Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geltung des Rechts.
anderen Forderungen der Vernunft gedacht werden kann1. Was
mit dem Anspruch auf Vernunftnotwendigkeit auftritt, kann
sich auch nur aus der Vernunft rechtfertigen. Das gilt sowohl für
die Forderung eines Rechtes überhaupt wie für die Forderung
eines bestimmten, ausgestalteten Rechtes; für die Forderung, daß
Recht überhaupt als Regel menschlichen Zusammenlebens be-
stehen müsse, wie auch für die Forderung, daß gerade ein bestimm-
tes Recht hier und jetzt gelten soll; beides kann nur aus Vernunfts-
gründen abgeleitet werden, nicht aus Tatsachen. Wo tatsächliche
Vorgänge für die Entstehung von Rechtsnormen oder Rechtsver-
hältnissen entscheidend sind, wie die Willensäußerung des Par-
lamentes für die Verbindlichkeit des Gesetzes oder die über-
einstimmende Willenserklärung der Parteien für den Vertrag, so
ist es stets kraft einer schon bestehenden Norm, also sekundär.
Die primäre "Entstehung" des Rechts, d. h. die Verbindlichkeit
der Normen, von denen die anderen ihre Verbindlichkeit haben
(der Verfassung), kann nicht selbst aus Tatsachen abgeleitet, d. h.
eingesehen werden.

Nun ist allerdings, wie oben ausgeführt, die Geltung des
Rechtes auch eine Tatsache; daß gerade die geltende Verfassung
Geltung erlangt hat, und nicht eine andere, beruht auf der Tat-
sache, daß ihr und keiner anderen die Unterstützung der phy-
sischen Macht zuteil geworden ist; das ist eine Tatsache, ein Vor-
gang, der in der Tat historisch, durch Ableitung aus früheren
Tatsachen und Vorgängen (psychologisch) erklärt werden muß.
Aber insoweit als darin die Erklärung liegt, ist die Geltung,
die Verbindlichkeit des "historischen" Rechts auch nicht rationell
erklärt; daß dieses Recht gerade gelten soll, ist damit nicht er-
klärt. Gerade diese Unmöglichkeit macht die Irrationalität des
historischen, alles historischen Rechtes aus. Was historisch er-
klärt werden muß, ist irrational; was rational ist, bedarf der
historischen Erklärung nicht. Das gegebene Recht ist als Recht
soweit zu begreifen, als seine Vernunftmäßigkeit eingesehen werden
kann, und das ist ganz unabhängig von früheren Vorgängen,
auch von den Vorgängen, die ihm Geltung verschaffen sollen
und es in Geltung erhalten. Ein Rechtssatz kann gelten und doch
inhaltlich unbegründet sein.

1 Stammler, Rechtsphilosophie §§ 79, 81, 82.

Die Geltung des Rechts.
anderen Forderungen der Vernunft gedacht werden kann1. Was
mit dem Anspruch auf Vernunftnotwendigkeit auftritt, kann
sich auch nur aus der Vernunft rechtfertigen. Das gilt sowohl für
die Forderung eines Rechtes überhaupt wie für die Forderung
eines bestimmten, ausgestalteten Rechtes; für die Forderung, daß
Recht überhaupt als Regel menschlichen Zusammenlebens be-
stehen müsse, wie auch für die Forderung, daß gerade ein bestimm-
tes Recht hier und jetzt gelten soll; beides kann nur aus Vernunfts-
gründen abgeleitet werden, nicht aus Tatsachen. Wo tatsächliche
Vorgänge für die Entstehung von Rechtsnormen oder Rechtsver-
hältnissen entscheidend sind, wie die Willensäußerung des Par-
lamentes für die Verbindlichkeit des Gesetzes oder die über-
einstimmende Willenserklärung der Parteien für den Vertrag, so
ist es stets kraft einer schon bestehenden Norm, also sekundär.
Die primäre „Entstehung“ des Rechts, d. h. die Verbindlichkeit
der Normen, von denen die anderen ihre Verbindlichkeit haben
(der Verfassung), kann nicht selbst aus Tatsachen abgeleitet, d. h.
eingesehen werden.

Nun ist allerdings, wie oben ausgeführt, die Geltung des
Rechtes auch eine Tatsache; daß gerade die geltende Verfassung
Geltung erlangt hat, und nicht eine andere, beruht auf der Tat-
sache, daß ihr und keiner anderen die Unterstützung der phy-
sischen Macht zuteil geworden ist; das ist eine Tatsache, ein Vor-
gang, der in der Tat historisch, durch Ableitung aus früheren
Tatsachen und Vorgängen (psychologisch) erklärt werden muß.
Aber insoweit als darin die Erklärung liegt, ist die Geltung,
die Verbindlichkeit des „historischen“ Rechts auch nicht rationell
erklärt; daß dieses Recht gerade gelten soll, ist damit nicht er-
klärt. Gerade diese Unmöglichkeit macht die Irrationalität des
historischen, alles historischen Rechtes aus. Was historisch er-
klärt werden muß, ist irrational; was rational ist, bedarf der
historischen Erklärung nicht. Das gegebene Recht ist als Recht
soweit zu begreifen, als seine Vernunftmäßigkeit eingesehen werden
kann, und das ist ganz unabhängig von früheren Vorgängen,
auch von den Vorgängen, die ihm Geltung verschaffen sollen
und es in Geltung erhalten. Ein Rechtssatz kann gelten und doch
inhaltlich unbegründet sein.

1 Stammler, Rechtsphilosophie §§ 79, 81, 82.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0218" n="203"/><fw place="top" type="header">Die Geltung des Rechts.</fw><lb/>
anderen Forderungen der Vernunft gedacht werden kann<note place="foot" n="1"><hi rendition="#g">Stammler,</hi> Rechtsphilosophie §§ 79, 81, 82.</note>. Was<lb/>
mit dem Anspruch auf <hi rendition="#g">Vernunft</hi>notwendigkeit auftritt, kann<lb/>
sich auch nur aus der Vernunft rechtfertigen. Das gilt sowohl für<lb/>
die Forderung eines Rechtes überhaupt wie für die Forderung<lb/>
eines bestimmten, ausgestalteten Rechtes; für die Forderung, daß<lb/>
Recht überhaupt als Regel menschlichen Zusammenlebens be-<lb/>
stehen müsse, wie auch für die Forderung, daß gerade ein bestimm-<lb/>
tes Recht hier und jetzt gelten soll; beides kann nur aus Vernunfts-<lb/>
gründen abgeleitet werden, nicht aus Tatsachen. Wo tatsächliche<lb/>
Vorgänge für die Entstehung von Rechtsnormen oder Rechtsver-<lb/>
hältnissen entscheidend sind, wie die Willensäußerung des Par-<lb/>
lamentes für die Verbindlichkeit des Gesetzes oder die über-<lb/>
einstimmende Willenserklärung der Parteien für den Vertrag, so<lb/>
ist es stets kraft einer schon bestehenden Norm, also sekundär.<lb/>
Die primäre &#x201E;Entstehung&#x201C; des Rechts, d. h. die Verbindlichkeit<lb/><hi rendition="#g">der</hi> Normen, von denen die anderen ihre Verbindlichkeit haben<lb/>
(der Verfassung), kann nicht selbst aus Tatsachen abgeleitet, d. h.<lb/>
eingesehen werden.</p><lb/>
            <p>Nun ist allerdings, wie oben ausgeführt, die Geltung des<lb/>
Rechtes auch eine Tatsache; daß gerade die geltende Verfassung<lb/>
Geltung erlangt <hi rendition="#g">hat,</hi> und nicht eine andere, beruht auf der Tat-<lb/>
sache, daß ihr und keiner anderen die Unterstützung der phy-<lb/>
sischen Macht zuteil geworden ist; das ist eine Tatsache, ein Vor-<lb/>
gang, der in der Tat historisch, durch Ableitung aus früheren<lb/>
Tatsachen und Vorgängen (psychologisch) erklärt werden muß.<lb/>
Aber insoweit als <hi rendition="#g">darin</hi> die Erklärung liegt, <hi rendition="#g">ist</hi> die Geltung,<lb/>
die Verbindlichkeit des &#x201E;historischen&#x201C; Rechts auch nicht rationell<lb/>
erklärt; daß dieses <hi rendition="#g">Recht</hi> gerade gelten soll, ist damit nicht er-<lb/>
klärt. Gerade diese Unmöglichkeit macht die Irrationalität des<lb/>
historischen, alles historischen Rechtes aus. Was historisch er-<lb/>
klärt werden muß, ist irrational; was rational ist, bedarf der<lb/>
historischen Erklärung nicht. Das gegebene Recht ist <hi rendition="#g">als Recht</hi><lb/>
soweit zu begreifen, als seine Vernunftmäßigkeit eingesehen werden<lb/>
kann, und das ist ganz unabhängig von früheren Vorgängen,<lb/>
auch von den Vorgängen, die ihm Geltung verschaffen sollen<lb/>
und es in Geltung erhalten. Ein Rechtssatz kann gelten und doch<lb/>
inhaltlich unbegründet sein.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[203/0218] Die Geltung des Rechts. anderen Forderungen der Vernunft gedacht werden kann 1. Was mit dem Anspruch auf Vernunftnotwendigkeit auftritt, kann sich auch nur aus der Vernunft rechtfertigen. Das gilt sowohl für die Forderung eines Rechtes überhaupt wie für die Forderung eines bestimmten, ausgestalteten Rechtes; für die Forderung, daß Recht überhaupt als Regel menschlichen Zusammenlebens be- stehen müsse, wie auch für die Forderung, daß gerade ein bestimm- tes Recht hier und jetzt gelten soll; beides kann nur aus Vernunfts- gründen abgeleitet werden, nicht aus Tatsachen. Wo tatsächliche Vorgänge für die Entstehung von Rechtsnormen oder Rechtsver- hältnissen entscheidend sind, wie die Willensäußerung des Par- lamentes für die Verbindlichkeit des Gesetzes oder die über- einstimmende Willenserklärung der Parteien für den Vertrag, so ist es stets kraft einer schon bestehenden Norm, also sekundär. Die primäre „Entstehung“ des Rechts, d. h. die Verbindlichkeit der Normen, von denen die anderen ihre Verbindlichkeit haben (der Verfassung), kann nicht selbst aus Tatsachen abgeleitet, d. h. eingesehen werden. Nun ist allerdings, wie oben ausgeführt, die Geltung des Rechtes auch eine Tatsache; daß gerade die geltende Verfassung Geltung erlangt hat, und nicht eine andere, beruht auf der Tat- sache, daß ihr und keiner anderen die Unterstützung der phy- sischen Macht zuteil geworden ist; das ist eine Tatsache, ein Vor- gang, der in der Tat historisch, durch Ableitung aus früheren Tatsachen und Vorgängen (psychologisch) erklärt werden muß. Aber insoweit als darin die Erklärung liegt, ist die Geltung, die Verbindlichkeit des „historischen“ Rechts auch nicht rationell erklärt; daß dieses Recht gerade gelten soll, ist damit nicht er- klärt. Gerade diese Unmöglichkeit macht die Irrationalität des historischen, alles historischen Rechtes aus. Was historisch er- klärt werden muß, ist irrational; was rational ist, bedarf der historischen Erklärung nicht. Das gegebene Recht ist als Recht soweit zu begreifen, als seine Vernunftmäßigkeit eingesehen werden kann, und das ist ganz unabhängig von früheren Vorgängen, auch von den Vorgängen, die ihm Geltung verschaffen sollen und es in Geltung erhalten. Ein Rechtssatz kann gelten und doch inhaltlich unbegründet sein. 1 Stammler, Rechtsphilosophie §§ 79, 81, 82.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/218
Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/218>, abgerufen am 29.04.2024.