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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
über denjenigen, welche das Recht befolgen, die Frage seiner
Verbindlichkeit ja praktisch nicht stellt; die Verbindlichkeit würde
auch umgekehrt gerade dann versagen, wo man sie brauchte,
nämlich gegenüber den Übertretern des Gesetzes.



Daß man stets wieder die Erklärung der Geltung des Rechts
in zeitlich vorausgehenden Tatsachen sucht, wie Vertragsschluß,
gewohnheitsmäßiges Verhalten, tatsächliches Befolgen, erklärt
sich selbst, wie mir scheint, daraus, daß man die zu beantwortende
Frage nicht klar faßt. Was zur Frage steht, ist: wie es zu er-
klären sei, daß eine Rechtsordnung, die gilt, Geltung, d. h.
Verbindlichkeit habe, unter Ausschluß aller (möglichen) Rechts-
ordnungen (oder: daß eine Rechtsordnung, die einmal gegolten
hat, damals gelten konnte), und nicht: wie diese oder irgend
eine geltende Rechtsordnung entstanden, wie sie erzeugt
worden sei. Wenn man diese letztere Frage stellt, wie das Recht,
das einmal Geltung erlangt hat, aus dem früheren Zustand, in
dem es noch nicht galt, hervorgegangen sei, so kann die Ant-
wort nicht anders lauten als: es ist aus etwas anderem als (gelten-
dem) Recht entstanden; sonst würde der Anfang des Rechts
nicht erklärt, sowenig wie man die Entstehung des Menschen
aus einer menschlichen Urrasse erklären kann. Allein diese
Frage ist falsch gestellt. Wenn man erklären will, weshalb etwas
als Recht gelte, so kann die Erklärung nur eine rationelle sein,
nicht eine historische (vgl. oben S. 145); denn die Frage geht
doch darauf, wie es einzusehen sei, daß gewisse Normen ver-
bindlich
sind, befolgt werden sollen; und das kann nur aus
(zeitlosen) Gründen, nicht aus geschichtlichen Ereignissen be-
griffen werden. Das Frühere kann nur die kausale Erklärung
des Späteren sein; wenn man, wie hier, eine rationelle Erklärung
sucht, d. h. den Grund einer Forderung und nicht die Ursache
eines Vorganges, so kann man sie nicht im zeitlichen, sondern nur
im logischen Regreß finden. Als Recht erklärt sich eine Vor-
schrift nie dadurch, daß vorher etwas war oder geschah, sondern
nur dadurch, daß diese Vorschrift auf zeitlose Gründe zurück-
geführt, oder allgemeiner: in widerspruchsloser Einheit mit den

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
über denjenigen, welche das Recht befolgen, die Frage seiner
Verbindlichkeit ja praktisch nicht stellt; die Verbindlichkeit würde
auch umgekehrt gerade dann versagen, wo man sie brauchte,
nämlich gegenüber den Übertretern des Gesetzes.



Daß man stets wieder die Erklärung der Geltung des Rechts
in zeitlich vorausgehenden Tatsachen sucht, wie Vertragsschluß,
gewohnheitsmäßiges Verhalten, tatsächliches Befolgen, erklärt
sich selbst, wie mir scheint, daraus, daß man die zu beantwortende
Frage nicht klar faßt. Was zur Frage steht, ist: wie es zu er-
klären sei, daß eine Rechtsordnung, die gilt, Geltung, d. h.
Verbindlichkeit habe, unter Ausschluß aller (möglichen) Rechts-
ordnungen (oder: daß eine Rechtsordnung, die einmal gegolten
hat, damals gelten konnte), und nicht: wie diese oder irgend
eine geltende Rechtsordnung entstanden, wie sie erzeugt
worden sei. Wenn man diese letztere Frage stellt, wie das Recht,
das einmal Geltung erlangt hat, aus dem früheren Zustand, in
dem es noch nicht galt, hervorgegangen sei, so kann die Ant-
wort nicht anders lauten als: es ist aus etwas anderem als (gelten-
dem) Recht entstanden; sonst würde der Anfang des Rechts
nicht erklärt, sowenig wie man die Entstehung des Menschen
aus einer menschlichen Urrasse erklären kann. Allein diese
Frage ist falsch gestellt. Wenn man erklären will, weshalb etwas
als Recht gelte, so kann die Erklärung nur eine rationelle sein,
nicht eine historische (vgl. oben S. 145); denn die Frage geht
doch darauf, wie es einzusehen sei, daß gewisse Normen ver-
bindlich
sind, befolgt werden sollen; und das kann nur aus
(zeitlosen) Gründen, nicht aus geschichtlichen Ereignissen be-
griffen werden. Das Frühere kann nur die kausale Erklärung
des Späteren sein; wenn man, wie hier, eine rationelle Erklärung
sucht, d. h. den Grund einer Forderung und nicht die Ursache
eines Vorganges, so kann man sie nicht im zeitlichen, sondern nur
im logischen Regreß finden. Als Recht erklärt sich eine Vor-
schrift nie dadurch, daß vorher etwas war oder geschah, sondern
nur dadurch, daß diese Vorschrift auf zeitlose Gründe zurück-
geführt, oder allgemeiner: in widerspruchsloser Einheit mit den

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[202/0217] II. Teil. Die staatliche Verfassung. über denjenigen, welche das Recht befolgen, die Frage seiner Verbindlichkeit ja praktisch nicht stellt; die Verbindlichkeit würde auch umgekehrt gerade dann versagen, wo man sie brauchte, nämlich gegenüber den Übertretern des Gesetzes. Daß man stets wieder die Erklärung der Geltung des Rechts in zeitlich vorausgehenden Tatsachen sucht, wie Vertragsschluß, gewohnheitsmäßiges Verhalten, tatsächliches Befolgen, erklärt sich selbst, wie mir scheint, daraus, daß man die zu beantwortende Frage nicht klar faßt. Was zur Frage steht, ist: wie es zu er- klären sei, daß eine Rechtsordnung, die gilt, Geltung, d. h. Verbindlichkeit habe, unter Ausschluß aller (möglichen) Rechts- ordnungen (oder: daß eine Rechtsordnung, die einmal gegolten hat, damals gelten konnte), und nicht: wie diese oder irgend eine geltende Rechtsordnung entstanden, wie sie erzeugt worden sei. Wenn man diese letztere Frage stellt, wie das Recht, das einmal Geltung erlangt hat, aus dem früheren Zustand, in dem es noch nicht galt, hervorgegangen sei, so kann die Ant- wort nicht anders lauten als: es ist aus etwas anderem als (gelten- dem) Recht entstanden; sonst würde der Anfang des Rechts nicht erklärt, sowenig wie man die Entstehung des Menschen aus einer menschlichen Urrasse erklären kann. Allein diese Frage ist falsch gestellt. Wenn man erklären will, weshalb etwas als Recht gelte, so kann die Erklärung nur eine rationelle sein, nicht eine historische (vgl. oben S. 145); denn die Frage geht doch darauf, wie es einzusehen sei, daß gewisse Normen ver- bindlich sind, befolgt werden sollen; und das kann nur aus (zeitlosen) Gründen, nicht aus geschichtlichen Ereignissen be- griffen werden. Das Frühere kann nur die kausale Erklärung des Späteren sein; wenn man, wie hier, eine rationelle Erklärung sucht, d. h. den Grund einer Forderung und nicht die Ursache eines Vorganges, so kann man sie nicht im zeitlichen, sondern nur im logischen Regreß finden. Als Recht erklärt sich eine Vor- schrift nie dadurch, daß vorher etwas war oder geschah, sondern nur dadurch, daß diese Vorschrift auf zeitlose Gründe zurück- geführt, oder allgemeiner: in widerspruchsloser Einheit mit den

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/217>, abgerufen am 29.04.2024.