens gelten, &#x017F;ondern auch darüber<lb/>
Auf&#x017F;chluß geben, was Büchner bewogen, &#x017F;einer in Straßburg<lb/>
gehegten Ueberzeugung von der Nutzlo&#x017F;igkeit &#x017F;olcher Stre-<lb/>
bungen in Gießen plötzlich in That und Wort untreu zu<lb/>
werden.</p><lb/>
        <p>Kaum vier Jahrzehnte trennen uns von dem Tage des<lb/>
Frankfurter Attentats und der Armini&#x017F;ti&#x017F;chen Bewegung, der<lb/>
"Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft der Men&#x017F;chenrechte" und der &#x017F;üddeut&#x017F;chen Ge-<lb/>
heimbündelei, und &#x017F;chon vermögen wir Söhne einer ra&#x017F;ch-<lb/>
lebigen Zeit kaum noch die Brücke des Ver&#x017F;tändni&#x017F;&#x017F;es zu<lb/>
jener Epoche zu &#x017F;chlagen. Ein &#x017F;elt&#x017F;ames, rührendes Drängen<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[LXXI/0087] auf ihre Berechtigung prüft: "Meine geiſtigen Kräfte ſind gänzlich zerrüttet. Arbeiten iſt mir unmöglich, ein dumpfes Brüten hat ſich meiner bemeiſtert, in dem mir kaum ein Gedanke noch hell iſt. Alles verzehrt ſich in mir ſelbſt ..." So an die Braut. Den Eltern aber offenbart er noch einen anderen Grund ſeiner Betrübniß, mit deſſen Erwäh- nung wir endlich dies traurige Regiſter ſchließen können: "In Gießen war ich ... in tiefe Schwermuth verfallen; ich ſchämte mich ein Knecht mit Knechten zu ſein, einem vermoderten Fürſtengeſchlecht und einem kriechenden Staats- diener-Ariſtokratismus zu Gefallen". Schon hierdurch ſind wir gezwungen, die damaligen politiſchen Verhältniſſe Süddeutſchlands und ſpeziell des heſſiſchen Landes näher in's Auge zu faſſen. Dieſe Noth- wendigkeit ergibt ſich jedoch auch noch aus wichtigeren Gründen: in demſelben verhängnißvollen Winter von 1833 auf 34 ſehen wir Georg Büchner plötzlich activ als Verſchwörer, als Geheimbündler in jene politiſchen Wirren eingreifen. So muß uns die folgende hiſtoriſche Ueberſicht nicht blos als Vorgeſchichte ſeines Wirkens gelten, ſondern auch darüber Aufſchluß geben, was Büchner bewogen, ſeiner in Straßburg gehegten Ueberzeugung von der Nutzloſigkeit ſolcher Stre- bungen in Gießen plötzlich in That und Wort untreu zu werden. Kaum vier Jahrzehnte trennen uns von dem Tage des Frankfurter Attentats und der Arminiſtiſchen Bewegung, der "Geſellſchaft der Menſchenrechte" und der ſüddeutſchen Ge- heimbündelei, und ſchon vermögen wir Söhne einer raſch- lebigen Zeit kaum noch die Brücke des Verſtändniſſes zu jener Epoche zu ſchlagen. Ein ſeltſames, rührendes Drängen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/87
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. LXXI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/87>, abgerufen am 30.04.2024.